Reportagen 1+2. Niklaus Meienberg

Reportagen 1+2 - Niklaus Meienberg


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Variante hat nicht im gleichen Ausmass zur Mythenzerstörung beigetragen wie die Murersche, erstens, weil sie ein bisschen hölzern wirkt, und zweitens, weil das Kino auch in der Schweiz mehr Zuschauer erfasst als das Theater.

      Und nun endlich: ein Spaziergang. Mit dem Fotografen Roland Gretler, der aber nicht mit dem Heinrich Gretler, jenem Alpöhi-Darsteller aus dem schweizerischen Heidi-Film, verwandt ist. Die Gegend von Maienfeld, in der Frau Spyri, geb. Heusser, ihr Personal angesiedelt hat, ist von einer südlich anmutenden Grosszügigkeit. Oder Weitschweifigkeit? Man wähnt sich im Veltlin, es wächst auch ein entsprechender Wein, der sogenannte Herrschäftler (Maienfelder, Jeninser, Malanser), und die Berge erheben sich hier nicht wie Bretter vor dem Kopf, stehen als weit weg gerückte, entrückte Kulisse am Horizont. Man hat Platz, die Gedanken können schweifen, die Herbstluft liegt dünstig über der Talsohle, die Trauben reifen prächtigstens. Uralte Steinmauern fassen die Wiesen ein, Mostbirnen liegen zerplatzt auf einer Naturstrasse, Wespen summen, eine alte Römerstrasse führt nach Chur (Curia Rhaetorum, so hat die Stadt doch wohl geheissen?), und natürlich wird die Ruhe wieder von einem dieser kostbaren schweizerischen Düsenflugzeuge zerspellt. Maienfeld gegenüber in der Höhe liegt das ehemalige Benediktinerkloster Pfäfers, heute Irrenanstalt, die Internierten danken für den Militärdonner, weiter hinten die Taminaschlucht. Manchmal stürzt eines von den jaulenden Flugzeugen ab, aber nie so viele, dass die Ruhe garantiert wäre. Die Starfighter-Verlustquote wurde noch nicht erreicht. Die Gegend hier war aber schon immer militärisch geprägt, im 17. Jahrhundert hatte der französische Heerführer Duc de Rohan, der in Richelieus Auftrag die sogenannten Bündner Wirren zugunsten Frankreichs entscheiden sollte, in der Nähe sein Heerlager bezogen und nebst der Soldateska und den Lagerhuren auch die Burgunderrebe mitgebracht, welche seither, nachdem sie sich akklimatisiert hatte, im Lande geblieben ist und den Herrschäftler zeitigt, während das ausländische Militär wieder abgezottelt ist. Der Wein kommt bei Johanna Spyri überhaupt nicht vor, ihr Personal liebt Milch und Käse. Ganz in der Nähe, auf der Luziensteig, wird die Schweiz gegen Österreich verteidigt (Kaserne), und in Maienfeld haust das alteingesessene Bündner Militärgeschlecht der Sprecher von Bernegg, deren bekanntester Spross, ein gewisser Theophil von Sprecher, Generalstabschef der schweizerischen Armee im Ersten Weltkrieg gewesen ist und zusammen mit dem cholerischen General Wille eine den Zentralmächten freundlich gesinnte Strategie entwickelte. Während der Oberbefehlshaber Wille dem Bundesrat geradewegs empfahl, auf seiten Deutschlands in den Krieg einzutreten, begnügte sich sein Generalstabschef mit der Ausarbeitung von Plänen, welche die Besetzung Oberitaliens durch die Schweizer Armee, an der Seite von österreichischen Divisionen, vorsah; und wenn man die beiden hätte machen lassen und der aristokratische, der herrschenden österreichischen Clique nahestehende Sprecher seine Pläne hätte ausführen können, wäre die Schweiz ins Schlamassel geraten und hätte dann zu den Verlierermächten des Ersten Weltkriegs gehört. Zum Dank für die katastrophalen Planungsdienste werden die beiden Kriegsgurgeln in den Lesebüchern dankend erwähnt; und man kann dort lesen, dass der Wahlspruch des einfachen Soldaten im Ersten Weltkrieg hiess: «Was Wille will und Sprecher spricht,/das tue schnell und murre nicht.» Das Herrenhaus, oder wohl doch eher Schloss, der Sprecher von Bernegg steht mitten im hübschestens herausgeputzten Städtchen Maienfeld, drinnen sieht es aus wie im Museum, bösartige, energische, manchmal auch nachdenkliche Offiziersköpfe dräuen aus den Bildern, haben jahrhundertelang schweizerisches Kanonenfutter in fremde Dienste geführt, dafür ihre Pensionen eingestrichen und die Landeskinder in allen möglichen Kriegen verheizt. Die gewölbten Gänge machen wirklich den besten Eindruck, und die heute herrschende Frau von Sprecher, eine geborene Calonder oder Caluori, gelernte Gärtnerin, wirkt zugeknöpft – ihr Mann ist Bankier in Chur, das bringt jetzt mehr als die Berufsoffizierlaufbahn; und mit einiger Verwunderung muss der auskunftheischende Reisende feststellen, dass er während des Gesprächs, aus welchem hervorgeht, dass Frau von Sprecher den Heidi-Rummel verabscheut und ihn aus grösster Distanz betrachtet, keineswegs eine Karaffe voll funkelnden Herrschäftlers aufgefahren wird, obwohl die Gegend doch von Trauben strotzt; und ist er dergestalt gänzlich auf dem Trockenen sitzen geblieben. Der Hausherr war nicht anwesend, muss wohl an diesem Nachmittag den Bankgeschäften gefrönt haben.

      Draussen dann, wenn man den Berg hinansteigt, dort, wo auch Frau Spyri hinangestiegen war und sie blitzhaft, nachdem ihr einige Geissen zu Gesicht gekommen waren und vermutlich auch ein bärtiger Senn, die Heidi-Idee hatte, als sie bei der Familie von Salis in der Sommerfrische weilte (in Jenins; das Salis-Haus ist heute Pfarrhaus) – draussen sieht man heute keine Geissen mehr. Die paar spärlichen überlebenden Tiere werden heute nur noch von den Hirten zur Selbstversorgung gehalten, vereinzelt, bald wird man ein paar ausgestopfte Exemplare im Heimatmuseum besichtigen können, neben den alten Söldnerharnischen und -hellebarden. Als Romanschriftstellerin hatte es Frau Spyri nicht einfach. Die grossen kriegerischen Themen waren besetzt von den Männern, Conrad Ferdinand Meyer, mit dem sie einen lebhaften Briefwechsel führte, schickte sich an, die bündnerische Kriegs- und Freiheitsgurgel Jürg Jenatsch literarisch zu verbraten, ausserdem auch diesen Duc de Rohan, der die Burgunder-Reben gebracht hatte, und Gottfried Keller war bereits als Sänger der jungen Demokratie (oder des Liberalismus?) aufgetreten. Blieb ihr als Marktlücke nur die Idylle, und da sprang sie schwupps hinein und kolonisierte literarisch die Bündner Alpenwelt auf ihre zürcherische Weise (Meyer und Spyri wichen nach Graubünden aus, der erste in die Historie, die zweite in die Idylle; Keller blieb in Zürich und schrieb realistisch). Sie kolonisierte Graubünden, d.h., verlegte ihre Sehnsüchte in die nach ihrer Ansicht heile Alpenwelt, und erfand also einen ihrer 36 Romane in dieser Gegend – das Heidi. Seither ist die Gegend vom Mythos überkrustet. Als Tochter eines Arztes und einer schriftstellernden Mutter hatte sie eine, wie man wohl sagen darf, glückliche Jugend in Hirzel, auf einer welligen Anhöhe bei Zürich, in ungetrübt ländlicher Umgebung verlebt, sich dann mit dem ebenso staubtrockenen wie tüchtigen Juristen Johann Bernhard Spyri (1821–1884) vermählt, der ihre dichterischen Neigungen kaum förderte und während der Mahlzeiten, anstatt angeregt mit seiner Frau zu diskutieren, seinen Kopf öfters hinter einer Zeitung versteckt haben soll. Er hat denn auch Karriere gemacht und seine Laufbahn als Stadtschreiber von Zürich abgeschlossen. Johanna Spyri gebar ihm, wie man damals sagte, den Sohn Bernhard Diethelm (1855–1884), der noch vor dem Vater starb.

      In Maienfeld nun fand die Witwe, so schien es ihr, das Paradies ihrer Kindheit wieder, eine unbefleckte Welt. Während in Zürich und überhaupt im Unterland das Kapital die Landschaft veränderte, die Industrialisierung die alten Strukturen zerstörte, so dass Gottfried Keller vor der in kürzester Zeit in einigen wenigen Händen angehäuften Geldmacht warnte (nachdem er vorher dem Liberalismus zum Durchbruch verholfen hatte), war die Bündne Landschaft relativ unberührt geblieben, ganz in der Nähe, in Landquart, gab es zwar einige Fabriken, aber die störten den aufkommenden Tourismus nicht, waren nicht im Blickfeld, und so konnte man denn die Sehnsüchte, welche im heftig wuchernden Zürich nicht mehr befriedigt wurden, in diese Welt hinauf projizieren. Ihre wirklichen Probleme durfte sie als Schriftstellerin nicht formulieren, ihr Herkommen liess das nicht zu, das hätte man einer Frau damals nicht abgenommen, ihre Verhärtung an der Seite des phantasielosen Mannes (auf den Fotografien kann man ablesen, wie ihr Gesicht im Laufe der Jahre versteinerte) war kein Romanthema, das Elend der bäuerlichen Bevölkerung auch nicht, von der ein grosser Teil jetzt zur Auswanderung gezwungen war, nachdem die fremden Kriegsdienste abgeschafft waren. Also scheint sie ihre Wünsche in der zeitlosen, ungeschichtlichen Figur des Heidi investiert zu haben, im lieben, etwas trotzigen, der Welt immerhin mit Courage gegenübertretenden Maitli, das alle Männer der Reihe nach bezaubert, angefangen vom Alpöhi über den Geissenpeter bis zum schwerreichen Herrn Sesemann in Frankfurt, und, im Einverständnis mit der Natur, so gewaltige Heilkräfte entwickelt, dass die an den Rollstuhl gefesselte Klara Sesemann, sobald sie in die Berge kommt, an der Alpenluft genest (und, wunderbare Heilung wie im Evangelium, wieder laufen kann).

      Eine bessere Fremdenverkehrswerbung konnte man sich im Bündnerland nicht wünschen.

      Und doch muss Johanna Spyri von den wirklichen Problemen der Gegend etwas gewusst haben, das Elend der Auswanderer konnte ihr nicht ganz verborgen geblieben sein. Bestimmt hat sie auch etwas vom Lehrer Thomas Davatz aus dem graubündnerischen Fanas gehört, der 1855 mit einer Gruppe von Auswanderern, weil in Graubünden damals gehungert wurde wie heute in der Dritten Welt, nach Brasilien auswanderte und dort dem Senator Vergueiro in der Provinz São Paulo in die Hände fiel. Dieser war ein


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