Reportagen 1+2. Niklaus Meienberg

Reportagen 1+2 - Niklaus Meienberg


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Poulou*. * «Poulou» wurde das Bürgersöhnchen Sartre in seiner Familie genannt, das schrieb er in «Les Mots». Man macht einen Trennungsstrich zwischen dem literarischen Sartre und dem politischen Sartre, um ihn jetzt, da er nicht mehr ausrufen kann, ungestört zu konsumieren. «Wenn ich ein verhungerndes Kind sehe, so wiegt ein Roman von mir nicht mehr schwer», hat er gesagt.

      Die Beerdigung sei strub und schön gewesen. Kein Ordnungsdienst für die ca. 20'000 Leute des Trauerumzugs. Keine offiziellen Delegationen, keine Hierarchie im Umzug, hier und dort ein paar Prominente verstreut, die haben nicht gestört. Grabsteine wurden umgeworfen im Gedränge, und einer ist auf den Sarg des Philosophen hinuntergefallen, als dieser schon im Loch die vermeintlich ewige Ruhe gefunden hatte.

      Sartre 1958, im Vorwort zu «Le traître» von André Gorz:

      «Wir lieben es, zwischen den Gräbern der Literatur spazierenzugehen, auf diesem stillen Friedhof die Grabschriften zu entziffern und für einen Augenblick unvergängliche Gehalte ins Leben zurückzurufen: beruhigend wirkt, dass diese Sätze gelebt haben; ihr Sinn ist für immer festgelegt, sie werden das kurze Fortleben, das wir ihnen einzuräumen geruhen, nicht dazu benutzen, sich unvermutet in Marsch zu setzen und uns in eine unbekannte Zukunft zu entführen. Was die Romanciers betrifft, die noch nicht so glücklich sind, im Sarg zu liegen, so stellen sie sich tot: sie holen die Wörter aus ihrem Fischteich, töten sie, schlitzen sie auf, weiden sie aus, bereiten sie zu und werden sie uns blau, auf Müllerinnenart oder gegrillt, servieren.»

      Joy Joint Joyce Choice Rejoice

      Für Fritz Senn, der vom Verleger Daniel Keel mir nichts, dir nichts, Joyce nichts entlassen wurde.

      Der zärtliche Wortaufschlitzer kultivierte Syntaxmörder geile Sprachbock irische Adjektivsäufer wäre heute vielleicht ein Jahrhundert alt geworden, am 2. Februar, wenn er nicht so viel getrunken hätte. Wie habt Ihr die Wörter am liebsten? Saignant, à point, à poil, well done? Mit Weihwasser abgeschmeckt if you please. Ein Katholenbock war er auf jeden Fall, der liebe Jubilar, und ein Apostat, und ein Pionier natürlich. Dieser ewige Eroberungstrieb bei den Iren. Irische Missionare wie Gallus, der nimmt einen Urwald im Osten der Schweiz in Besitz, rodet und schneidet, brennt und leidet; später Joyce, der unterwühlt das ganze Territorium der Sprache, nimmt es unterirdisch in Besitz. Rejoice! Der rodet nicht, im Gegenteil, lässt altneue Wörter unbekannte totgeglaubte Schling-Schluck-Schlickpflanzen wuchern und treiben, Wucher treiben mit seinem Sprachtalent.

      Polizigschtunt, Sechsaloitn, it is Polizigschtunt. Daran merkt der gebildete Zuricker, dass der liebe Verstorbene auch einmal in Zurick gelebt hat, wo er prompt gestorben ist, wo er auch liegt, unter einer Statue dass Gott erbarm, auf dem Friedhof Fluntern gleich hinter den Tieren des Zoologischen Gartens, und ein Schiess-Stand war dort auch in der Nähe damals als er versenkt wurde, kein Zweifel, dachte er, ich liege in schweizerischem Boden, aber unterdessen ist dieser Stand ersetzt worden durch eine Sportanlage, und das sieht auch noch nach Schweiz aus. Die Statue auf dem Grab ist wirklich die Höhe. Hier hat einer gründlich gearbeitet, bis sie so schlecht war. Nach dem ersten Entwurf dachte der Bildhauer: Das langt noch nicht, es muss noch blöder werden; hat neu modelliert, fand die zweite Version immer noch nicht schlecht genug, und erst beim dritten Anlauf ist ihm der Dreck vollkommen gelungen, und jetzt sitzt die Statue, welche Joyce darstellen soll, mit verrenktem Bein auf dem Grab von Joyce und drückt auf das Grab und denkt wie der Denker von Rodin und wird länger dauern als das Skelett darunter. Ist übrigens ein vornehmer Friedhof Gottesacker Leichenzwacker (Züribärg), und die Bewohner der umliegenden Gräber sehen nicht so aus, als ob sie den rüpelhaften obszönen unflätigen blasphemischen versoffenen Irländer gelesen oder gar geschätzt hätten, die Leichen vertreiben sich hier oben die Zeit doch eher mit Daphne du Maurier oder Sandra Paretti oder im Extremfall mit Emily Dickinson, Dünndruckausgabe. Zwei Tage bevor er starb, erhielt Joyce eine Bluttransfusion, das Blut wurde zwei Neuenburger Soldaten entnommen, die gerade in der Nähe waren (1941, Aktivdienst). Darob war der sterbende Weissweintrinker sehr glücklich: «Ich habe den Neuenburger immer sehr gern gehabt», sagte er (mit letzter Kraft).

      Und seither ist er bekanntlich ein Klassiker geworden ein Kulturgegenstand ein Kultgegenstand ein Heiliger eine ewige Fundgrube ein Nonplusultra des Jahrhunderts ein Sprachsteinbruch ein kanonisierter Sprachrevolutionär Sprachterrorist bei dem sich alle ihre Munition holen von Michel Butor bis Philippe Sollers in Tokyo Paris New York Manila Zurick hat er die Wortarsenale gefüllt und aus allen anglistischen Seminarien und Kolloquien und Symposien schallt es unablässig: Heilig Heilig Heilig heilig ist der Herr Zebaoth Joyce, und ganze Bataillone von Joycianer/innen knübeln kitzeln kützeln knipsen kirren kosen kürschen seine Sätze und treten, bis zum Halszäpfchen mit Bierernst gefüllt, statt mit einem guten Schluck Whisky, in sein Werk hinein wie in ein Hochamt in eine Heilige Messe Sprachmesse Sinnmesse Wortmesse Wortmustermesse, und lutschen am Messbrocken Kotzbrocken und nehmen den Anfang des Romans ULYSSES ganz wörtlich und lassen sich religiös messmässig heiligmässig überhauchen, denn da steht ja am Anfang wirklich INTROIBO AD ALTARE DEI, und so fing bekanntlich die katholische Messe an zu Zeiten des Jesuitenschülers Joyce und genau mit einer solchen religieusen Haltung (aber Joyce hat vielleicht eine schwarze Messe gemeint? Und hat es lustig haben wollen?) und dem Weihwasser der Linguistik in der semantischen Feldflasche treten die Joycegloybigen in sein Wärk Wurk work in progress und merken und merksen und murksen sich eins, und melken alle Wörter und alle sind heilig holy genial holy smokes sinnvoll vieldeutig mehrdeutig semantisch vermessbar umkehrbar spitzkehrig innovatorisch ikonoklastisch inkantatorisch superlatorisch superfetatorisch und eine schwache Stunde hat der Meister nie gehabt, no Sir, einmal Genie immer Genie. Und natürlich verstehen wir das meiste nicht, aber das macht nichts, wir lassen uns wiegen (wie auf schwankem Kahne der See). Zum Beispiel «Finnegans Wake» verstehen wir natürlich nicht, Ezra Pound hat es auch nicht mehr verstanden und war doch sonst ziemlich gebildet und sehr von Joyce eingenommen – aber indem wir behaupten, «Finnegans Wake» sei ein geniales Buch, beweisen wir, dass wir noch besser dran sind als der hochgebildete Ezra Pound. Das Buch ist von Joyce, es muss demnach genial sein.

      «Finnegans Wake» tönt im Durchschnitt so:

      not yet, though venissoon after, had a kidscad buttended a bland old isaac: not yet, though all's fair in vanessy, were sosie sesthers wroth with twone nathandhoe. Rot a peck of pa's malt had Jhem or Shen brewed by arclight and rory end to the regginbrow was to be seen ringsome on the aquaface.

      Da hat einer den Wörtern den Hals umgedreht, die Beine ausgerissen, die Silben wie Schmetterlinge aufgespiesst getrocknet numeriert neu montiert, es ist schön, wenn auch kurlig, aber darum schön, das merkt man schon nach einer anderthalbstündigen Beschäftigung mit diesen paar Linien, holy smokes. Am besten aber lässt man sie zwei Tage marinieren, kaut dann einen Nachmittag auf ihnen herum, klaubt die Wortgräte zwischen den Zähnen hervor, schmatzt schmatterlapapp das Wortfleisch herunter, fährt mit der Zunge Zounge tongue zweimal über das Gaumensegel und gürgeltgargelt mit Klosterfrauwhiskygeist. VENI CRATOR SPIRITUS, Komm heiliger Geist kehr bei uns ein besuch das Herz der Gläubigen Dein, und fick uns in das linke Bein.

      «Ulysses» übrigens ist viel einfacher als «Finnegans Wake». Verglichen mit «Finnegans Wake», ist «Ulysses» so einfach zu lesen wie ein Buch von Siegfried Lenz. «Ulysses», der grosse Klassiker, ein Tag im Leben des Leopold Bloom, Inseratenacquisiteur in Dublin, die Odyssee des Alltags. Verschiedene Körperfunktionen sind genau beschrieben, man muss sie also nicht mehr beschreiben, Fäkalien kommen vor, schon ganz am Anfang wird der Darm auf eine sehr zufriedenstellende, fast lustvolle Weise entleert, nachher wird am Strand, angesichts eines in die Höhe gerutschten Rocks, und begleitet vom Feuerwerk einer Kilbi, gewixt und gespritzt, schlussendlich eine Menstruation im Detail beschrieben. Gemessen am ganzen Tagesablauf, nehmen die sogenannten Obszönitäten nicht viel Platz ein, sind eingebettet in andere Alltäglichkeiten: Essen, Reisen (durch Dublin), Reden, Denken, acquirieren; so ein Tag, so wunderschön wie heute.

      Wie wurde der grosse Klassiker behandelt, als er noch ein Manuskript war?

      Sind die Anglisten und die Plüsch- und Bildungsbürger in ein Juhui ausgebrochen, so wie heute, wenn sie seinen Namen hören?

      Und hat die Klassik ihren Mann ernährt?

      Der


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