Tessiner Erzählungen. Aline Valangin
Sie spürt den Schmerz der alten Frau, anderen Leuten das überlassen zu müssen, für was man ein Leben lang gearbeitet und gesorgt hat und woran das Herz mit aller Kraft hängt, und wenn es auch unvernünftig ist, dass es daran hängt. Es war unvernünftig, denn was sollte die einsame Frau mit dem großen Haus beginnen? Sie hatte die Mittel ja nicht, es zu unterhalten und wahrscheinlich war das der Grund, warum der alte Herr ihr den Palazzo nicht vermacht hatte. Aber die Sciora fühlte die Enttäuschung der Teresa mit und fand auch, der alte Herr habe nicht recht getan. Ein Beweis dafür schien ihr die Tatsache zu sein, dass die rechtmäßigen Erben nichts mit dem Haus anzufangen wussten und es verkauften. Das hätte die Teresa nie getan, sie hätte das Haus behalten.
Aber wo bliebe dann sie, die Sciora, in dieser Geschichte? Einen Moment lang war sie verwirrt und kam sich vor wie zu Gast in ihrem eigenen Hause. Wem gehört es denn nun eigentlich?, fragte sie sich, und dachte zurück an jenen Maimorgen, an welchem sie das Haus zum ersten Male sah und es ihr so gefiel, dass sie es bald darauf kaufte. Sie dachte an die Sorge und Arbeit, die sie daran verwandt hatte und wie sehr sie schon damit verwachsen war. Dann frug sie sich noch, woher die große Anhänglichkeit an ein Haus kommen könne, ob ein Mann auch so empfinden würde, oder ob das Frauenart sei, sich an ein Haus zu hängen, auch wenn keine Familie Unterkunft verlange. Ob diese Liebe zu einem Hause aus der Habsucht der Frau stamme oder aus ihrer Unfähigkeit, ungeborgen zu leben. Das Haus! Das Haus!
Dann stand sie auf und sagte zu der alten Teresa: «Nun, so leben wir jetzt zusammen in dem Palazzo, den wir beide so gern haben. Und wer weiß, vielleicht sterbe ich vor der Teresa.»
Die Alte konnte sich mit diesem Trost nicht zufriedengeben, aber eine Art Trost war es doch, annehmen zu können, dass sie, die Teresa, auch noch die neuen Sciori würde sterben sehen im Zimmer mit den roten Blumen. Und warum eigentlich nicht? Würde sie denn nicht immer hier im Hause leben?
Die Sciora nimmt jedenfalls an, dass die Teresa immer, solange das Haus steht, darin leben wird.
Das Jesulein
Eines Morgens fand man den Sindaco, einen rüstigen, rotblonden Mann von vierzig Jahren, tot auf seinem Bette sitzend. Er war, während er seine Schuhe anziehen wollte, vom Schlag getroffen an die Wand gesunken und gestorben.
Die Familie des Sindaco war mit der Kirche zerfallen. Darum wünschte sie ein besonders schönes und feierliches Begräbnis auszurichten zum Beweis, dass man nicht nur ohne Kirche leben, sondern auch ohne Kirche sterben könne. Sie war es der Ehre und der Stellung des Verstorbenen schuldig und die Leute begriffen das.
Am Morgen des Begräbnistages waren sie aus allen Dörfern des Tales gekommen, viele zu Fuß, andere mit der Post, keiner wollte bei einem so außergewöhnlichen Anlass fehlen. Denn – darüber wurde im Geheimen getuschelt – was konnte sich nicht alles dabei ereignen? Der Tod des Sindaco war ungewöhnlich gewesen. So ohne einem Menschen noch ein Wort sagen zu können – abgesehen davon, dass kein Pfarrer ihm auf den letzten Weg verholfen hatte und er nun vielleicht als Geist herumirrte, wenn man nicht gerade annehmen wollte, er sei schon im Fegefeuer – abgesehen davon also, so ohne einem Menschen noch ein Wort sagen zu können, sterben müssen, ist das nicht ungewöhnlich? Aber noch ungewöhnlicher war es, dass er nun auch ohne Segen der Kirche begraben werden sollte. Was konnte sich da nicht alles ereignen? Donnerschläge aus blauem Himmel, Rabengeflatter über dem Sarg, schlimme Gerüche; vielleicht wird der Sarg vor der Kirchentüre, an welcher er vorübergetragen werden muss, schwer wie Blei, die Männer können ihn nicht weiter tragen; am Ende beginnen die Glocken selbst zu läuten … ja, was konnte sich nicht alles ereignen? Bald waren der Dorfplatz und die anstoßenden Gässchen voller Leidtragende und immer kamen noch mehr dazu, Frauen und Männer. Die Frauen hatten sich die frisch gestärkte Schürze vorgebunden und das schwarze Kopftuch tief ins Gesicht gezogen. Manch eine hielt den Rosenkranz in den gefalteten Händen, bis jemand ihr bedeutete, das sei heute nicht am Platz. Der betende Mund blieb stehen, der Rosenkranz verschwand in der Schürzentasche, doch die Hand blieb auch darin und ließ die Kügelchen weiter durch die Finger rollen. Die Männer hatten ihr bestes Gewand angezogen und etwas auf den Kopf gesetzt. An den Kopfbedeckungen kann man erkennen, welcher politischen Richtung ihre Besitzer angehörten. Einige tragen hohe, nach oben ausladende Strohhüte in Zylinderform, mit breitem, aufgekrempeltem Rand, wie sie schon vor hundert Jahren im Tal von den Wohlhabenden getragen wurden. Sie haben etwas Englisches an sich. Andere ziehen dunkle, schlichte Filzhüte vor, rund oder länglich, das ist nicht dasselbe, manchmal mit einer kleinen Vogelfeder geschmückt. Darunter gibt es eine Art grüner, kecker Filzhüte, auf einer Seite stark aufgeschlagen – das Haar muss hier buschig hervorquellen –, die den Mädchen besonders gefallen. Die meisten haben Mützen aufgesetzt, Mützen, die auf die verschiedenste Weise getragen werden, sogar verkehrt, mit dem Schild hinten im Nacken, ja solche, die ihren Schild verloren haben und so eigentlich zu den Kappen gehören, die bloß nachts im Bett zu tragen wären. Man sieht aber auch des Tags Kappen, von allen Farben und Formen und Größen, aus Stoff, Lappen, Fell. Heute werden aber alle diese Kopfbedeckungen nicht als Abzeichen getragen, sie werden nur getragen, um abgenommen zu werden vor dem toten Manne, den sie alle gleicherweise verehrt haben. Denn der Sindaco war ein gerechter Mann gewesen, einfach und gütig, trotz seines Geldes, sagen alle.
Nach und nach stellte der Trauerzug sich zusammen und setzte sich in Bewegung, ohne Glockengeläute, ohne Gesang und ohne Priester. Dafür flatterte eine rote Fahne voran. Der Sarg folgte, von vier Männern getragen. Er war mit bäuerlichen Blumen und einfachen Kränzen bedeckt. Obenauf lag ein breiter, schöner Kranz. Die Sciori hatten ihn aus der Stadt bestellt. Er wurde sehr bewundert. Hinter dem Sarg gingen die nächsten Verwandten, dann die besten Freunde des Verstorbenen; nachher die Reichen des Dorfes, die weniger Reichen, die Armen und die ganz Armen und zum Schluss, wie es sich schickt, kam der endlose Zug der Frauen. Obschon der Sindaco ledig geblieben war, hörte man lautes, wildes Frauenweinen. Das gehört zu einem richtigen Begräbnis.
Langsam zog das Geleite, dem schwankenden Sarg nach, durch die Kirchentreppe hinunter, an der verschlossenen Kirchentüre vorbei und in einem stattlichen Bogen auf den Kirchhof. Dort, vor der offenen Grube, wurden viele Reden gehalten. Jeder Freund des Verstorbenen – und wie viele hinterließ er! – wollte ihm etwas Gutes ins Grab nachsagen. Der Friedhof war zu klein für die vielen Menschen. Sie standen dicht gedrängt und zertraten die Gräber. Es war heiß. Mancher hätte gerne seinen Hut aufgesetzt oder den Kittel ausgezogen. Aber das ging nicht an. Erst um die Mittagszeit wurde der Sarg endlich in die Grube hinuntergelassen. Jeder streute eine Hand voll Erde darauf und stapfte über die Gräber davon. So leerte sich der Friedhof bald und nur noch die Buben hockten auf dem Dach der Totenkapelle, wohin sie geklettert waren, um besser zu sehen. Sie warteten auf etwas. Aber es geschah nichts Weiteres mehr. Maurilio, der Küster, schaufelte einen kleinen Berg über dem Grab zusammen, warf den Spaten auf die Schulter und ging auch fort. – Aus.
Der arme Sindaco war ein guter Freund des Herrn Martino gewesen. Beide hatten die Welt gesehen, Südamerika, beide hatten etwas Geld gemacht und waren nach Haus gekommen, um friedlich zu altern. Sie standen sich so nahe, dass sie sogar einen gemeinsamen Jagdhund besaßen, ein schönes, böses Tier, das sie sich aus Italien aus einer Zucht für viel Geld hatten kommen lassen. Denn beide waren gute Jäger. Nun ja, was war dabei? Männer sind, wie das italienische Sprichwort sagt, von Geburt her Jäger.
Der Tod des Freundes hatte Herrn Martino recht getroffen. Obschon er mit seinen roten Wangen und seinem spitzen Schnurrbart kühn und unternehmend aussah, so hatte er doch ein weiches Gemüt. Es hieß, er sei einmal auf der Gämsjagd am lichten Tag laut schreiend davongestürzt, weil ihn die unerschütterliche Stille der Berge jäh mit Entsetzen erfüllt habe. Auch war es ihm ungemütlich und er vermied es sorgfältig, wenn immer möglich, sich allein im alten Palazzo aufzuhalten. Die Hallen in den klösterlichen Gängen, die Blicke der alten Herrenbilder an den Wänden, die den Besucher still verfolgten, die Spiegel, das Krachen im Holzwerk, das alles beeindruckte ihn. Vielleicht hatte er auch Furcht vor den Gespenstern, von denen die alte Teresa früher gerne erzählt hatte. Sie sollten im blauen Zimmer herumpoltern und manchmal gewaltig an Teresas Kammertüre geschlagen haben. Wenn auch im Dorf alle wussten, dass die Teresa die Gespenstergeschichten nur erzählt hatte, um den Leuten Angst einzuflößen vor dem Haus, denn sie wollte ganz allein und ungestört sein, so schaute doch mancher