Tessiner Erzählungen. Aline Valangin

Tessiner Erzählungen - Aline Valangin


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nichts bemerkt. Nein, sie habe Schnupfen, sie rieche nichts, das Kind solle hinausgehen und sie in Ruhe lassen. Sie wollte wieder in ihren Träumereien untertauchen, doch gelang es ihr nicht ganz. Sie begann nun auch etwas zu riechen, das ihr ungewöhnlich schien. Aber da­r­über nachzudenken, was es sein könnte, wollte sie nicht. Nein, nicht denken! Denken war für Marta vom Schlimmsten, was ihr zugemutet werden konnte. Eine richtige Strafe und Qual. Wenn etwas sie zwang, zu denken, so fing sie an zu weinen, als ob sie Schmerzen hätte. Sie setzte sich dann etwa, schwach, auf die äußerste Kante eines Stuhles, legte ihre Wange in die Hand und schluchzte. Wenn man sich mitleidig zu ihr neigte, um sie zu trösten, konnte man vernehmen, das sei jetzt zu viel … wirklich zu viel für eine arme Frau, die schon so viel Unglück gehabt hatte mit dem Mann und den toten Kindern. Sie werde nun wohl auch sterben, das sei das Beste, dann sei alles aus! Sie erholte sich erst langsam, wenn jemand anders für sie die schwere Frage gelöst hatte. Oder sie machte, um einer klaren Antwort auszuweichen, ein Gesicht, als ob sie frisch vom Himmel falle und sagte: «Ich weiß nicht.» Dieses «Ich weiß nicht» vermochte sie mit solcher Überzeugung zu sagen, dass niemand versuchte, mehr von ihr zu erfahren. So kam sie meistens um die für sie so peinliche Arbeit des Denkens herum.

      Auch jetzt schob sie die Anwandlung, zu überlegen, woher der Geruch stammen könnte, schnell von sich. «Ich weiß nicht», sagte sie gähnend vor sich hin, zogt die Achseln in die Höhe, legte den Kopf ein wenig schief und versank in ihr Sinnen.

      Im Schlafzimmer war die Sciora erwacht. Sie freute sich im Voraus auf den Moment, den schönsten jeden Morgens: wenn sie die dicken Fensterladen aufschlagen und mit einem Blick die ganze sonnenüberflutete Sommerwelt übersehen würde, Tal und Berge, blauer Himmel, Felsen, Wälder und Bäche. Dann ging sie rasch zum Ostfenster, um es zu öffnen und den Tag einströmen zu lassen. Aber bevor sie die Laden aufgeschlossen hatte, stach der Geruch ihr in die Nase.

      «So etwas», dachte sie, «gehen die verrückten Menschen bei dieser Hitze die Wiesen düngen.» Wie sie übers Land schaute, sah sie niemanden mit dem nützlichen Geschäft beschäftigt. Kein Mensch weit und breit. Aber Schwaden von übelstem Geruch drangen ein, füllten das Zimmer, standen schon in den anderen Zimmern, die sie nun durchging, um in der Küche zu landen und die Marta zu fragen, was denn dieser Geruch zu bedeuten habe.

      Die Marta fuhr auf und sagte, sie habe Schnupfen, sie rieche nichts, sie wisse nichts. Das schien der Sciora fast unglaublich, einen solchen Schnupfen konnte es gar nicht geben. Während sie der Marta diese Bemerkung machte, kam das Kind mit neu­gie­rigen Augen wieder in die Küche. Die Sciora fragte, ob es Auskunft geben könne, aber Marietta schüttelte den Kopf.

      Die Sciora nahm etwas über sich und ging, von den Hunden freudig begleitet, durch den Garten dem Geruch entgegen. Es zog sie neben dem Garagehäuschen auf die Straße hinunter und lud sie ein, über das Mäuerchen zu schauen, das die Wiesen der Teresa von der Straße trennte.

      Dort sah sie die Bescherung.

      Sie staunte ein wenig über die Masse des Unrates, der da schamlos an der Sonne lag und dampfte. Das ist nun wirklich etwas, das zum Himmel stinkt, dachte die Sciora und stieg eilig wieder in ihren verpesteten Garten hinauf, während aus den oben gelegenen Häusern grobes Schimpfen ertönte. Dort lehnten sich die Leute gegen den Geruch auf, wie es durchaus verständlich war. Sie standen auf ihren Holzbalkonen, die Frauen hielten sich die Nachtjacken mit der Hand bis unters Kinn zu, als ob sie die verdorbene Luft so abwehren könnten. Die Männer fingen untereinander Zank an; jeder wollte der Findigere sein und den anderen mit Vermutungen über das Geschehene aufklären.

      Als die Sciora droben angelangt war, stand ihr Mann vor dem Haus. Er bewegte sich nicht gerne für Unwichtiges, auch hatte er eine ausgesprochene Abneigung gegen die übelriechende ­Seite des Lebens. Die Sciora musste ihn darum recht eigentlich überreden, sich um die Angelegenheit zu kümmern, so nämlich, dass sie seine Neugierde aufstachelte, indem sie meinte, sie verstehe nicht recht, was dort auf der Halde liege und rieche, es sehe seltsam aus. Der Scior lachte über die List, setzte sich aber in Bewegung, durch den Garten, bedächtig übers Treppchen hinunter, um das Garagenhaus herum und schaute über das Mäuerchen. Ja, das war ihm eine klare Sache. Er ging gar nicht mehr in den Garten hinauf, sondern sofort den Dorfweg hinan, mit Gattin und Hunden, um unverzüglich den Herrn Segretario von dem Ungehörigen in Kenntnis zu setzen und zu bitten, man möge um Abhilfe sorgen.

      Auf der Dorfstraße meinte die Sciora, sie könne doch nicht gut im Pyjama mitkommen, nicht wegen des Herrn Segretario, sondern weil das Pfarrhaus einen oberen Ausgang auf die Piazza habe und der Herr Pfarrer doch jeden Moment dort heraus erscheinen und an ihrer Bekleidung Anstoß nehmen könnte. Der Pfarrer hatte schon einmal eine Viertelstunde lang ein nervöses Lachen nicht beherrschen können, als er der Sciora einen Besuch machen wollte und sie unerwarteterweise im Pyjama getroffen hatte. Es war sehr peinlich gewesen. Als er wieder ruhiger geworden war, hatte er unvermutet großes Hagelwetter angekündigt. Die Sciora hatte nicht recht begriffen, ob als Strafe für ihre un­züchtige Kleidung oder weswegen. Jedenfalls war es besser, jetzt eine Begegnung mit dem Pfarrer zu vermeiden und den Mann allein zum Segretario gehen zu lassen.

      So zog der Scior weiter. Die Sciora nahm den oberen Weg in ihren Garten und wartete dort mit einiger Neugierde auf das, was geschehen würde. Bald kam der Mann mit dem Bescheid zurück, leider kenne niemand den Täter, doch werde von der Ge­meinde aus Wasser getragen und auf die Halde ausgegossen werden, um den Unrat hinabzuschwemmen. Nach kurzer Zeit sahen die Sciori, über ihre hohe Gartenmauer gelehnt, wie drunten auf der Straße Maurilio, der Küster, mit der Feuerwehrbrente und dem Kessel zum Feuerlöschen Wasser hinuntertrug und es dort über das Mäuerchen schüttete, Mal um Mal. Gegen Mittag nahm der Geruch ab.

      Aber die Neugierde der Dörfler, die wissen wollten, wer das Unmögliche getan habe, nahm nicht ab. Vermutungen schwirrten herum, die einen beschuldigten die anderen, doch da sich die wenigen, die in Frage kamen, alle über ein volles Fass ausweisen konnten, fielen auch die besten Kombinationen immer wieder zusammen. Die Aufregung im Dorf stieg, als die Teresa am Nachmittag wieder erschien. Sie behauptete, den Gestank bis auf ihre Alp hinauf gerochen zu haben. Sie habe den ganzen Tag nicht essen können. Nicht nur wegen der verdorbenen Luft, sondern auch wegen der Beleidigung. Denn das sei eine Beleidigung, was da geschehen sei, wahrhaftig eine grobe Beleidigung … für die Sciori.

      Sie stand unten an der Gartenmauer, die Sciora schaute von oben herunter.

      «Meine Sciori sind beleidigt worden», klagte sie mit lauter, schriller Stimme, «und die Beleidigung ist enorm.»

      Sie sah hinauf, ob diese Worte Eindruck machten, und fuhr dann heftiger fort: «Ja, es ist eine Beleidigung, es ist eine Ven­det­ta.»

      Die Sciora schüttelte den Kopf, doch ihr ungläubiges Gesicht spornte die Alte zu noch kühneren Behauptungen an. Sie rief: «Ich kann mir schon denken, woher diese Vendetta stammt, ja, ich weiß es genau … es ist Vendetta, reine Vendetta! … Aber ich sage nichts», fügte sie leiser hinzu und zog ihre Augenbrauen hoch in die verrunzelte, braune Stirne hinauf, «ich sage nichts, bis ich den Elenden überführt habe.»

      Hier machte sie eine Pause. Dann schlang sie ihre harten Hände ineinander, streckte sie weit von sich und wimmerte: «Diese Beleidigung … dieser Tort! … Das können meine Sciori nicht aushalten, es ist unmöglich! Wie sollen sie sich in ihrem Garten, unter den Bäumen, noch wohl fühlen, bei diesem Geruch … bei dieser Beleidigung?» … Sie fasste sich, tat ein paar Schritte und schaute mit Haltung um sich. Ihre Bewegungen waren feierlich, ihr Gesicht bekam einen entschlossenen Ausdruck, ihre altväterische Sprache wurde gemessen und erinnerte an Bibel­verse.

      Es traf sich, dass gerade der gute Maurilio mit seiner schweren Wasserlast die Straße hinunterkam. Teresa stellte sich ihm entgegen, breit, mitten auf der Straße. So, begann sie, er trage hier Wasser, aber er sei nicht imstande gewesen, den Übeltäter auf­zufinden. Sonst renne er jedem kleinsten Vergehen nach, als ob er der Landjäger sei. Aber heute vermöge er nichts aufzudecken. Heute, wo es wichtig wäre, dass man den Schelm fange, um den Sciori den guten Willen zu zeigen. Wenn sie Küster wäre und nicht mehr Arbeit hätte als so ein Küster, sie hätte schon längst herausgefunden, wer es gewesen sei. Sie habe übrigens, obschon sie nur die Teresa sei und alle Hände voll zu tun habe, einen verdächtigen Fleck entdeckt


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