"Wenn Du absolut nach Amerika willst, so gehe in Gottesnamen!". Heinrich Lienhard
bemüht sich aber, die Einheimischen unter den Umständen der weissen Invasion gerecht zu behandeln.
Wie jedes Leben ist auch das von Heinrich Lienhard von den dreifachen Kräften geformt, die Niccolò Macchiavelli virtù, fortuna und necessità genannt hat. Das vorliegende Werk zeigt eindrücklich, wie Lienhard seine Virtù, seine Tatkraft, unter den verschiedensten Umständen entfaltete, auch wie er Fortunas Spiel von Glück und Unglück sich fügend mitspielte und, endlich, wie er die Necessità, das unausweichlich Gegebene bedacht in sein Handeln und Bemühen einflocht.
Dieses bedeutende Buch bietet nicht nur ein facettenreiches Bild der prägenden Lebensjahre eines jungen Glarner Auswanderers und der komplexen historischen Ereignisse einer Eroberung, es ist zugleich ein bleibendes Zeugnis hervorragenden wissenschaftlichen Könnens.
Leo Schelbert, Prof. em. University of Illinois, Chicago
Heinrich Lienhards Erinnerungen und ihr geschichtlicher Hintergrund
Heinrich Lienhard verfasste seine Erinnerungen an die ersten dreissig Jahre seines Lebens in den 1870er-Jahren. Er war Anfang fünfzig, lebte mit seiner Frau Elsbeth und den Kindern in Nauvoo, Illinois, wo er sich 1856 niedergelassen hatte. Er leitet sein Manuskript mit folgenden Worten ein: «Schon oft ging ich mit dem Gedanken um, meine Vergangenheit, das heisst so weit ich mich derselben noch erinnere, nieder zu schreiben, indem ich annehmen darf, dass eine solche Aufzeichnung meiner Erlebnissen wenigstens für meine Kinder, vielleicht für Kindes Kinder einiges Intressen haben würde. Ich maasse mir nicht an, indem ich dieses unternehme, dass es für das allgemeine Publicum geschehe, da ich [mir] nur zu wohl bewusst bin, dass mir zu einem solchen Unternehmen die dazu nöthige höhere Schulbildung leider nicht zutheil wurde; somit wird man möglicherweise nicht selten Fehler in der Satzbildung sowie orthographische Fehler finden, die eines kurigirens bedürften.»
Lienhards Kinder wuchsen in einer vom Glarnerland sehr verschiedenen Welt auf und kannten ihre schweizerischen Wurzeln nur aus Erzählungen der Eltern. Dies dürfte der Grund gewesen sein, weshalb er seinen Aufzeichnungen die Erinnerungen an die eigene, nicht immer einfache Kindheit und Jugend in Bilten voranstellt. Auf diese ganz frühen Reminiszenzen folgen seine erste Reise nach Amerika im Alter von 21 Jahren, die zweieinhalb Jahre in Illinois und 1846 die Reise über den nordamerikanischen Kontinent nach Kalifornien. Dort wollte es der Zufall, dass während seines Aufenthalts Gold entdeckt wurde und er nicht nur erlebnisreiche Jahre verbrachte, sondern 1850 auch mit einem kleinen Vermögen in die Schweiz zurückkehrte, das ihm die Gründung einer eigenen Existenz ermöglichte. Grosszügiger wirtschaften zu können als seine Eltern, war das Ziel, von dem er seit seiner Kindheit geträumt hatte. Deshalb erfüllte er wohl mit Freude, einer gewissen Genugtuung und nicht zuletzt bewundernswerter Ausdauer den Wunsch seiner Kinder, diesen nicht alltäglichen Weg zur Erreichung seines Ziels in Gedanken nochmals zu beschreiten und die Erinnerungen daran schriftlich festzuhalten.
Das Manuskript
Es ist ein eindrückliches Dokument, das einem im Lesesaal der Bancroft Library in Berkeley, Kalifornien, in einer grossen, blauen Archivschachtel ausgehändigt wird. Das Manuskript umfasst 238 ungebundene, einmal gefaltete Schreibbogen, die aufeinandergelegt einen fünfeinhalb Zentimeter dicken Stapel von dicht mit Lienhards Handschrift beschriebenen Blättern ergeben. Aufgrund unterschiedlicher Wasserzeichen und Linierung sind sechs Serien von Schreibpapier erkennbar, deren Bogen zwischen 30,5 und 32 mal 19,5 Zentimeter messen (letztere Angabe mit einer Ausnahme). Sie sind beidseitig hellblau liniert und weisen zwischen 28 und 43 Zeilen auf. Das Papier ist von guter, je nach Serie jedoch leicht unterschiedlicher Qualität, auch hat die Zeit darauf ihre Spuren hinterlassen. Die Blätter sind vergilbt, viele weisen bräunliche Verfärbungen auf, stellenweise auch Flecken. Bei manchen Bogen ist der Falz teilweise, bei etwa zehn Bogen ganz aufgelöst. Auch die Blattränder sind stellenweise beschädigt, jedoch selten so stark, dass der Text davon betroffen wäre. Einige Bogen weisen kleine Risse auf, Bogen 150 ist beinahe ganz durchgerissen.
Auf den ersten dreissig Bogen mit den meisten Zeilen folgte Lienhard beim Schreiben den Linien, bei allen folgenden Bogen wählte er einen engeren Zeilenabstand als den vorgegebenen. Zusätzlich füllte er den leeren oberen Seitenrand regelmässig mit vier bis sechs Zeilen Text, wodurch er pro Seite 10 bis 15 Zeilen dazugewann, sein Schreibpapier also gut nutzte. Links des Textes liess er einen Rand von ein bis zwei Zentimetern frei. Auf diesem führte er gelegentlich den letzten Satz einer Seite zu Ende, brachte kleine Korrekturen an oder fügte in späterer Zeit, wenn er wieder in seinem Manuskript las, einen kurzen Kommentar hinzu. Rechts schrieb er in der Regel bis an den Blattrand. Er gliederte seinen Text weder durch Zwischentitel noch Paragrafen, nur die erste Zeile einer neuen Seite weist ab und zu einen kurzen Einzug auf. Die Bogen sind auf der Vorderseite in der linken oberen Ecke von 1 bis 238 durchnummeriert. Auf Bogen 103 verwechselte er beim Schreiben zwei Seiten und nummerierte danach als Orientierungshilfe die übrigen drei Seiten von 2 bis 4. Einige Bogen enthalten Spuren der Bearbeitung von fremder Hand, darunter Bemerkungen, Inhaltsangaben, Seitenzahlen sowie verschiedene kleine Zeichen. Folgende Tabelle zeigt eine Übersicht (kursiv gesetzte Kapitel entsprechen dem in diesem Buch edierten Text):
Zeit/Bogennummern | Bogen | Monate | Bogen/Monat |
Kindheit und Jugend 1822–1843 (1/1–12/3) | 13 | 260 | 0,05 |
Reise nach Amerika 1843 (12/3–20/4) | 8 | 3 | 2,67 |
Highland 1843–1846 (20/4–51/1) | 30 | 29 | 1,03 |
California Trail 1846 (51/1–83/1) | 32 | 6 | 5,33 |
Kalifornien 1846–1849 (83/1–160/1) | 77 | 32 | 2,41 |
Reise in die Schweiz 1849–1850 (160/1–196/2) | 37 | 7 | 5,29 |
Kalifornien 1850 (196/3-223/3) | 27 | 5 | 5,4 |
Rückkehr in die Schweiz 1850 (223/3-238) | 14 | 6 | 2,33 |
Total Manuskript | 238 | 348 | 1,46 |
Der ganze Text ist in deutscher Schreibschrift verfasst, wie Lienhard sie in der Schule gelernt hatte. Für fremdsprachige Wörter, Orts- und Personennamen verwendete er die lateinische Schrift, wobei Ausnahmen und Mischformen häufig sind. Seine Handschrift ist regelmässig, klar und im Ganzen gut lesbar. Schwierig und an einigen Stellen nicht entzifferbar sind Wörter, die er durch Überschreibung korrigierte, vor allem auf diese Weise korrigierte Einfügungen über der Zeile. Die sehr kleinen, oft auf einen kurzen Strich reduzierten