Der Salamander. Urs Schaub
naiv bin und dass sie mit ihrer Skepsis oder weiblichen Intuition – oder mit beidem – recht hatte.
Tanner erklärte in knappen Worten, wer Jean D’Arcy war. Den Koffer verschwieg er allerdings, ebenso D’Arcys rätselhafte Bemerkung, dass er wisse, wer ihm damals die Drogen untergejubelt habe.
Jetzt wurde Michel wütend.
Der werd ich aber den Kopf waschen! Was denkt sich diese Dame eigentlich! Wie kommt die dazu, einfach im Archiv zu wühlen. Eine offizielle Genehmigung hatte sie ganz sicher nicht. Auf jeden Fall nicht von mir. Ich werde sie mir gleich vorknöpfen. Danke, dass du es mir gesagt hast, Tanner. Das macht gleich noch einmal zehn Punkte Abzug.
Sei nicht so streng mit ihr. Sie nimmt ihre Arbeit sehr ernst.
Aha. Hat sie dich schon um den Finger gewickelt. Das hätte ich mir denken können. Ich muss ja zugeben, dass sie verflucht attraktiv ist, mit ihrem frechen Lachen. Und dann erst noch diese …
Hier unterbrach ihn Tanner, denn er hatte keine Lust auf Michels sprachlich delikaten Wortschatz, mit dem er über weibliche Körper zu schwärmen pflegte.
Ich würde die Akte übrigens auch gerne einsehen, lieber Michel.
Michel produzierte ein dramatisches Stöhnen.
Welche Akte?
Na ja, die von Jean D’Arcy.
Michel stöhnte dramatisch.
Oh je. Jetzt fängt das wieder an! Du kannst es einfach nicht lassen.
Dann schwieg er.
Tanner wartete geduldig.
Michel stöhnte.
Also gut. Unter zwei Bedingungen: Erstens gehen wir heute Abend bei Stocker essen, und zwar auf deine Rechnung. Und zweitens versprichst du mir, dass du der Wille nicht unter die Arme greifst, falls sie dich bittet, ihr bei dem Fall behilflich zu sein.
Gut, machen wir! Heute Abend um zwanzig Uhr.
Wie – machen wir? Versprichst du es?
Ja, ja! Ich verspreche es. Warum sollte ausgerechnet ich ihr bei dem Fall helfen?
Michel lachte.
Ach, Tanner … vielleicht, weil es dir Zugang verschaffen würde …
Zugang?
Tja … dahin und dorthin …
Blödmann.
Tanner hängte auf.
SIEBEN
Michel saß allein in seinem Büro und wartete.
Auf was er wartete, war ihm selbst nicht klar. Abgesehen davon, dass er die Wille in sein Büro bestellt hatte und sie – laut Sommer, der die Telefonzentrale hütete – nicht auffindbar war. Aber er wartete natürlich nicht wirklich auf sie. Er wartete auf etwas anderes. Aber worauf?
Seit Wochen gab es im Grunde nichts zu tun, und das war ihm in seiner ganzen Karriere als Polizist noch nie passiert. Nach dem Telefonat mit Tanner hatte er einen halben Morgen lang über dieses Phänomen nachgedacht, war aber zu keiner befriedigenden Antwort gekommen. Seine Gedanken kreisten zwanghaft um die Idee, dass es sich um so etwas wie die Ruhe vor einem Sturm handelte. Aber um welchen Sturm denn, um Gottes willen? Woher wird er kommen? Und wird er ihm gewachsen sein?
In der Nacht hatte er schon wiederholt von seinem eigenen Tod geträumt. Diese Träume, deren Bilder jeweils spätestens beim Duschen verblassten – als wären es Figuren am Sandstrand, und ein, zwei Wellen genügten, um sie zum Verschwinden zu bringen –, hatten trotz allem ihre Wirkung auf seine Tage. Er ertappte sich immer häufiger dabei, unbeweglich dazusitzen, ein Loch in die Luft zu starren und nachzudenken.
Jetzt hatte er aus schierer Verzweiflung begonnen, über sich selbst nachzudenken, und da das gänzlich ungewohnt für ihn war, denn er hatte keinerlei Übung in diesem Geschäft, quälte er sich langsam wie eine Schnecke auf ihrem Schleim von einem Gedanken zum nächsten.
Gegen Mittag kam er zum Schluss, dass er doch im Grunde ein durch und durch gutmütiger Mensch sei. Jawohl: durch und durch gutmütig.
Er lächelte mitfühlend bei diesem Gedanken, als rühre ihn die Person, über die er gerade so angestrengt nachdachte. Auch die Formulierung gefiel ihm, sie erfüllte ihn mit einem seligen Glücksgefühl.
Durch und durch gutmütig!
Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
Er konnte zwar fuchsteufelswild werden, ja sogar toben, fluchen wie ein Bürstenbinder und wüten, dass der Boden zitterte, auf dem er stand, aber meist hatten diese Zustände eine sehr kurze Halbwertszeit. Seine zornigen und aufbrausenden Gemütszustände waren wie Gewitter: heftig und mächtig, theatralisch und laut, aber zeitlich begrenzt. Sie entwickelten sich selten zu Dauerregen und langen Schlechtwetterperioden.
An dieser Stelle seiner Analyse nickte er beifällig mit seinem mächtigen Haupt. Dann ergänzte eine Stimme in ihm: Und wenn er zornig wäre, hätte das sowieso immer einen triftigen Grund. Jawohl.
Er legte seine Stirn in Falten.
Was ihm allerdings in letzter Zeit immer häufiger passierte: Er hatte schlechte Laune. Und zwar eine alles durchdringende grimmig griesgrämige, bodenlos schlechte Laune. Dieser Zustand stellte sich schon ein, wenn er sich am Morgen schwer ächzend aus dem Bett hievte. Dieses Gefühl legte sich, so schien es ihm, wie eine zweite Haut um sein ganzes Wesen. Es umschloss ihn gar mit einem Panzer, der zäh, zerfurcht und wie aus hartem Leder schien.
Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er zugebenermassen schlechte Laune quasi als Mimikry benutzt. Als ein Kostüm sozusagen, das er immer griffbereit zur Hand hatte. Gegen alle möglichen Ansinnen und Situationen konnte er sich beliebig hinter der Maske der schlechten Laune verkriechen, auch wenn er innerlich fröhlich und aufgestellt war. Was die Leute dann von ihm hielten, war ihm egal.
Aber jetzt war die miese Laune nicht gespielt. Sie hatte ihn fest im Griff. Es war ihm beinahe unheimlich, und er fühlte sich unfähig, diesen Zustand zu ändern. War das jetzt die Strafe für sein frevelhaftes Spiel? Hatte ihn seine Mutter nicht oft genug davor gewarnt, dass ihm seine Grimassen eines Tages bleiben würden, wenn er sie zu oft schneiden würde.
Michel stutzte.
Vielleicht könnte er jetzt ja den umgekehrten Weg gehen? Nämlich so tun, als hätte er gute Laune.
Er versuchte zu lächeln, aber er spürte, dass sich sein Gesicht nur zu einer weiteren Variante des Grimms verzerrte. Er versuchte, sich an etwas Lustiges zu erinnern, aber es war wie verhext, es wollte ihm nicht einmal ein Witz in den Sinn kommen. Er schlug verärgert mit der flachen Hand auf den Bürotisch, sodass die Bleistifte fröhlich ins Hüpfen kamen.
Heißt das, dass ich eintreten darf, Chef?
Zwischen Tür und Angel stand ein Wesen, das übers ganze Gesicht strahlte. Michel schaute verständnislos.
Sie hob die Hand und winkte, als wollte sie eine Nebelwolke wegwinken, die sich im Büro gebildet hatte.
Hallo, ich bins, Ihre neue Mitarbeiterin, Lara Wille.
Jetzt erst erkannte Michel sie.
Er glotzte sie weiter an. Dann schüttelte er seinen Kopf, als wolle er dadurch seine Starre lösen.
Was ist denn mit dir passiert? Bist du in Trauer?
Sie schüttelte fröhlich ihren Kopf.
Nicht dass ich wüsste. Wie kommst du denn darauf?
Ich dachte immer, Frauen schneiden sich nur die Haare freiwillig so kurz, wenn entweder jemand gestorben ist oder sie verlassen wurden.
Nein, ganz im Gegenteil.
Sie schüttelte unwillig den Kopf.
Das ist ja eine merkwürdige Theorie, muss ich sagen.
Er machte eine unwirsche Bewegung mit derselben