Der Salamander. Urs Schaub
hierher zurückgekommen sei. Hier habe er nämlich die Spuren dieses Verbrechens aufgespürt und den Fall mit Michel zusammen lösen können. Seitdem arbeite er dann und wann mit ihm zusammen. Mehr oder weniger inoffiziell. Als so eine Art Berater.
Sie hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Als beide satt waren und der Kaffee vor ihnen stand, blickte Tanner sie erwartungsvoll an.
So!
Sie blickte ihn ernst an.
Ja. Ich weiß, jetzt bin ich dran. Danke für Ihre Geduld. Wenn es Ihnen recht ist, erzähle ich zuerst, warum ich mir die Haare geschnitten habe.
Tanner nickte.
Ich werde ab sofort keine Uniform mehr tragen. Ich arbeite ab jetzt in der Abteilung vom Michel, also in der Abteilung Leib und Leben.
An so etwas hatte Tanner überhaupt nicht gedacht.
Ach, das ist ja großartig. Ich gratuliere. Ich wusste natürlich nicht, dass Sie so etwas anstreben, aber …
Glauben Sie, ich will mein Leben lang Streife schieben? Sicher nicht! Deswegen bin ich nicht zur Polizei. Zudem habe ich alle Kurse gemacht und wirklich ziemlich gut abgeschnitten, ich muss es selber sagen.
Dann ist ja alles gut, und ich gratuliere wirklich von Herzen.
Ihr guter Freund Michel hat mich ziemlich lange hingehalten, wissen Sie. Und ich weiß aus gewöhnlich gut unterrichteter Quelle, dass er ein bisschen Angst hat vor mir.
Aha.
Tanner gab sich ganz erstaunt.
Wieso denn das?
Attraktive Frauen haben es im beruflichen Leben schwer. Wussten Sie das nicht, Tanner?
Er musste lächeln. An Selbstbewusstsein fehlte es ihr nicht.
Ich sehe, Sie lächeln, und Sie denken jetzt sicher, ein bisschen Bescheidenheit würde ihr auch nicht schlecht stehen, oder? Aber wissen Sie, ich habe meine Erfahrungen gemacht. Darunter einige sehr bittere, das können Sie mir gerne glauben. Die Polizeiwelt ist immer noch mehr oder weniger eine Männerdomäne, und reine Männerwelten reagieren auf Weibchen immer noch reflexhaft.
Sie lachte.
Und wenn das Weiblein kein Blaustrumpf ist, sondern einen knackigen Arsch und Brüste hat, die den Namen auch verdienen, dann – Sie können sich die Schwierigkeiten ja vorstellen. Wie gesagt, es hat eine Weile gedauert, bis …
Sie brachte dies alles in einem heiteren Ton hervor. Verbittert schien sie darüber auf jeden Fall nicht zu sein. Dann wischte sie mit einer Handbewegung einige Brosamen vom Tisch.
Lassen wir das.
Sie lachte.
Heute konnte es dem Herrn Hauptkommissar Michel plötzlich nicht schnell genug gehen, und er hat mir einen Fall hingeknallt, den ich selbständig lösen soll. Voilà. Sozusagen mein persönlicher Testfall. Er meinte, das Gute an dem Fall sei, dass nichts schief gehen könne, falls ich irgendwie versage. Wenn ich es hingegen schaffte, dann bekäme ich einen festen Platz in seinem Team. Ist das nicht großartig?
Tanner hatte kein besonders gutes Gefühl dabei.
Ja, das klingt gut. Um was für eine Art Fall handelt es sich denn?
Sie verzog ihre Miene.
Die Sache hat einen Haken: Es ist ein ziemlich alter Fall. Ein ungelöster Mordfall, der sich vor nicht ganz dreißig Jahren ereignet hat.
Tanner verdrehte die Augen.
Ach nein? Und Sie sollen ihn jetzt aufklären? Da wünsch ich aber viel Vergnügen.
Sie hob theatralisch ihre Hände in die Luft.
Sie trauen mir wohl gar nichts zu, Tanner. Danke für die Blumen. Statt dass Sie mir Mut machen …
Ach, Lara, so meine ich das doch nicht. Ihnen traue ich übrigens alles zu.
Darauf lächelte sie kokett – und verdrehte dann aber gleich ihrerseits die Augen.
Äh … wie meinen Sie das jetzt? Was trauen Sie mir denn alles zu?
Tanner ließ sich nicht beirren.
Hören Sie mir zu: Ich weiß, wie es sich mit Fällen verhält, die vor vielen Jahren nicht aufzuklären waren. Was soll sich denn mit dieser zeitlichen Distanz vereinfacht haben? Dass vielleicht die eine Hälfte aller Zeugen schon tot ist und die andere sich an nichts mehr erinnert?
Nein, aber vielleicht haben die Kollegen damals aus weiß was für Gründen irgendetwas übersehen, zudem gibt es heute Methoden, die damals noch nicht zur Verfügung standen und so weiter und so weiter.
Sie schlug mit ihren Händen einen Trommelwirbel auf den Tisch, worauf sofort Bodmer erschien.
Haben Madame gerufen?
Sie lachte.
Nein, Madame haben nicht gerufen. Sie streitet sich mit Monsieur.
Bodmer machte ein zutiefst unglückliches Gesicht.
Das ist aber schade.
Er schickte Tanner einen vorwurfsvollen Blick zu. Dann wandte er sich wieder besorgt an sie.
Darf ich noch ein wenig Wein eingießen? Oder darf ich vielleicht doch noch ein Dessert bringen? Bei Ihrer Linie!
Bodmer illustrierte diese Linie mit einer Handbewegung, als handle es sich um einen Strich mit oben einem Knick.
Sie dürfen. Wein ja, aber nur ganz wenig. Ich muss noch autofahren. Dessert nein. Wollen Sie mich eigentlich mästen, oder was? Zuerst verkuppeln und dann noch mästen. Und was heißt hier eigentlich Linie? Sie sind mir ja einer … der redet von meiner Linie und zeigt eine Linie mit so einer Kurve. Sollte dieser Knick etwa meine Oberweite darstellen?
Sie machte seine Bewegung nach und übertrieb natürlich schamlos.
Alle lachten. Bodmer schenkte Wein nach. Tanner brachte sein Glas in Sicherheit.
Mir lieber noch einen Kaffee, Bodmer.
Wird gemacht.
Tanner schaute sie auffordernd an.
Jetzt sagen Sie mir wenigstens in groben Zügen, um was für einen Fall es sich handelt, bitte.
Sie lächelte.
Deswegen habe ich mich ja auch zu diesem Treffen überreden lassen, sehr geehrter Herr Kollege, denn ich brauche Ihren erfahrenen Rat.
Tanner schmunzelte, behielt aber die Erkenntnis für sich, dass er sie bei einer kleinen Verdrehung der Situation ertappt hatte. Sogar bei einer doppelten Verdrehung. Tatsache war, dass sie ja von dem Fall erst seit heute Nachmittag wusste, zudem hatte sie ihn ja zu diesem Treffen aufgefordert.
Aber was solls. Er lehnte sich zurück und konzentrierte sich auf den Fall, den sie ihm jetzt wortreich zu erzählen begann.
SECHS
Tanner erwachte mit demselben Gefühl der Beunruhigung, mit dem er eingeschlafen war.
Im Schlaf verwandelte sich dieses Unbehagen in ein zähes, klebriges Gespinst, das ihn ganz und gar umwickelt hatte, und er konnte sich noch so viel herumwälzen, es hielt ihn die ganze Nacht fest in seinem Griff. Erst ganz früh am Morgen schien es sich wie ein Nebel aufzulösen, und er konnte immerhin noch eine Weile tief und fest schlafen.
Nachdem Lara Wille bis weit über Mitternacht ihren Fall (es war natürlich bereits ihr Fall) referiert hatte, und er ihr ein paar Ratschläge hatte geben können – nämlich wie man am gescheitesten an so was nicht herangehen sollte –, bequemte sie sich dann endlich, mit der angekündigten Information über Jean D’Arcy herauszurücken. Das war ja immerhin die eigentliche Begründung ihres Treffens gewesen.
Zuerst einmal hatte sie den Sachverhalt seiner Verhaftung vor über fünf Jahren geprüft und bestätigt erhalten. Jean D’Arcy sei tatsächlich an einem kleinen Grenzübergang zwischen