Der Salamander. Urs Schaub

Der Salamander - Urs Schaub


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als sie es in Wirklichkeit waren. Aber erzähl weiter.

      Ja. Ich komme jetzt zu einigen Fakten. Der Karst hatte insge samt sieben Messerstiche. Zwei im Rücken und fünf in der Brust. Jeder der einzelnen Stiche wäre bereits lebensgefährlich gewesen. Zusammen aber waren sie tödlich. Er sei wohl ziemlich schnell verblutet. Der Tod musste mitten in der Nacht eingetreten sein oder am ganz frühen Morgen. Da gab es zwei verschiedene Gutachten. Meine Schwester hatte ihn ungefähr um acht Uhr morgens gefunden. Wir hatten ja Schulferien.

      Michel schaute ihn fragend an.

      He ja, sonst wären wir schon längst in der Schule gewesen.

      Aha. Ich verstehe. Und weiter?

      Die Polizei fand ein Testament. Karst hatte alles meinem Vater vermacht. Den Hof und das Land und ein bisschen Geld auf der Bank. Und Geld, das er schwarz auf dem Hof versteckt hatte. Dazu komme ich noch. Somit hatten meine Eltern ein Motiv. Zweitens hatten sie in den Papieren meines Vaters ein Dokument gefunden, das Blutspuren aufwies.

      Ja und?

      Die Polizei fand heraus, dass es Blut vom Karst war.

      Aha. Und auf dem Motiv und dem Blut bauten sie die Anklage auf. Verstehe. Oder gab es noch andere Hinweise?

      Meines Wissens nicht. Aber die beiden Dinge wogen schwer: das Testament und das Blut.

      Michel wiegte den Kopf.

      Hatte man die Tatwaffe gefunden?

      Nein. Das war ja das Übel. Keine Tatwaffe und keine fremden Fingerabdrücke. Es gab im ganzen Haus nur Karsts eigene Spuren und natürlich die von uns. Die von uns allen waren ja klar zu erwarten, denn wir alle waren tagtäglich in seinem Haus zugange.

      Michel nickte.

      Ja. Ich verstehe. Karst hatte nach deinen Aussagen keine Familie. Das heißt, es gab überhaupt keine Verwandten mehr, potenzielle Erben oder so? Ist eigentlich außergewöhnlich.

      Ja, aber es war offenbar genau so. Karst stand menschenseelenallein im Leben und hatte praktisch nur uns. Insofern war es ja auch logisch, dass er uns – quasi seiner Ersatzfamilie – alles vermachte.

      Ja, ich verstehe. Sind deine Eltern denn rechtsgültig verurteilt worden?

      Nein, nein. Sie sind dann nach langem Hin und Her mangels Beweisen wieder entlassen worden. Es gab keine Beweise. Es gab nur das Motiv und diese Blutspuren. Mein Vater erklärte die übrigens damit, dass sich Karst sehr oft beim Rasieren geschnitten hatte, was auch stimmte. Das sahen wir alle immer wieder.

      Michel guckte skeptisch.

      Doch, glaub mir. Du kennst doch das bei diesen alleinstehenden Männern auf dem Land. Sie rasieren sich alle zwei Wochen mehr recht als schlecht, haben kein gutes Messer, sind ungeschickt, verwenden vielleicht sogar nur kaltes Wasser und haben keinen guten Spiegel, von Rasierschaum ganz zu schweigen.

      Also gut. Karst rasiert sich ungeschickt, schneidet sich, das Blut tropft auf ein Dokument. Das Dokument wird unter den Sachen deines Vaters gefunden. Ja, das ist leider sehr ungeschickt. Hatte man denn eine genaue Vorstellung von der Tatwaffe?

      Stocker stutzte.

      Ja, ich meine, aufgrund der Wunden. Hatte die Polizei eine Vorstellung, was für eine Art Messer es hätte sein müssen? Ich meine diese Tatwaffe, die man nicht gefunden hatte.

      Ach ja, genau. Es hätte ein Messer mit einer ungewöhnlich breiten Klinge sein müssen. Und aufgrund der Wunden sogar zweischneidig. Bei meinem Vater fand man sicher das eine oder andere Messer, aber keines mit solch einer Klinge.

      Aha. Ein zweischneidiger Dolch mit breiter Klinge. Sogar ungewöhnlicher breiter Klinge, sagst du? Das gehört sicher weder damals noch heute zur Standardausrüstung eines Bauernhofes, das glaube ich gerne. Lässt ja auch schon Rückschlüsse auf ein bestimmtes Täterprofil zu.

      Den letzten Satz murmelte Michel mehr so vor sich hin.

      Was meinst du, Michel?

      Nichts. Nichts. Es ist eh zu früh für irgendwelche Rückschlüs se. Sag mal, Stocker, nichts für ungut, aber jetzt brauche ich noch mal ein Bier. Ich habe so einen Durst bekommen.

      Ja, ja. Ich bestell dir eins.

      Danke, Stocker. Sag mal, gab es denn überhaupt keine anderen Spuren oder Verdächtigungen in dem Fall?

      Doch, doch. Zuerst konzentrierte sich die Polizei wohl ausschließlich auf meine Eltern. Wir Kinder kriegten dann auch mal Besuch von einer Art Polizeitante, die uns befragte, aber natürlich ohne Resultat.

      Frau Stocker brachte das Bier für Michel. Und für ihren Mann eine Karaffe mit Wasser. Er schenkte sich ein.

      Zum Wohl, Michel.

      Sie hoben beide die Gläser.

      Zum Wohl, Stocker.

      Stocker räusperte sich.

      Plötzlich kamen ganz verrückte Gerüchte auf. Ich habe keine Ahnung, woher die kamen.

      Was für Gerüchte?

      Um das zu verstehen, muss ich dir von einer äh … wie soll ich das sagen? Ja, von einer Eigenart Karsts erzählen.

      Stocker nahm noch einmal einen großen Schluck Wasser.

      Stell dir ein mageres Männlein vor. Fast ein bisschen das Klischee eines – oder noch besser: die Karikatur eines armen Bäuerleins. Krumme, magere Beine, zerfurchtes Gesicht, verstrubbeltes graues Haar, zwei listige, kleine Äuglein. Meckerstimme, wie bei einer Ziege. Er rauchte gerne Villigerstumpen. Seine spitzige Nase war ziemlich rot – und nicht von der Kälte …

      Beide lachten.

      Klingt nicht grad nach einem sympathischen Zeitgenossen.

      Nein, nicht wirklich. Aber zu uns Kindern war er direkt – wie soll ich sagen – liebevoll. Ich glaube, er mochte uns. Wie auch immer – jetzt habe ich den Faden verloren …

      Du wolltest von Gerüchten erzählen.

      Ja, ja. Genau. Eben, er hatte eine Eigenart, von der jeder im ganzen Umkreis wusste. Er war neugierig.

      Na ja, neugierig sind wir alle, oder?

      Ja, aber bei ihm nahm es krankhafte Züge an. So weit wussten wir Kinder das natürlich nicht. Aber es muss wirklich massiv gewesen sein. Er war ja ganz allein. Weißt du, was er jahrelang als Lieblingsbeschäftigung an den langen Abenden in seiner Einsamkeit getrieben hat?

      Nein. Aber du wirst es mir gleich verraten, nehme ich an.

      Stocker grinste.

      Er hat die ganze Umgebung ausspioniert. Und zwar systematisch und beharrlich. Er ist Abend für Abend rumgeschlichen, hat in die Fenster geguckt, hat gelauscht, hat sich die Ställe, die Scheunen angeschaut. Er wusste einfach immer alles. Er muss auch aus all dem Gesehenen und Gehörten oft die richtigen Schlüsse gezogen haben – die er dann am Tag darauf frisch fröhlich in der ganzen Gegend rumerzählt hat.

      Ich sags ja: kein besonders sympathischer Zeitgenosse. Eine Art ländliche Sensationspresse, könnte man auch sagen.

      Ja, stimmt. Das ist mir noch gar nie eingefallen. Bei einer gewissen Presse hätte er vielleicht mit dieser Eigenart eine Menge Kohle machen können.

      Sie lachten beide.

      Item, er hat mit diesem Rumerzählen viel Unfrieden in die Gegend gebracht. Mein Vater hat ihm oft ins Gewissen geredet. Behauptet wenigstens meine Mutter. Aber ich nehme an, es war für ihn wie eine Sucht und eine Art Ausweg aus seiner Einsamkeit. Vieles war ja auch harmlos. Er wusste zum Beispiel genau, wie viel Heu jeder in der Scheune hatte, wie viel Milch die Kühe gaben und so weiter, aber er war halt auch immer der Erste, der wusste, wann wer mit wem Streit hatte, welche Ehe kurz vor dem Abgrund stand. Er wusste wohl auch von heimlichen Liebschaften – alles eben, was die Leute lieber versteckt oder vertuscht haben wollten, hatte er halt irgendwie mitbekommen und es nicht etwa für sich behalten.

      Michel hob sein leeres Glas in Richtung


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