Der Salamander. Urs Schaub

Der Salamander - Urs Schaub


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eher mit meiner, ähm … Lebenseinstellung zusammen. Zudem ist meine, äh … ganze Familie sehr katholisch, und ich – ich habe mich seit einiger Zeit davon losgesagt.

      Tanner nickte.

      Aha, ich verstehe.

      D’Arcy hob jetzt die Tasse mit beiden Händen an seine Lippen und trank sie in einem Zug leer. Tanner blickte auf seine Uhr.

      Herr D’Arcy, darf ich Sie zu einer kleinen Spazierfahrt einladen? Ich war seit über einem Jahr weg und hätte große Lust, ein bisschen übers Land zu fahren. Zudem will ich wissen, ob mein Auto überhaupt noch fährt.

      D’Arcy lächelte und machte wieder diese Andeutung einer Verbeugung.

      Ja, gut. Ich komme gerne mit. Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen. An dem Ort, von dem ich komme, habe ich oft davon geträumt, einfach übers Land zu fahren ohne Ziel und ohne Zeitdruck.

      Tanner nickte ernst.

      Diese Sehnsucht kann ich gut verstehen. Übrigens habe ich da noch einen sehr guten Mantel. Den können Sie sich gerne ausleihen, nicht dass Sie noch erfrieren.

      Tanner wartete gar keine Antwort ab, sondern ging den grauen Fischgratmantel aus einem Schrank im hintersten Zimmer seiner weitläufigen Wohnung holen.

      Als Tanner zurückkam, stand D’Arcy bereits unter der Wohnungstür. Tanner warf ihm den Mantel zu.

      Er müsste Ihnen eigentlich perfekt passen. Als ich ihn gekauft habe, war ich noch etwas schlanker. Kommen Sie, D’Arcy, kommen Sie.

      Tanner nahm zwei Treppen aufs Mal. Unten angekommen, ging er direkt zur Garage und öffnete die schweren Flügeltüren. Dann blickte er zum Haus.

      Kommen Sie, D’Arcy.

      D’Arcy stand im Mantel unschlüssig unter der Tür. Der Mantel war ihm zwar etwas zu groß, aber immerhin musste er jetzt nicht mehr frieren.

      Sie müssen die Tür nur hinter sich zuziehen.

      Tanner setzte sich in den Wagen und war gespannt, ob der Motor nach so langer Ruhezeit überhaupt anspringen würde. Er tat es ohne Probleme. Er fuhr den Wagen aus der Garage und bedeutete D’Arcy einzusteigen.

      Wir fahren durchs flache Land zwischen den Seen, wenns recht ist.

      D’Arcy lachte.

      Ob es recht ist, fragen Sie mich? Oh ja. Sehr sogar. Sie sind sehr großzügig zu mir, Herr Tanner.

      Dann wiederholte er dieses schöne, altmodische Dankeswort, das seine Großmutter bisweilen zu sagen pflegte.

      Schon waren sie aus dem Dorf heraus, am Schloss vorbei, das man zu dieser Jahreszeit sehr gut von der Straße aus sehen konnte, da all die alten Bäume kahl waren. Kurz darauf entschied sich Tanner für die Umfahrungsstraße um das Bezirksstädtchen.

      Sie schwiegen beide. Erst als sie die pfeilgerade Straße erreichten, die sie tief ins fruchtbare flache Land bringen würde, räusperte sich D’Arcy.

      Äh … das ist ein sehr schöner und bequemer Wagen, Herr Tanner. Einer meiner Onkel hatte auch so einen, vielleicht ein etwas älteres Modell. Aber auch mit diesen weichen Ledersitzen. Ich habe mir nie etwas aus Autos gemacht, müssen Sie wissen. Ich bin immer sehr gerne Fahrrad gefahren. Alles andere war mir irgendwie zu schnell. Wissen Sie, ich komme mit meinen Augen gar nicht mit.

      Tanner schaute ihn fragend an. D’Arcy lächelte.

      Ja, verstehen Sie, ich kann gar nicht so schnell schauen, wie man es beim Autofahren braucht. Oder vielleicht liegt es daran, dass ich nicht so schnell, äh … denken kann. Das war auch früher beim, äh … Sport so. Ich konnte die Bälle einfach nicht sehen. Meine Schulkameraden haben nie verstanden, äh … warum ich keine Bälle fangen konnte, dabei habe ich sie gar nicht gesehen, wenn sie geflogen kamen. So einfach war das. Ich habe sie nicht gesehen. Können Sie sich das, ähm vorstellen?

      Tanner nickte, sagte aber nichts. Er konnte es sich sogar sehr gut vorstellen. Vor allem den Spott, dem D’Arcy sicher ausgesetzt gewesen war. Kinder waren in der Hinsicht gnadenlos.

      Plötzlich kicherte D’Arcy.

      Beim Militär war es dann natürlich ein Glück. Nach drei Tagen hat man mich als unbrauchbar wieder nach Hause geschickt.

      Er korrigierte sich.

      Nein, nein. Das Wort war nicht unbrauchbar! Untauglich wurde das damals genannt. Genau: untauglich. Und meine Familie, äh … schämte sich. Sie müssen wissen, in meiner Familie ist man einfach nicht untauglich. In meiner Familie wimmelt es nur so von, ähm … Eichenlaub und goldenen Spaghetti um die, äh … Hüte.

      Er ließ seinen Finger um seinen Kopf kreisen.

      Dafür war ich gut in allem, was äh … Geduld erforderte. Laut meiner Mutter konnte ich schon mit vier Jahren Puzzles mit Hunderten von Teilen zusammensetzen.

      Tanner nickte bewundernd.

      Was haben Sie denn für einen Beruf gelernt, Herr D’Arcy?

      Uhrmacher. Ich habe Uhrmacher gelernt. Bei einem genialen, alten Meister …

      Seine Miene verdunkelte sich.

      … der leider nicht mehr lebt.

      Tanner wartete eine Weile. Aber D’Arcy schwieg.

      Erzählen Sie mir von Ihrem Meister?

      Er nickte, begann zögernd zu erzählen und kam dann immer mehr in Schwung.

      Als ich Aziz Haddad, so hieß er, kennenlernte, war er bereits ein älterer Mann, schlaksig bis hager, aber bei bester Gesundheit. Alle Welt nannte ihn Monsieur Adda. Er betonte immer, dass er sein Lebtag nie krank gewesen sei und dass er immer noch alle seine Zähne besitze und niemals ein Loch gehabt habe. Sein Vater sei Ringer gewesen, und auch er habe es in seiner Jugend ein wenig ausprobiert. Er führte gerne seinen starken Bizeps vor, der bei so einem schmächtigen Körper überraschte. Wenn er auf jemand eine Wut hatte oder sonst irgendwie schlecht gelaunt war, ging er in den Hof der Werkstatt und spaltete in kurzer Zeit einen riesigen Berg Holz. Ansonsten war er die Gutmütigkeit in Person, fast wie eine gütige Person oder eine Fee aus einem Märchen, wissen Sie.

      Tanner nickte.

      Am liebsten unterhielt er sich über das Uhrmacherwesen. Viele Leute hielten ihn für einen großen Gelehrten, dabei hatte er kaum eine Schulbildung. Er sagte immer: Es waren die Uhren, die mich alles gelehrt haben. Er war sicher einer der besten Uhrmacher weit und breit.

      Jean D’Arcy lächelte.

      Uhren waren für ihn Persönlichkeiten. Wie soll ich sagen? Ja, er behandelte Uhren, als ob sie lebendige Wesen wären. Er behandelte sie mit Ehrfurcht und Liebe. Brachte man ihm eine Uhr, die wirklich rettungslos defekt war, wurden seine Gesichtszüge ganz weich: Das Herz schlägt nicht mehr. Das Gehirn ist beschädigt, sagte er zum Beispiel, oder: Wie soll sie denn gehen, die arme, wenn beide Füße gebrochen sind.

      Unterdessen hatten sie das flache Land durchquert. Die Anhöhen des sanften Hügels, der den See säumte, waren zum Greifen nahe. Tanner entschied sich für die Route am See entlang.

      Tanner blickte kurz auf D’Arcys Gesicht. Er schien tief in Gedanken versunken. Er fragte sich einmal mehr, ob die Traurigkeit in den Augen D’Arcys vom Gefängnisaufenthalt kam oder ob es andere Gründe gab? Hatte er keine Frau, die auf ihn wartete? Was hatte er vor? Warum ist er ausgerechnet in dem kleinen Dorf am See ausgestiegen?

      Unvermittelt schaute D’Arcy auf.

      Darf ich Sie etwas fragen, Herr Tanner? Ja, sicher. Fragen Sie.

      Ich meine, äh … etwas, äh … Persönliches, verstehen Sie?

      Ja, fragen Sie halt. Wir sehen ja dann, ob ich in der Lage bin zu antworten.

      Gut.

      Glauben Sie an Gott?

      Tanner lächelte und lehnte sich zurück.

      Nein, ich glaube nicht


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