Der Salamander. Urs Schaub
schüttelte sich.
Ich mags mir gar nicht vorstellen.
Dann lehnte er sich behaglich zurück.
Gut, ich meine, Strafe muss ja sein. Heute wird ja Gott sei Dank nichts mehr abgehackt oder so. Sogar Schwerverbrecher werden doch fair behandelt. Ich hatte letzthin Gelegenheit, ein Gefängnis zu besuchen. Das hatte ja schon beinahe Hotelcharakter.
Er nickte anerkennend.
Betten mit Qualitätsmatratzen. Mit genau so vielen Fernsehprogrammen, wie wir zuhause auch haben. Also, da kann man sich wirklich nicht beklagen. Gut. Die müssen dann ein paar Stunden in der Schreinerei arbeiten oder so, aber das ist doch zumutbar, oder?
Er drehte nervös an seiner Zigarre.
Irgendwie muss man doch die Verantwortung übernehmen für das, was man gemacht hat. Man kann die Leute, die sich nicht an die Gesetze halten, nicht auch noch belohnen. Und wir haben ja doch eigentlich vernünftige Gesetze. Wir sind ja keine Barbaren.
Er wandte sich direkt an den jungen Mann.
Wenn Sie sich etwas eingebrockt haben, dann müssen Sie es in Gottes Namen auch wieder auslöffeln. Sie sind ja noch jung und können ab jetzt ein sauberes Leben führen.
Jetzt meldete sich der junge Mann schüchtern zu Wort.
Aber ich kann Ihnen versichern, dass, äh …, dass ich gar nichts, äh … also gar nichts gemacht habe.
Jetzt lächelte Stauber milde.
Ja, ja, das habe ich auch schon gehört. Alle sitzen unschuldig im Knast.
Er nickte, sprach mehr zu sich selber und verdrehte dabei die Augen.
Die Gesellschaft ist schuld. Meine Eltern sind schuld. Die Umstände sind schuld. Ich wurde im Kindergarten von den anderen Kindern ganz schlimm behandelt. Also ich – ich kann eigentlich gar nichts dafür.
Tanner wandte sich an Stauber. Langsam ging er ihm auf die Nerven.
Herr Stauber, Sie haben ja sicher recht, so im Allgemeinen. Aber jetzt ist gut. Der junge Mann hat freiwillig und sehr offen erzählt, dass er fünf Jahre lang in Spanien im Gefängnis gewesen ist und dass er unschuldig gesessen hat. Wir haben keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. Abgesehen davon …
Jetzt stand der junge Mann auf.
Streiten Sie bitte nicht meinetwegen, meine Herren. Das bin ich ja gar nicht, äh … also, ich meine, das bin ich nicht wert.
Zu Tanner gewandt.
Und der Herr hat recht, alle, die ich im, äh … im Gefängnis angetroffen habe, sind, äh … unschuldig, und sie beteuern es unentwegt. Ständig. Keiner hat je zugegeben, äh …, also, das habe ich gemacht, ähm … also muss ich jetzt büssen.
Jetzt lachte Stauber, stand ebenfalls auf, wandte sich an Tanner und zeigte mit der Zigarre auf den jungen Mann, als wollte er ihn aufspießen.
Na, na, sehen Sie! Er gibt es ja selbst zu. Also nur keine Aufregung.
Er wandte sich an den jungen Mann.
Okay, Sie saßen fünf Jahre unschuldig in Spanien in einem Gefängnis. Ist gut. Ich habe es verstanden. Entschuldigen Sie meine Bemerkung. Trinken Sie also auf meine Rechnung einen Kaffee, bitte.
Er wandte sich an Bodmer, der gerade mit einem Tablett mit dampfendem Teller und Schüsseln hereinkam.
Bodmer! Bringen Sie bitte dem jungen Mann einen Kaffee und ein Glas Cognac auf meine Rechnung.
Bodmer nickte, aber der junge Mann hob flehend die Hände.
Den Kaffee nehme ich gerne, aber Alkohol trinke ich keinen, bitte. Vielen Dank für die Einladung.
Gut, Bodmer, dann einen Cognac für mich und einen Kaffee für den jungen Mann.
Bodmer nickte und servierte Tanner Schweinefilet mit Speck und gedörrten Zwetschgen. Als Beilage Kartoffelgratin und Rosenkohl. Alle setzten sich wieder, und man wünschte Tanner einen guten Appetit.
Er begann zu essen. Die anderen schwiegen. Zwischendurch kam Bodmer und brachte den beiden ihren Kaffee.
Das Essen war ausgezeichnet und nach dem sich die allgemeine Atmosphäre wieder entspannt hatte, konnte Tanner die köstlich zubereiteten Speisen auch richtig genießen.
Als er zu Ende war, sich den Mund wischte und aus der Karaffe den Rest seines Weins ins Glas goss, entzündete Stauber zeitgleich ein Streichholz. Er hatte offensichtlich auf diesen Moment gelauert, hielt aber noch einmal inne, bevor er die Zigarre anzündete.
Ich darf doch jetzt? Oder gibt es irgendwelche Einwände?
Tanner machte eine einladende Geste mit der Hand, und der junge Mann nickte eifrig.
Na, da habe ich aber noch einmal Glück gehabt.
Jetzt hielt er das brennende Streichholz an die Spitze der Zigarre und zog so heftig daran, dass man das Knistern des brennenden Tabaks hören konnte.
Dann kam Bodmer, erkundigte sich bei Tanner, ob es geschmeckt hatte, und brachte eine gebrannte Creme mit Schlagsahne zum Dessert. Tanner bestellte einen Kaffee dazu.
Der junge Mann nestelte in seiner Jacke, brachte ein schmales Wachsbüchlein zum Vorschein und begann darin zu blättern. Offensichtlich suchte er eine bestimmte Stelle, und als er sie gefunden hatte, legte er den Finger darauf und blickte in die Runde.
Darf ich Ihnen kurz etwas vorlesen? Ich habe im Gefängnis versucht, ähm … alles aufzuschreiben, was ich im Laufe meines Lebens an, äh … schönen Gedanken, äh … gehört oder gelesen hatte. Verstehen Sie, aus meinem Gedächtnis. Vielleicht habe ich mich nicht in jedem Fall an alle Wörter korrekt erinnern können, aber … ähm …
Er zuckte mit den Schultern. Tanner lächelte ihm zu.
Ja, sicher, sehr gerne. Wir sind gespannt.
Auch Stauber nickte und blickte den jungen Mann erwartungsvoll an.
Also, hören Sie.
Er nahm das Büchlein in beide Hände. Dann las er mit leiser Stimme.
Ich hatte einen Traum, und es war nicht nur ein Traum. Die helle Sonne war erloschen, und die Sterne zogen verglimmend im ewigen Raum dahin.
Er richtete sich auf und schaute zu den beiden anderen.
Wissen Sie, wer das geschrieben hat?
Tanner schüttelte den Kopf.
Nein, aber es ist schön. Schrecklich traurig zwar, aber schön. Eine Art Endzeitstimmung.
Stauber hatte sich verschluckt und hustete.
Byron hat das geschrieben. Anfang Neunzehntes Jahrhundert.
Stauber hatte sich wieder beruhigt.
Die Sonne ist verschwunden und die Sterne? Wo und wann soll denn das gewesen sein?
Er lachte.
Wir haben zum Glück bloß ein Sauwetter, das ist auch alles.
Er schüttelte den Kopf.
So ein Unsinn!
Der junge Mann hob beschwichtigend seine Hände.
Erlauben Sie mir zu sagen, dass es persönliche Katastrophen gibt und solche, die die ganze Menschheit betreffen. Byron beschrieb eine objektive Situation in der Welt.
Wann soll denn die Sonne erloschen sein? Vielleicht als Sie ganz und gar unschuldig im Gefängnis hockten und den Staat eine Stange Geld gekostet haben.
Der junge Mann blieb geduldig und antwortete mit leiser Stimme?
Sie haben ganz recht. Deswegen habe ich diesen Text auch in mein kleines Büchlein geschrieben, denn zeitweise fühlte ich mich genauso. Sie haben das ganz genau verstanden. Aber Byron, äh … hatte eine wirkliche, äh … Angst beschrieben.
Aha? Ja,