Der Salamander. Urs Schaub
Bahnhof. Die haben auch Zimmer.
Tanner stand auf und zeigte den Gleisen entlang.
Das Haus kann man heute wegen des dichten Nebels nicht sehen, aber wenn sie zweihundert Meter in diese Richtung gehen, werden Sie das Restaurant sofort erblicken.
Der Mann nickte freudig und machte die Andeutung einer Verbeugung.
Danke vielmals für die Auskunft. Kommen Sie, äh … auch aus dem Ausland?
Ja, ich komme soeben aus dem Ausland, aber ich war ganz im Norden, da war es auch kalt. Und Sie? Aus welchem warmen Land kommen Sie?
Der Mann lächelte und machte noch einmal diese etwas altmodisch anmutende Andeutung einer Verbeugung, drehte sich um und ging in die Richtung, die Tanner ihm gezeigt hatte. Die Frage hatte er entweder nicht verstanden oder einfach überhört. Nach wenigen Schritten schluckte der Nebel seine schmale Gestalt.
Tanner zuckte mit Schultern.
Er nahm Buch und Tasche und ging in die andere Richtung, die Straße hinauf.
Oben im Dorf war der Nebel etwas weniger dicht, aber die Stimmung war genau so trostlos. Er sah kein einziges Lebewesen, weder Mensch noch Tier. Das Dorf lag wie ausgestorben. Bald erblickte er das mächtige Dach des Maison Blanche. Er beschleunigte seine Schritte. Jetzt freute er sich doch, nach Hause zu kommen.
Er öffnete das schwere Tor zur Einfahrt. Der Brunnen plätscherte wie eh und je.
Er blickte sich um.
Alles war genau so, wie er das Haus verlassen hatte. Kaum zu glauben, dass er so lange weg gewesen war. Die gleiche Jahreszeit. Derselbe Zustand der Vegetation. Die Bäume kahl. Der Himmel grau. Der See wahrscheinlich auch. Wie Blei. Zu sehen war er nicht. Alles lag still. Ohne das Geräusch des fließenden Wassers hätte man mit Fug und Recht von einer Totenstille sprechen können.
Wie aus Trotz näherte sich im nächsten Augenblick ein Traktor und fuhr mit knatterndem Motor vorbei. Ein Mann, den Hut tief ins Gesicht gezogen, saß zusammengekauert und offensichtlich frierend auf dem altertümlichen Gefährt. Der Klang verlor sich überraschend schnell in der Ferne.
Als es wieder ganz still war, ging Tanner zur Haustür. Seine Schuhe knirschten auf dem Kies. In seiner Wohnung angekommen, zog er die Schuhe aus, den Mantel nicht, legte sich im Wohnzimmer aufs Sofa und schlief sofort ein.
EINS
Als er wieder aufwachte, fror er, und draußen war es bereits stockdunkel. Er tappte durch die Wohnung, schaltete die Heizung ein (das hatte er heute Morgen vergessen) und ging mit Todesverachtung unter die kalte Dusche, denn das warme Wasser hing mit der Heizung zusammen. Immerhin war ihm danach nicht mehr kalt.
Nachdem er sich frische Kleider angezogen hatte, beschloss er, ins Restaurant zu gehen. Sein Kühlschrank war leer. Außerdem hatte er kein Brot im Haus, und ein Essen ohne Brot war kein Essen.
Erst als er bereits auf der Straße war, gestand er sich ein, dass ihn in Wahrheit einzig und allein die Neugier nach dem Verbleib des jungen Mannes trieb, dem er heute Morgen den Rat gegeben hatte, sich ein Zimmer im Bahnhofsrestaurant zu nehmen. Er lächelte zufrieden und schritt kräftig aus.
Diesmal war er nicht allein auf der Straße. Auf der Höhe von Friedhof und Kirche traf er sogar auf einige Grüppchen von Menschen, die offenbar alle der Kirche zustrebten. Er nickte höflich, obwohl er niemanden speziell kannte, oder wenn, dann nur vom Sehen. Aber schließlich herrschte hier auf dem Lande die schöne Sitte, sich zu grüßen, auch wenn man sich nicht kannte. Dann bemerkte er, dass auf dem ganzen Friedhof kleine Lichter brannten. Er begriff, dass heute Allerseelen war und dass die Leute ihrer Toten gedachten. Der Nebel verwandelte die Lichter in kleine Wölkchen, die in Bodennähe schwebten.
Er vergrub fröstelnd seine Hände noch tiefer in seinem Mantel.
Beim Bahnhof war der Nebel immer noch genauso dicht wie heute Morgen. Kein Wunder, denn die Bahngleise befanden sich praktisch auf Seeniveau.
Die paar schiefen Straßenlichter, drei erleuchtete Weichenlaternen und einige farbige Eisenbahnsignallampen verwandel ten die Trostlosigkeit des Bahnhofs in ein surreales Bühnenbild von bestechender Schönheit.
Tanner bestaunte eine Weile diese Komposition, dann betrat er das Restaurant.
Kam man von der Straßenseite her, betrat der Gast zuerst eine dunkle, meist vollgequalmte Schankstube mit einigen altmodischen Wirtshaustischen auf schweren Eisenfüßen, mit robusten Stühlen, auf denen es sich gut stundenlang verweilen ließ. Die Stammgäste waren meist Arbeiter aus dem kleinen Gewerbequartier, das sich direkt hinter dem Bahnhof wie eine Flechte willkürlich wuchernd ausgebreitet hatte, und natürlich saß hier zu jeder Tages- oder Abendzeit eine Auswahl der obligaten Gelegenheitssäufer, meist Pensionierte, die endlose Stunden vor ihrem Wein oder ihrem Kaffee mit Schnaps verbrachten.
Als Tanner eintrat, verstummte die Runde keineswegs, nur Bodmer, der Wirt, erhob sich sofort zur Begrüßung und wies ihm den Weg in den gepflegteren, helleren Teil des Restaurants, wo man üblicherweise aß. Überdurchschnittlich gut aß, denn Frau Bodmer war eine ausgezeichnete Köchin. Normalerweise war es in der Gegend umgekehrt: der Mann war der Chef in der Küche, und die Frau war für die Gaststube zuständig. Auch in dieser Hinsicht war dieses Restaurant eine Ausnahmeerscheinung. Im Sommer saß man draußen unter einem herrlich schattigen Birnenspalier. Um einen schöneren zu finden, müsste man weit in der Weltgeschichte herumreisen, pflegte Bodmer stolz zu sagen. Und er hatte recht.
In der Gaststube saßen bereits zwei Männer, jeder für sich an einem Tisch. Den einen erkannte er sofort an seinen dichten blonden Haaren, obwohl er mit dem Rücken zum Eingang saß. Es war der junge Mann, der ihn heute Morgen nach einer Unterkunft gefragt hatte. Den anderen – offenkundig ein Geschäftsmann auf Durchreise –, mit schmalem Gesicht und in einen tadellos sitzenden Anzug gekleidet, kannte er nicht. Der Geschäftsmann hatte wohl schon gegessen, denn er saß vor einem Kaffee und zündete sich gerade eine Zigarre an. Der junge Mann, der am Fenster saß, wartete auf sein Essen und kaute eifrig an einem Stück Brot, was es in diesem Restaurant für jeden Gast reichlich gab.
Bodmer führte Tanner zu einem Tisch in der Ecke. Er setzte sich so, dass er den jungen Mann im Blickfeld hatte und den genussvoll rauchenden Mann halb schräg in seinem Rücken. In diesem Moment bemerkte der junge Mann den neuen Gast, erkannte ihn, lächelte mit vollem Mund und hob seine Linke zum Gruß. Mit seiner Rechten hatte er sich gerade ein neues Stück Brot geangelt.
Tanner grüßte zurück. Bodmer hielt ihm unterdessen die umfangreiche, in Leder gebundene Karte hin. Tanner lehnte lächelnd ab.
Ich esse das, was auf den Tisch kommt. Richten Sie Ihrer Frau einen lieben Gruß aus. Sie können ja sagen, Tanner sei zurück, und er habe großen Hunger.
Bodmer lachte.
Wie groß?
Bärenmäßig. Ich habe praktisch zwei Tage lang nichts Anständiges gegessen.
Gut. Ich verstehe. Und zum Trinken?
Tanner gab seine Bestellung auf, und Bodmer verschwand in Richtung Küche.
Der Mann hinter ihm räusperte sich.
Ja, so was kann man hier machen. Ich meine, essen, was auf den Tisch kommt.
Er wiegte seinen Oberkörper nach vorn, lachte kurz auf und wurde von einem heftigen Hustenanfall gepackt. Die brennende Zigarre fiel ihm aus der Hand. Als er sich nach ihr bückte, entwickelte sich der Husten zu einem Erstickungsanfall. Der junge Mann sprang auf, hob die Zigarre vom Boden auf und legte sie in den Aschenbecher.
Der Hustende dankte gestikulierend und rettete sich, in dem er die halbe Karaffe Wasser austrank, die auf seinem Tisch stand.
Danke. Danke, junger Mann. Das war sehr aufmerksam. Oje, oje!
Er schnäuzte sich kräftig und wandte sich dann wieder Tanner zu.
Gestatten Sie, mein Name ist Stauber. René Stauber. Das nenne ich persönliche Kundenbindung. In der Stadt können Sie das ja vergessen. Da lob ich mir die Landbeiz.
Da