Der Salamander. Urs Schaub
erhob sich kurz.
Sehr angenehm, Herr Tanner.
Tanner wandte sich dem jungen Mann zu.
Ich hoffe, Sie sind zufrieden mit ihrer Unterkunft.
Ja, ja. Sehr. Ich bedanke mich noch einmal für, hm … die gute Auskunft.
Stauber stutzte.
Aha. Man kennt sich?
Tanner wandte sich um.
Wir sind uns bloß heute Morgen auf dem Bahnhof begegnet.
In diesem Augenblick trat Bodmer ein und brachte das Essen für den jungen Mann. Er hatte Rösti mit Bauernbratwurst und brauner Zwiebelsauce bestellt.
Der junge Mann packte sofort Gabel und Messer und stürzte sich heißhungrig auf sein Essen. Auch Tanner lief das Wasser im Mund zusammen.
Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit.
Danke sehr.
Der junge Mann lächelte zwar, aber seine dunklen Augen blieben ernst und bedrückt. Tanner überlegte, wie er mit ihm ins Gespräch kommen konnte.
Vorerst wollte er ihn aber in Ruhe essen lassen und schaute durch das Fenster in die dunkle Nacht. Der Nebel hatte sich offenbar etwas gelichtet, und man konnte immerhin bis zum Bahnhof sehen.
Der junge Mann räusperte sich, wischte sich den Mund ab und trank Wasser. Tanner blickte zu ihm hin. Dabei bemerkte er erst jetzt, dass er auch hier den etwas schäbigen Koffer mit dabei hatte, den er am Bahnhof mit seinen Armen so innig umklam mert hatte. Jetzt hielt er den Koffer unter dem Tisch zwischen seinen Beinen eingeklemmt.
War es eine Art zwanghafte Marotte (schonendes Anhalten …?) oder enthielt der Koffer tatsächlich etwas so Wertvolles, dass der junge Mann ihn keinen Augenblick allein lassen wollte? Nicht einmal in seinem Zimmer, das man abschließen konnte? Der Zimmerschlüssel lag sichtbar auf dem Tisch.
In diesem Augenblick erhob sich der Mann, der sich als René Stauber vorgestellt hatte, und ging in Richtung Toilette. Tanner guckte ihm nach, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Dann traf sich sein Blick mit demjenigen des jungen Mannes.
Haben Sie eine weite Reise hinter sich? Sie haben mir am Bahnhof angedeutet, dass Sie direkt aus dem Ausland angereist waren, wo es offenbar weniger kalt war als hier.
Ja, ja. Das stimmt.
Er trank einen Schluck aus seinem Wasserglas.
Ich komme, äh … direkt aus dem Süden, hm … Spanien. Da war es natürlich auch nicht, äh … Sommer, aber bedeutend wärmer als hier war es schon. Ja, äh … wärmer. Und äh …
Bodmer kam mit Wein und Wasser, einem dampfenden Teller und einem großen Korb Brot. Er balancierte lachend das schwere Tablett zu Tanners Tisch. Der junge Mann wandte seine Aufmerksamkeit sofort wieder seinem Teller zu.
So. Schöne Grüße von der Chefin. Zufällig gibt es heute gerade Linsensuppe, und damit sollen Sie herzlich begrüßt sein.
Er lachte spitzbübisch.
Sie wissen ja … der verlorene Sohn und so. Sie waren ja eine Ewigkeit nicht mehr hier.
Tanner bedankte sich und sog den köstlichen Duft der Suppe ein.
Oh, die riecht fantastisch. Sagen Sie Ihrer Frau vielen Dank für die kluge Wahl.
Tanner sah, dass der junge Mann mit seiner Portion eben fertig wurde – was erstaunlich war, denn die Portionen waren hier großzügig –, die Reste der Sauce mit einem Stück Brot auftunkte und geradezu sehnsüchtig in Richtung Tanners Linsensuppe blickte.
Äh … Bodmer. Bringen Sie doch dem jungen Herrn auch einen Teller von dieser köstlichen Suppe. Auf meine Rechnung, bitte. Und ein Glas vom selben Wein.
Der junge Mann blickte sofort verwirrt auf den Tisch. Tanner hob beruhigend seine Hand.
Nehmen Sie bitte meine Einladung an. Ich hatte eben den Eindruck, dass Sie vielleicht noch hungrig sind. Schließlich sind wir heute Morgen beide von einer weiten Reise zurückgekommen.
Der junge Mann stand auf und verbeugte sich leicht. Genauso hatte er es auch schon auf dem Bahnhof gemacht.
Vielen Dank für die freundliche Einladung. Die Suppe nehme ich gerne an. Vergelts Gott. Aber Wein trinke ich nicht. Vielen Dank trotzdem. Ich bleibe lieber bei Wasser.
Bodmer nickte und ging in die Küche.
Vergelts Gott?
Diesen Ausdruck hatte Tanner zuletzt von seiner Großmutter gehört. Und das war jetzt schon eine gute Weile her. Aus dem Mund eines jungen Mannes klang es doch ziemlich fremdartig.
Die Tür ging wieder auf, und Bodmer brachte die zweite Suppe. Bodmer und Tanner wünschten gleichzeitig guten Appetit, und der junge Mann bedankte sich noch einmal. Eine Weile durchbrachen nur die Löffel, die an den Rand des Tellers stießen, die Stille.
Jetzt kam Stauber zurück. Die Zigarre hatte er offenbar auf der Toilette zu Ende geraucht und auch dort entsorgt. Er rieb sich die Hände und rief Bodmer, der auch sofort den Kopf durch die Tür streckte.
So. Jetzt leiste ich mir einen guten Cognac. Irgendetwas muss man ja gegen dieses Sauwetter unternehmen.
Bodmer nickte und verschwand wieder.
Stauber packte noch stehend eine neue Zigarre aus, verzichtete aber darauf, sie anzuzünden, denn es war ihm offensichtlich ein missbilligender Blick Tanners aufgefallen. Er seufzte und ließ sich auf den Stuhl fallen.
Aha. Der junge Mann fängt noch einmal von vorne an.
Tanner drehte sich um.
Das ist sehr zuvorkommend, Herr Stauber, dass Sie mit der Zigarre warten, bis wir mit dem Essen fertig sind. Der Geruch passt nicht so gut zu dem ausgezeichneten Essen.
Ist schon gut. Ich werde sie später rauchen, wenn es den Herren genehm ist.
Vielen Dank.
Der junge Mann war mit der Suppe schneller zu Ende als Tanner.
Vielen Dank, äh … die Suppe war wirklich köstlich. Ich habe schon lange nicht mehr so gut, hm … gege … gegessen.
Dann ist es ja gut. Waren Sie denn lange in Spanien? Ich meine, in Spanien kann man doch auch sehr gut essen, oder?
Ja, selbstverständlich, äh … Sie haben vollkommen Recht, hm … aber Sie müssen wissen, dass ich dort fünf Jahre im, äh … Gefängnis, äh … war, ja … im Gefängnis.
Der junge Mann lächelte dabei freundlich, als er dies ganz offen und treuherzig erzählte.
Und wissen Sie, im Gefängnis war das Essen eher ein, äh … eine Art hm …, also auf jeden Fall nicht sehr gut, wie Sie sich vielleicht vorstellen können.
Tanner schenkte sich ein Glas Wein ein und gab sich Mühe, es sich nicht vorzustellen. Er hatte vor längerer Zeit Gefängnisse in Marokko gesehen und auch im Süden von Spanien. Das waren Paradiese für Kakerlaken, aber keine Orte für Menschen.
Dann sind Sie sicher froh, dass Sie das überstanden haben.
Ja, ja, sehr froh. Natürlich. Obwohl jede Erfahrung, ähm … auch etwas, äh … Gutes hat.
Hat man Sie also auch gut behandelt?
Der junge Mann lächelte scheu und blieb stumm, als ob er sich das für einen Moment überlegen müsste. Tanner schwieg und schaute kurz zu Stauber zurück, der interessiert dem Gespräch gefolgt war.
Nein, das kann man so nicht sagen.
Tanner blickte wieder zum jungen Mann, hatte ihn aber nicht verstanden.
Ja, äh … Sie haben mich doch gefragt, ob ich auch gut behandelt wurde. Und ich habe gesagt: Nein, das kann man so nicht sagen.
Jetzt meldete sich Stauber zu Wort.
Ja,