Die Bargada / Dorf an der Grenze. Aline Valangin
zwischen der Hausmutter und ihrer Schwägerin, zwischen dieser und ihrer Nichte weiter und giftiger, weil das, was sich einst in der breiten Schicht vieler abspielen konnte, nun auf ein paar Vereinzelte beschränkt war. Die Möglichkeit, sich in Gruppen zu verbinden und in gemeinsamem Erleben Erleichterung zu finden, fiel dahin. Wollte Orsanna sich nicht zur alten Giulia schlagen, blieb diese allein, das Los der ledigen Arminifrauen zu tragen, das kein freundliches war: bedingungslos sich der fremden Meistersfrau beugen und arbeiten, nicht anders als ein Knecht. Sie bäumte sich dagegen auf, rüttelte daran wie ein Tier an den Stäben seines Käfigs. Es half ihr wenig. Die alte Ordnung der Dinge stand fest.
Auch daß Tomaso sich nicht mehr vor einer Schar Frauen zu hüten hatte, wie es seinem Vater noch beschieden gewesen war, und er es daher wagte, offen zu Detta zu stehen, verbitterte Giulia. Ihr Groll gegen die Frau des Bruders, die immer die stärkere war, der sie auch mit geheimem Tun nichts anhaben konnte, da Dettas ruhige Gemütsart sie gegen die Praktiken der Arminifrauen zu schützen schien, ihr Groll, der keinen Ausweg fand, wuchs zu einem dichten Haß aus. Doch hütete sie sich, ihn deutlich zu zeigen. Sie fürchtete ihren Bruder, der sie unsanft in ihre Schranken wies, so oft sie einen Anlauf nahm, Detta zu verdrängen und sich einen bessern Platz zu erobern. Er hatte sie aus dem großen Hause in ein Nebengebäude verwiesen, wo sie nun für sich hauste. Nur die Arbeit brachte sie mit den andern zusammen. Sie besorgte den Stall, fütterte, mistete und molk, zog die Kälber auf und machte die Butter. Da Detta sich im Haus und Garten beschäftigte und Orsanna mit dem Vater und den Taglöhnern aufs Feld zog, kamen sich die Frauen wenig ins Gehege, und es gab kaum mehr Lärm auf der Bargada.
Erst als Bernardo dem engsten mütterlichen Schutz entwuchs, loderte noch einmal die alte Lust an lautem Streit auf. Detta zitterte um ihren Knaben, der ihr so spät und nach so viel Kummer um andere Kinder geschenkt worden war. Sie fühlte sich so innig mit ihm verbunden, daß sie ihn am liebsten in sich beschlossen gehalten hätte. Auch Bernardo hing mit stiller Leidenschaft an seiner Mutter, ganz ihr zugekehrt. Er genoß es noch als großer Bub, von ihr herumgetragen zu werden oder still auf ihrem Schoß zu sitzen, über die runden Knöpfe ihrer Jacke fingernd seinen Kopf an ihre Brust zu pressen, die im Atmen sich ihm entgegenhob oder entsank, und den Geruch ihrer Kleider, ihrer Haare und ihrer Haut vorsichtig prüfend einzuziehen. Die besondere, ausschließende Liebe zwischen Detta und dem Kind kam für die andern fast einer Beleidigung gleich. Giulia faßte es so auf. Sie benützte die ersten Anzeichen, als dem Bub die Lust erstand, über seine Mutter hinaus mehr von der Welt zu erfahren, um ihn Detta abzulisten. Oft verschwand sie mit ihm auf Stunden, worüber Detta in Zorn geriet und sich bis zu Tätlichkeiten hinreißen ließ, wenn die Alte mit scheinheiliger Miene das Kind, das nach solchen Ausflügen auf seltsame Art ungebärdig und verstört war, wieder ablieferte. Sie behauptete, Giulia erzähle dem Kleinen furchterregende Geschichten oder nehme mit ihm Gott weiß was für Dinge vor, um ihn an sich zu fesseln. Täte sie nichts Unerlaubtes, warum wäre der Bub so verändert, wenn er von ihr nach Hause zurückkehrte? Aber auch Orsanna versuchte, den Kleinen zwischen den beiden Streitenden für sich herauszufischen und seine Zuneigung zu gewinnen. Sie tat es auf ihre Art, gab ihm verbotene Schleckereien zu essen und redete ihm ein, nur sie liebe ihn, nur von ihr könne er alles haben, was er sich wünsche. Sie erhitzte sich selbst an ihren Worten, so daß sie plötzlich das Kind an sich riß und mit Küssen fast erstickte, worüber Bernardo in Zetergeschrei ausbrach, sobald er Luft bekam, und mit den Fäusten auf die große Schwester einhämmerte, bis eine der andern Frauen ihm zu Hilfe eilte und ihn der Heftigen entriß. Der Zank hörte nicht auf. Hier nun zeigte sich, daß Tomaso, im Gegensatz zu den frühern Armini, welche nie in die Erziehung der Kinder eingriffen, es sei denn zum Strafen, gesonnen war, dem Wesen ein Ende zu setzen, indem er den Knaben den Frauen entzog und an sich band. Er nahm ihn mit zur Arbeit, unterhielt sich mit ihm in lehrhafter, etwas steifer Art und überwachte seine Spiele. Bernardo, stolz, zu den Männern gezählt zu werden, schloß sich dem Vater gerne an. So verlief der Streit, den die Frauen um den Knaben auszufechten bereits begonnen hatten, frühzeitig im Sand, und das Leben auf der Bargada ging seinen Gang weiter. Vielleicht, daß die Schulzeit des Jungen noch Anlaß zu Aufregung gab. Wie jeder Armini, hatte auch Tomaso gehofft, es werde dem Sohn glücken, ein einfaches und gutes Einvernehmen zu seinen Kameraden zu finden. Er irrte sich. Gerade Bernardo, so schien es, traf auf besondern Widerstand der Dorfjugend. Er kam oft beschmutzt, mit zerrissenen Kleidern nach Hause. Die Buben hätten sich auf ihn geworfen und so zugerichtet. Daß sie ihm offenen Kampf ansagten, war nicht das Schlimme, fand Tomaso, schlimmer war, daß sie, nach des Buben weinerlichem Bericht, hinter ihm her lachten und beschimpfende Andeutungen über sein Haus, seine Familie, seine Mutter fallen ließen, die das Kindergemüt verwirren und verletzen mußten. Es waren die alten, dummen Geschichten von Spuk und Zauberei, die nicht verstummen wollten.
Doch sah Tomaso ein, es lag auch an dem Buben selbst, daß sich das Verhältnis nicht bessern konnte. Er zeigte kein Verlangen, sich unter die andern zu mischen. Sein Sinn war nicht darauf gerichtet, mit den Buben zu spielen, sich herumzutreiben, den Mädchen aufzulauern und sie mit Schabernack zu verfolgen oder Tiere zu plagen, ein Hauptvergnügen der Schuljugend. Noch weniger lockten ihn ihre kleinen Geschäfte mit Taschenmessern, Bleistiften und Briefmarken. Höchstens, daß er Glasmarmeln eintauschte. Glasmarmeln hatten es ihm angetan. Um ein schönes Stück zu ergattern, gab er dafür, was ihm abverlangt wurde: Äpfel und Süßigkeiten, Federkasten mit Inhalt, Teile seiner Kleidung, trotzdem er deswegen Schelte zu gewärtigen hatte. Er verteilte die Glaskugeln je nach ihrem Aussehen in verschiedene Täschchen, die Detta ihm nähte: die gestreiften zusammen, die geflammten, die spiraligen, die bunten und die einfarbigen. Die schönste von allen war groß, hellbraun, halb durchsichtig. Darin schwammen goldene Funken. Bernardo hielt sie sich gerne nah vors Auge und starrte hinein, bis ihm schwindlig wurde und er glaubte, die goldenen Funken im eigenen Auge stieben zu spüren. Nie ließ er sie von jemandem anrühren.
War er nicht ums Haus herum mit seinen Marmeln beschäftigt, konnte man sicher sein, ihn bäuchlings auf einer Bank oder Mauer liegend zu finden, die Ellenbogen aufgestützt und den Kopf mit dem braunen Haar über ein Buch gebeugt. Er las. Er las alles, was er fand. Sein Schulbuch wußte er auswendig. Die spärliche Schulbibliothek bot ihm nichts Neues mehr. So hatte er sich der Bücher bemächtigt, die von früher her in einem Schrank auf dem Estrich standen: vergilbte Kalender, Reisebeschreibungen, Heiligenlegenden und Wundermären. Er las sie immer wieder, andächtig. Was er nicht verstand, träumte er dazu. Neben den Geschichten enthielten viele der Bücher Bilder, die Bernardo mehr noch fesselten als der Text. Mit Ehrfurcht schlug er die bunten Seiten auf. Er kannte sie alle bis in die letzte Einzelheit, so lange und so oft hatte er sie betrachtet.
Da waren ungewöhnliche Landschaften zu sehen: Felsen, zehnmal so hoch und so gefährlich, so seltsam zu Fratzen ausgezackt wie der Grat im Norden des Dorfes, jener Grat, der eine liegende Frau mit hohem Leib und gespreizten Beinen darstellte, über deren unschickliches Benehmen er sich wunderte; wilde Meere, auf denen Menschen in kleinen zerbrechlichen Booten den Walfisch jagten, das Riesenungetüm aus der Bibel, das Jonas verschluckte; der verlorene Sohn, der aus Schweinetrögen aß, aussah wie ein Taglöhner und dann doch, auf einer andern Seite des Buches, sich wunderbarerweise wieder nach Hause fand, wo er herzlich aufgenommen wurde; Urwälder, in denen die ersten Christen, fast nackt, gegen gewaltige Bärinnen kämpften, als leuchtendes Beispiel von Mut und Glaube. Doch auch das Konterfei des Mondes war zu betrachten. Daß man es eben wisse, der Mond war keine freundliche Frau, er war eine Kugel, über und über blatternnarbig wie das Gesicht Cechs, jenes Taglöhners, den die Sonne zu Tode gestochen hatte, daß er am Abend leblos im Grase lag, worüber man nie fertig wurde, nachzudenken, denn was war es eigentlich: tot? Die blatterige Kugel war häßlich, und Bernardo überschlug die Seite gerne. Es gab ja andere, ganz andere Bilder. In einem mit Blumenkränzen verzierten Rund saß eine schöne Frau mit langem, goldenem Haar an einem Brunnentrog, in den Figuren eingeschnitten waren halb Fisch, halb Mädchen. Sie umwanden sich und quollen durcheinander wie Schlangen. Die Frau aber streckte ihre Hand ins Wasser und schaute Bernardo lächelnd und etwas wehmütig an. Wie er das Bild auch hielt, die Frau sah ihn an. Sogar wenn er es an die Wand lehnte und sich davon entfernte, nach rechts oder nach links auswich, sah ihn die Frau an. Dies zu erproben, war ein erregendes Spiel, und er spielte es, bis ihm das Herz im Halse klopfte.
Doch gab es ein noch schöneres Bild, das allerschönste, auf dem nur eine einzige riesige Blume gemalt war, die ihr Inneres, wie es Bernardo