"Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England". Simone Müller


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befreit hatten. Amerikanische gis brachten Kau­gummis, Lucky Strike und Nylonstrümpfe nach Europa – Vorboten der angelsächsischen Alltagskultur, die auf dem eu­ropäischen Kontinent bald überall präsent sein sollte. Marilyn Monroe, James Dean und Elvis Presley weckten diffuse Sehnsüchte nach dem American way of life und verstärkten den Wunsch, die fremde Kultur und Sprache kennenzulernen. Englisch spielte auch in der Arbeitswelt eine immer wichtigere Rolle. Anna-Maria Webb-Eggen zum Beispiel arbeitete in einem Hotel in Faulensee bei Spiez, ihr Chef erklärte, wenn sie weitermachen wolle in der Hotelbranche, müsse sie Englisch lernen. Drei Wochen später war Anna-Maria in London.

      Wirtschaftliche Gründe fallen nach dem Zweiten Weltkrieg als Motiv für den Aufbruch nach England weitgehend weg. Die Frauen, die nach 1945 gegangen sind, sagen alle, sie hätten Englisch lernen wollen. Sie gingen in einer Zeit des materiellen Aufschwungs, als neue Maschinen und Geräte den Alltag zunehmend veränderten. 1951 lancierte Schulthess den ersten Waschautomaten Europas, Kühlschrank, Mixer und Tetrapak hielten Einzug in die Küche, in der Wohnstube stand ein Fernsehgerät und vor den Haustüren da und dort ein vw Käfer für den Sonntagsausflug.

      An der Stellung der Frauen in Gesellschaft, Politik und ­Familie änderte sich in der Schweiz vorerst wenig. In England wurde 1928 das allgemeine Frauenwahlrecht eingeführt, in der Schweiz hatten Frauen noch bis 1971 kein Stimm- und Wahlrecht. Jede Schweizerin, die einen Ausländer heiratete – un­abhängig davon, ob sie das in der Schweiz oder im Ausland tat – verlor bis 1952 ihr Schweizer Bürgerrecht. Mehrere der por­trätierten Frauen haben genau das erlebt. Bea Laskowski-Jäggli, die 1947 in London den Polen Wladislaw Laskowski heiratete, verlor die Schweizer Staatsbürgerschaft, bekam aber keine polnische. Wenn sie ihre Familie in Basel besuchen wollte, musste sie mit einem Ausweis für Staatenlose einreisen.

      Viele Frauen, die sich in den Vierziger- und Fünfzigerjahren nach England aufmachten, kamen aus ländlichen Gebieten, oft aus einfachen Verhältnissen. Viele sagen, dass sie gerne länger in die Schule gegangen wären – aber keine Möglichkeit ­gehabt hätten. Ihre Biografien zwischen Schulabschluss und Aufbruch nach England gleichen sich. Sie machten ein Haus­haltungslehr­jahr, gingen ein oder zwei Jahre ins Welschland – oder ein Jahr in die Deutschschweiz wie die Tessinerin Annetta Diviani-­Morosi – und arbeiteten dann im Gastgewerbe, in einer Fabrik oder zu Hause auf dem Hof. Einige machten eine Lehre. Aber ihre Möglichkeiten waren begrenzt – auch geo­grafisch. Wenn sie wegwollten, war England oft die naheliegendste Option, Alternativen gab es kaum. Die usa kamen für viele wegen der hohen Reisekosten nicht infrage. Auch die Reise nach England war teuer. Aber Stellenvermittlungsagenturen wie Thomas Cook übernahmen häufig die Reisekosten. Myrtha Parsons-Bie­dermann sagt: «Ich wollte einfach weg. Es hätte nicht unbedingt England sein müssen.»

      Nach England zu gehen konnte auch bedeuten, ein Stück Freiheit zu ergattern und zumindest für eine gewisse Zeit aus einem Alltag auszubrechen, in dem es nur wenig Spielraum gab für die jungen Frauen.

      Italienerinnen statt Schweizerinnen

      Den Bundesbehörden bereitete der Exodus der jungen Bürgerinnen Kopfzerbrechen. In der Schweiz hatte sich die Beschäftigungslage in Vergleich zu den Dreissigerjahren deutlich verbessert. Bereits 1946 ist in einem Bericht der fjm von einem «Mangel an Arbeitskräften in allen wichtigen Frauenberufen» die Rede. Der «Anzeiger von Saanen» kommentierte im Mai 1946: «Es ist uns wohlbekannt, dass die jungen Mädchen sehnsüchtig auf den Augenblick warten, da sie nach England oder andern Ländern reisen können. Es dürfte (…) sowohl im Interesse unseres Landes wie unserer jungen Mädchen selber liegen, wenn sie ihre Kräfte noch einige Zeit freudig in den Dienst der Heimat stellen würden, die ihrer dringend bedarf und ihnen Arbeitsmöglichkeiten in viel günstigeren und moralisch gesünderen Verhältnissen zusichert.»

      Gegangen sind sie trotzdem. Und die Behörden verlegten sich darauf, Ausländerinnen die Einreise in die Schweiz zu erleichtern – zwecks «Stellenantritt im Hausdienst», wie das biga schon im Dezember 1945 festhält. In die Bresche sprangen zum Beispiel die Italienerinnen. Im Juni 1946 erteilte das biga den fjm den Auftrag, sich um die Platzierung der italienischen weiblichen Arbeitskräfte in Schweizer Haushalten zu kümmern.

      «England ist sehr arm geworden»

      Auf den Britischen Inseln war die Nachfrage nach billigen ausländischen Hausangestellten gross. Millionen von Engländerinnen hatten während des Kriegs die Arbeit der dienstpflichti­gen Männer übernommen und dafür gesorgt, dass Wirtschaft und Zivilleben auch im Ausnahmezustand nicht stillstanden. Ein beispielsloser Kraftakt, der unter dem Begriff Home Front in die Geschichte eingegangen ist. Als die Soldaten von der Front zurückkamen und an ihre Arbeitsplätze zurückkehrten, verloren viele Frauen ihre Jobs. Einrichtungen für die Kinderbetreuung, die während des Kriegs geschaffen worden waren, wurden aufgelöst.

      Aber viele Engländerinnen wollten die Autonomie, die sie durch die ausserfamiliäre Lohnarbeit gewonnen hatten, nicht wieder aufgeben und suchten sich neue Stellen – Kindermädchen und Haushaltshilfen waren deshalb gefragt. Dem englischen Mittelstand ging es finanziell jedoch nicht mehr so gut wie vor dem Krieg, die Budgetposten für Hausangestellte waren geschrumpft. In der Zwischenkriegszeit waren junge Schweize­rinnen manchmal auch als Gesellschafterinnen angestellt worden – damit war es nach dem Krieg vorbei: «England ist nicht mehr das Land der unzähligen reichen Familien, wo Schweizer Kindermädchen auf Schlössern junge Lords betreuen, in Rolls-Royces herumgefahren werden und jeden Morgen durch endlose Parkwege reiten können. England ist arm, sehr arm geworden», schrieb die «Schweizer Illustrierte Zeitung» im März 1950.

      Es fehlte an allem: Lebensmittel und Kleider blieben bis 1954 rationiert, Brennstoff für die Heizungen war knapp, die Häuser schlecht isoliert und kalt, und es gab nicht genug Wohnungen. Die Angriffe der deutschen Luftwaffe hatten zudem viel Infrastruktur zerstört.

      Das biga äusserte sich besorgt. In einem Sitzungsprotokoll vom 17. Dezember 1945 heisst es: «Was England anbelangt, ist zu sagen, dass die Situation augenblicklich keineswegs günstig ist. Das Land ist, im Gegensatz zu Amerika, unsäglich verarmt. Die Verhältnisse im Ausland sind sehr viel schlimmer als nach dem Ersten Weltkrieg, die Gefährdung unserer jungen Mädchen daher viel grösser. Beängstigende Zunahme der Geschlechtskrankheiten. Der Mädchenhandel steht wieder in Blüte.»

      Unerwünschte Freundschaften

      Die jungen Frauen wurden unablässig gewarnt, in Zeitungen und Zeitschriften, auf Flugblättern und Beratungsstellen. Zum Beispiel vor dem britischen Wetter. In einem «Wegweiser für die Eltern unserer Englandgängerinnen» aus den Fünfzigerjahren heisst es: «Für seelisch Gefährdete, Enttäuschte, depressiv Veranlagte ist das feucht-neblige Wetter Englands und die der unseren recht verschiedene Denkart seiner Bewohner unge­eignet.» Oder vor dem «Charakter der englischen Hausfrau», die ihre Hausangestellten wegen des britischen Klassensystems nicht in die Familie integriere. Mit schlimmen Folgen, wie das Flugblatt «Schweizerinnen in Grossbritannien» ausführt: «Man­gel an Familienanschluss, Abgeschiedenheit oder unge­nü­gende Sprachkenntnisse führen oft zu Depressionen, übertriebener Vergnügungslust oder zu ungeeigneten Freund­schaften, was alles gleich verhängnisvoll sein kann.» In den Vierziger­jahren wurde noch oft vor den Kriegsfolgen gewarnt, vor Lebensmittelknappheit und «grauen, düsteren englischen Städten», in den Fünfzigerjahren rückten zunehmend sogenannte «un­erwünschte Freundschaften» und vor allem unerwünschte Schwangerschaften in den Fokus.

      In London kümmerten sich Hilfsstellen um diejenigen, die tatsächlich in Schwierigkeiten geraten waren. Die schweize­rische Wohltätigkeitsorganisation Swiss Benevolent Society, die bereits im frühen 18. Jahrhundert gegründet worden war, konnte den grossen Ansturm bald nicht mehr bewältigen. 1949 wurde deshalb das Sozialsekretariat für Schweizerinnen in Grossbritannien eröffnet, eine vom Bund und den Kantonen mitfinanzierte Institution. Die Jahresberichte des Sekretariates zeigen, mit welchen Anliegen sich die jungen Frauen an die Stelle wandten. Die Spannbreite ist gross, sie reicht von Schwierigkeiten am Arbeitsplatz über körperliche und psychische Krankheiten bis hin zu den ungewollten Schwangerschaften – über Jahre einer der Hauptgründe, weshalb


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