"Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England". Simone Müller


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      «Können Sie denn bügeln?»

      Maria hat Glück mit Familie Green in Hampstead: «Es war ein schönes Jahr.» Manchmal holt Mrs Green das grosse Märchenbuch und setzt sich mit Maria an den Tisch. Maria liest vor, Mrs Green korrigiert die Aussprache und erklärt Begriffe, die Maria nicht versteht. «So lernte ich Englisch.» Zu der Familie gehören drei erwachsene Söhne und eine elfjährige Tochter. «Der älteste Sohn war ein richtiger Gentleman. Er brachte seiner Mutter jeden Freitag Blumen mit, ein Büschelchen Schneeglöckchen oder einen Strauss Osterglocken.» Mr Green ist Zigarettenfabrikant – seine Firma stellt auch Express Zigaretten her. Die Fami­lie ist jüdisch, Mr Green isst kein Schweinefleisch, aber «Mrs Green und ich hatten ab und zu ein Schweinskotelette zum Mittagessen».

      Maria wird von Anfang an integriert. «Ich sagte einmal zu Mrs Green, ich könne in der Küche essen. Es müsse nicht sein, dass ich bei ihnen am Tisch esse.» Mrs Green antwortete: «Sie gehören zur Familie, Sie gehören zu uns.» Einmal im Monat hat Maria den ganzen Mittwoch frei – dann bekommt sie das Frühstück ans Bett serviert. Arbeit gibt es nur wenig, Maria muss den Eingang sauber halten, abwaschen und für den Hund sorgen. Im gleichen Haushalt sind noch eine Haushälterin und ein Gärtnerehepaar angestellt, und auch der Chauffeur hilft ab und zu mit. Die Wäsche macht Mrs Green selber. «Sie wusch die Kleider und hängte sie im Garten zum Trocknen auf. Aber dann warf sie einfach alles in den Kasten hinein.» Maria fragt, ob sie die Kleider bügeln dürfe. Mrs Green, erstaunt: «Ja, können Sie denn das?» Von da an bügelt Maria die Wäsche.

      Hochzeit in Guntmadingen

      Maria geht dann alleine Kaffee trinken an jenem nebligen Novemberabend. Dasselbe tut, wie sich später herausstellen sollte, auch der junge Mann, in einem anderen Lokal. «Als wir beide auf die Strasse hinaustraten, stiessen wir erneut aufeinander.» Wieder spricht er Maria an. Wo sie denn wohne, und ob er sie nach Hause begleiten dürfe. Diesmal sagt Maria Ja. Sie gehen zusammen durch den Park Hampstead Heath bis zum Pub Jack Straw’s Castle: «Dort sind wir hinein. Als er an der Bar stand und die Getränke holte, dachte ich: «Hmm, eigentlich nicht schlecht.»

      Maria, Februar 2013: «Ich habe einen guten Mann!»

      Dennis Gibbs, 1923 geboren, neun Jahre älter als Maria. Er arbeitet bei der englischen Post Royal Mail im Untergrund. Wenn der Postzug mit den kleinen, offenen Wagen anhält, muss Dennis aufpassen, dass die Pakete und Briefe nicht gestohlen werden. Als Mrs Green von Dennis hört, warnt sie Maria und fragt nach Dennis’ Nationalität. «Ein Engländer? Dann kannst du ihn jederzeit nach Hause bringen.»

      Im Juni 1957 ist Marias Jahr in Hampstead zu Ende, sie fährt in die Schweiz zurück. Was Dennis denn machen werde ohne sie, fragt Mrs Green. «Und es stimmte! Er ging ja nirgends mehr hin ohne mich.» Im August besucht er Maria in Guntmadingen, sie verloben sich. Dennis kann nicht bleiben, aber er kommt wieder – im April 1958 feiern sie Hochzeit und gehen dann zusammen zurück nach London.

      Im Juni beginnt Maria bei Liberty, dem traditionsreichen Londoner Kaufhaus beim Oxford Circus, als Schneiderin zu ar­beiten. Die schottische Kundin, die im Liberty ihren massgeschneiderten Kilt anprobiert, ist erstaunt: «Ich hätte nie gedacht, dass Engländerinnen wissen, wie man einen Kilt macht.» Maria ist die einzige gelernte Schneiderin bei Liberty – sie hat den Kilt zugeschnitten. «Die Falten legen ist ja nicht schwierig. Aber es braucht sieben Meter Stoff für einen Kilt!» Die Engländerinnen, sagt Maria, hätten oft nicht einmal gewusst, wie man ein Schnittmuster macht. «Sie machten ja keine Lehre. Sie begannen einfach zu arbeiten und fertig.» Wenn die Einkäuferin von einer Modenschau aus Paris zurückkommt, muss Maria die Anleitung auf den französischen Schnittmustern übersetzen. «Ich war die einzige, die Französisch konnte.»

      Kleider von Liberty sind aus fein gewobenen Stoffen. «Wir nähten alles von Hand, richtig Haute Couture.» Auch Hochzeitskleider von Liberty sind beliebt. Maria näht sie allerdings nicht gern: «Ich fand das langweilig. Immer nur weiss – ewig schneit’s.»

      Die Arbeitstage sind kürzer als in der Schweiz. «Um neun begann man zu arbeiten, um zehn gab es Tee und ein Stück ­Kuchen. Von zwölf bis eins Mittagspause, um vier Uhr Tee mit Toast und Butter und Konfitüre. Um halb fünf war man fertig.» Die Klassentrennung wird auch bei Liberty hochgehalten: «Es gab drei Kantinen. Eine für die Arbeiter, eine für die Büroangestellten und eine für die Oberen.»

      In einem grossen Schrank im ersten Stock bewahrt Maria 86 Blusen auf aus 86 verschiedenen Stoffen. Sie hat die Blusen alle selber genäht. Viele sind aus Stoff von Liberty. Kurzarm und Langarm. Geblümt, uni, pastellfarbig, bunt. Oder mit dem berühmten Pfauenfedermuster: «Das war das erste Muster, das Liberty druckte. Der typische Liberty print.» Einige Blusen sind viele Jahre alt, andere hat Maria erst vor ein paar Monaten genäht.

      1964 wird Dennis befördert, er muss nun Schicht arbeiten. «Bevor er zusagte, diskutierten wir das miteinander.» Maria kündigt bei Liberty und macht sich selbständig. «Sonst hätten wir uns kaum noch gesehen.» In ihrem Haus in High Barnet, am Ende der U-Bahn-Linie Northern Line, richtet sie sich ein Atelier ein. «Ich machte kein einziges Inserat, aber es sprach sich schnell herum. Ich hätte von Anfang an Tag und Nacht arbeiten können.»

      «Der Krieg hat ein Stück seines Lebens genommen»

      Zu Marias Erzählung gehören auch Geschichten vom Krieg. Einige hat sie selber erlebt, andere hat Dennis erzählt. Im schweizerisch-deutschen Grenzgebiet prägte die Angst vor einem möglichen Einmarsch deutscher Truppen den Alltag. Maria erzählt von der Grenze, die im Schaffhausischen mitten durch die Küche eines Bauernhauses ging – die eine Hälfte der Küche gehörte zu Deutschland, die andere zur Schweiz. Sie erzählt auch von dem grossen aufgemalten Kreuz auf dem Dach eines Bauernhofs in Guntmadingen, weiss vor rotem Hintergrund. «Das war für die Piloten der ausländischen Kriegsflugzeuge, damit sie wussten, wo sie flogen.» Sie erinnert sich auch, wie man sich mit den Jahren an die Angst gewöhnte – vor den Sirenenalarmen und vor den Bomben, die auf Schweizer Seite abgeworfen werden könnten. «Mutter sagte jeweils, wir sollten in den Keller hinunter, wenn die Sirenen gingen. Aber es verleidete uns, und wir sagten dann nur noch: ‹Nein, danke›.»

      In der britischen Hauptstadt heulten die Sirenen ständig. Dennis hat Maria vom Anderson Shelter erzählt, einem Luftschutzunterstand aus verzinktem Wellblech, der während des Zweiten Weltkriegs bei Millionen von Briten im Garten stand, auch bei Dennis’ Eltern. Er war sechzehn Jahre alt, als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, und irgendwann hatte Dennis genug vom Krieg und von den Einschränkungen. Einmal weigerte er sich, in den Shelter zu gehen, und in der gleichen Nacht schlug eine Bombe in sein Elternhaus. Dennis hatte grosses Glück. «Er wurde aus dem Bett geschleudert. Das Haus war kaputt, aber Dennis blieb unverletzt.»

      Auch in Schaffhausen blieben am 1. April 1944 viele Menschen auf der Strasse, als die Sirenen gingen. Sie suchten den Himmel nach Fliegern ab. Guntmadingen ist sieben Kilometer von Schaffhausen entfernt, Maria erinnert sich an den Vormittag. «Wir waren auf dem Feld und holten Nüsslisalat, als wir plötzlich schwarzen Rauch aufsteigen sahen.» Fast vierhundert Bomben warfen die Flugzeuge der US-Luftwaffe über Schaffhausen ab, knapp vierzig Menschen starben, zahlreiche wurden verletzt. Die offizielle Erklärung lautete später, es habe sich um einen Navigationsfehler der US-Air-Force gehandelt.

      Maria erzählt auch von den Flüchtlingen, die durch den Wald nach Guntmadingen kamen. Von dem Mann, den der Vater hinter der Telefonstange fand, als er abends die Pferde am Brunnen tränkte. «Es war ein Deutscher. Es ist ja nur eine halbe Stunde von der Grenze durch den Wald bis in unser Dorf.» Der Mann bat den Vater, er solle ihn nicht anzeigen, aber der Vater entgegnete, er müsse ihn melden. «Was sie danach mit ihm gemacht haben? Ich weiss es nicht.»

      Auch ein einzelner Satz ist Maria in Erinnerung geblieben: «Räder müssen rollen für den Sieg – Kinderwagen für den nächsten Krieg» – das stand auf den Güterwagen der deutschen Züge, die in Guntmadingen vorbeifuhren.

      Im Winter, wenn der Vater Holz hackte im Wald, kam jeweils der deutsche Grenzwächter herüber, setzte sich auf einen Baumstrunk und hielt einen Schwatz mit dem


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