"Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England". Simone Müller


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Gesetz mussten ledige Ausländerinnen mit befristeter Aufenthaltsbewilligung das Land vor der Geburt des Kindes verlassen. Auch in der Schweiz hatten le­dige Mütter einen sehr schweren Stand. In einem Bericht des ­Sozialsekretariats von Ende 1958 heisst es: «Das Problem der unverheirateten Mutter ist konstant (…). 1958 schickten wir 27 Mütter, die uneheliche Kinder erwarteten, in die Schweiz zurück. Mit Hilfe von Wohlfahrtsorganisationen (…) war es möglich, für diese Mädchen passende Orte, wo sie vor und nach der Geburt wohnen konnten, zu finden. Es ist eine traurige Tatsache, dass die Mädchen nur in wenigen Fällen wieder in ihrem Elternhaus aufgenommen werden. Normalerweise wissen die Eltern gar nichts vom Unglück ihrer Tochter, und viele der Kinder werden adoptiert.» Im Jahresbericht von 1959 werden die Eltern der jungen Frauen adressiert: «Die Eltern sollten ihre Töchter über die Lebenstatsachen, Gefahr vor unerwünschten Freundschaften (besonders mit farbigen Männern), Geschlechts­krankheiten etc. eingehend aufklären.»

      Umgekehrt gab es auch Eltern, die ihre Tochter nach England schickten, um eine «unerwünschte Freundschaft» in der Schweiz zu beenden. Und auch psychisch kranke oder suizidale junge Frauen wurden auf die Britischen Inseln geschickt in der Hoffnung, der Ortswechsel werde zu einer Besserung des Zustandes der Betroffenen führen – was sich zumeist als Illusion entpuppte. Im Tätigkeitsbericht des Sozialsekretariates für das Jahr 1950 heisst es: «Es ist erstaunlich, wie viele Schweizerinnen hier wegen geistigen Störungen in Anstalten verbracht werden müssen.» 72 Mädchen und junge Frauen wandten sich in dem Berichtsjahr krankheitshalber an das Sekretariat, mehr als die Hälfte davon wegen «Geisteskrankheit», «Nervenzusammenbrüchen» oder «Hysterie».

      1957 kam mit dem Swiss Hostel for Girls noch eine weitere Institution dazu. Massgeblich vorangetrieben hatte das Projekt die Swiss Benevolent Society. Die «Neue Zürcher Zeitung» berichtete nach der Eröffnung von einem Haus mit «prächtigem Garten in der schönsten Lage der Stadt» – im Nordlondoner Nobelquartier Hampstead. Hier fanden Frauen Unterschlupf, die nur vorübergehend eine Bleibe brauchten, zum Beispiel, weil sie die Arbeitsstelle wechselten. Eine ähnliche Institution hatte es bereits im 19. Jahrhundert gegeben. 1884 war in der Londoner Innenstadt das Swiss House eröffnet worden, das Schweizer Hausangestellten, die nicht bei ihrer Herrschaft wohnen konnten, Unterkunft bot.

      Endstation Dover

      Manchmal gerieten die jungen Frauen auch bereits an den Häfen von Dover oder Folkestone in Schwierigkeiten. Dort legten die Schiffe aus Frankreich an, und für diejenigen, die sich ohne Ar­beitsbewilligung oder Visum auf den Weg gemacht hatten, endete die Reise mitunter an den Ufern des Ärmelkanals. Erst seit dem Vertrag von Touquet aus dem Jahr 2003 werden die britischen Grenzformalitäten im französischen Calais abgewickelt, zuvor entschied sich im Hafen von Dover, wer in das Vereinigte Königreich einreisen durfte und wer nicht.

      1953 verschärfte Grossbritannien die Einreisebestimmungen, die Zahl der Abgewiesenen nahm weiter zu. Die wenigsten der jungen Schweizerinnen rechneten wohl damit, dass ihnen die Einreise verweigert werden könnte – viele Betroffene reagierten wütend oder verzweifelt. Manchen kam dann die 1913 geborene Berner Sozialarbeiterin Helen Ellis-Däpp zu Hilfe, die selber als Neunzehnjährige nach Birmingham gegangen war, um Englisch zu lernen, und sich nach dem Krieg der jungen Schweizerinnen und Österreicherinnen annahm, die an der Grenze in Schwierigkeiten gerieten. Ellis-Däpp verhandelte mit den Beamten, trieb Visa und Arbeitsbewilligungen auf, organisierte Übernachtungen und Rückreisen. Gelegentlich kümmerte sie sich auch um Sechzehnjährige, die zu Hause ausgerissen und ohne Geld und Papiere im Hafen von Dover gelandet waren. Oder um Schwangere, die in Willisau oder Rapperswil ihre Schwangerschaft verheimlicht hatten und in einer Londoner Klinik abtreiben wollten. Als sich die Berichte häuften, dass Abgewiesene in die Bars von Calais gelockt worden und danach spurlos verschwunden seien, nahm Ellis Kontakt auf mit einem französischen Mädchenheim. Sie begleitete diejenigen, die zurückmussten, bis aufs Schiff und meldete ihre Ankunft telefonisch der Heimleiterin in Calais, die sie dort am Hafen abholte. Später kümmerte sich Ellis-Däpp um Reisende aller Nationa­litäten – 1967 erhielt sie für ihr Engagement einen Orden von der Queen.

      Mit den Institutionen in Kontakt gekommen sind meist nur diejenigen, die Hilfe brauchten. Die Berichte der Anlaufstellen spiegeln die Schwierigkeiten, in die eine Minderheit der jungen Frauen geriet. Für die Mehrheit gilt, was in den Fünfzigerjahren in einer Broschüre mit dem Titel «Was erwartet mich in England?» folgendermassen beschrieben wird: «Unsere Töchter stehen am englischen Herd, sie kochen und flicken, hüten die Kleinen in der Kinderstube, gärtnern oder wirtschaften ­irgendwo in einem Kleinbetrieb. Die meisten leben beschei­dener als zu Hause, arbeiten wesentlich mehr, verdienen sehr wenig und sind merkwürdigerweise zufrieden und glücklich dabei.»

      Letzte Zeitzeuginnen

      Wenn sie, wie Myrtha, Anna-Maria oder Helene in England geblieben sind, dann fast immer deshalb, weil genau das passierte, wovor sie in den Fünfzigerjahren so eindringlich gewarnt wurden: Sie verliebten sich, wurden schwanger, heirateten. Myrtha Parsons-Biedermann erzählt vom Happy End einer solchen Beziehung: Sie lernte ihren zukünftigen Mann Roy Parsons, Soldat bei der britischen Armee, buchstäblich auf der Strasse kennen, und weil sie noch zu jung war, um ohne Einwilligung der Eltern zu heiraten, telegrafierte Myrtha nach Winznau bei Olten und bat die Eltern um ihr Einverständnis. Myrtha hat mit Roy bis zu seinem Tod im Jahr 1990 glücklich zusammengelebt.

      Vergessen gegangen ist nicht nur, wie viele Frauen gegangen sind, sondern auch, dass so viele nicht mehr zurückkehrten. Die meisten wollten nicht auswandern, aber es hat sich so ergeben, dass sie geblieben sind.

      Auch ich habe lange nichts von diesen Frauen gewusst und nur durch Zufall von ihnen erfahren. 2006 machte ich mit dem damaligen Pfarrer der Londoner Schweizer Kirche Swiss Church ein Interview für eine Reportage zu einem anderen Thema. Er erwähnte in einem Nebensatz, es gebe viele ältere Schweize­rinnen in England, die als junge Frauen gekommen seien und ungewöhnliche, manchmal auch ungewöhnlich schwie­rige ­Lebensgeschichten hätten und im Alter materiell oft viel schlechter gestellt seien als gleichaltrige Frauen in der Schweiz. Ich vergass den Satz des Pfarrers nicht mehr, aber weil anderes im Vordergrund stand, begann ich erst im Herbst 2012 zu recherchieren.

      Es war nicht immer einfach, diese Frauen aufzuspüren. Google weiss von ihnen nichts. Sie gehören zu einer Generation, die mit der digitalen Welt kaum oder gar nicht in Berührung kommt. «Computer and all that rubbish», bringt die 1926 geborene Annetta Diviani-Morosi ihre Ansicht zu dem Thema auf den Punkt. Nur die jüngste der porträtierten Frauen, die 1939 geborene Anna Noël-Roduner, benutzt das Internet regelmässig. Die meisten haben keinen Computer und keine E-Mail-Adresse. Einige der porträtierten Frauen gehören dem Frauenverein der Schweizer Kirche an – ein guter Ausgangspunkt für die ­Recherche. Auf andere bin ich durch die Zürcher Sozialarbei­terin Margrit Lyster, die in London lebt und lange für die Swiss Benevolent Society gearbeitet hat, gestossen. Manchmal hat auch eine Frau von einer anderen erzählt oder Verwandte in der Schweiz berichteten von einer Grosstante oder Cousine, die seit Jahrzehnten in England lebt.

      Viele Frauen, die in den Dreissiger-, Vierziger- oder Fünfzigerjahren gegangen sind, können ihre Geschichte nicht mehr erzählen. Andere wollten sich nicht porträtieren lassen. Manchmal, weil die Erfahrungen, die sie gemacht haben, zu schmerzhaft sind.

      In der französischen Schweiz war das Englandjahr ebenso beliebt wie in der Deutschschweiz, und auch Frauen aus der Ro­mandie sind in England geblieben – nur habe ich keine welsche Frau gefunden, die für ein Porträt bereit war.

      Auch in den Sechzigerjahren sind die jungen Frauen nach England aufgebrochen, aber unter anderen Voraussetzungen. Der Swissair-Flug Zürich-London trat anstelle der langen Reise durch Frankreich und über den Ärmelkanal. Der Kontakt zu den Familien in Dagmersellen, Pfäffikon oder Vevey blieb während des Aufenthalts in England viel enger, Telefonieren war billiger geworden, und oft kehrten sie schon nach wenigen Monaten zurück. Viele besuchten ausschliesslich eine Sprachschule und arbeiteten nicht mehr in Haushalten – etwas, das früher Töchtern aus vermögenden Familien vorbehalten war. Ab 1956 waren auch in England Au-pair-Anstellungen zugelassen. Zwar taucht der Begriff «Au-pair» schon vorher auf, und viele Frauen, die vor 1956 gingen,


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