Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991. Urs Bircher
Bundesrat von Steiger prägte das schlimme Wort: »Das Boot ist voll.« An der Grenze spielen sich erschütternde Szenen ab.240 Gegen diese Flüchtlingspolitik opponierten breite Kreise. In Zürich öffneten nicht nur linksengagierte Personen, sondern auch manche intellektuelle und gutbürgerliche Häuser, also Frischs eigene Kreise, demonstrativ ihre Häuser für die Flüchtlinge, so die Rosenbaums, die Humms, die Fleischmanns. Wer wissen wollte, welche Ungeheuerlichkeiten jenseits der Grenzen geschahen, konnte es wissen. Doch Frisch blieb seinem poetologischen Konzept treu, wonach Politik in der Literatur nichts zu suchen habe. Zur Rechtfertigung dieser Auffassung veröffentlichte er in der NZZ vom 21. November 1943 einen Aufsatz mit dem launigen Titel: Von der guten Laune und dem Ernst der Zeit.
Das eine Auge auf die Zeitung gerichtet, worin die Vernichtung Kassels berichtet wird (eine Untat der Alliierten, nicht der Nationalsozialisten), »das andere Auge auf die Milchpfanne … die jeden Augenblick meine Geistesgegenwart erfordert«,241 mit diesem Bild umriß Frisch seine Situation als Dichter im Zeitgeschehen. Dichtung ist die Milchpfanne, welche die ganze Geistesgegenwart erfordert. Ein zweites Bild – Christi Kreuzigung von Pieter Bruegel – sollte das Verhältnis von Zeitgreuel und Dichtung präzisieren. Jäger sehe man auf dem Bild, so Frisch, und Liebende und Äcker und Bauern und Pferde, Städte, Vögel und Kinder, »und man muß schon suchen, wo eigentlich der Heiland mit seinem Leiden stattfindet, nicht in der Bildmitte, nicht größer als alle die anderen …«242 Zumindest hätte Frisch auffallen müssen, daß, im Unterschied zum eigenen Dichten, die Kreuzigung bei Bruegel immerhin stattfand, wenn ihm schon das Auge fehlte, zu sehen, daß Bruegel die Kreuzigung eben dort »am Rand« malte, wo sich die wichtigen Kompositionslinien des Bildes treffen. Will sagen: Die Kreuzigung findet nicht ›unter anderem‹ und ›neben anderem‹ statt, sondern sie ist der Focus, von dem aus die Komposition des ganzen Lebensbildes aufgebaut ist.
Frisch kritisierte zu Recht Abstumpfung, Zynismus und gewissensentlastendes Bekennertum als falsche Haltungen gegenüber dem Zeitgeschehen, und er forderte eine pragmatische Haltung: »Es kommt wenig darauf an, was wir empfunden, oder nicht empfunden haben«, wichtig sei allein, daß die Flüchtlinge Unterkunft, Kleider und Brot hätten.243 Offenbar hatte Frisch aber bereits gespürt, daß das Verhältnis von Politik und Kunst aufgrund der aktuellen Entwicklungen allmählich brisant wurde. 1943 war das Wendejahr des Krieges: Im Januar hatten die deutschen Armeen vor Stalingrad kapituliert, im Mai in Nordafrika, im Juli landeten die Alliierten in Sizilien, Mussolini fiel, und im November 1943 wurde auf der Teheraner Konferenz die Landung in Westeuropa vorbereitet. Der Alptraum vom faschistischen Europa verflog, Deutschlands Zusammenbruch wurde absehbar. Absehbar war somit auch die Frage nach der Mitverantwortung am Krieg, die Frage, wer dereinst zu den Schuldigen, wer zu den Schweigern, den Mitläufern, den Sympathisanten und wer zu den Siegern, auch zu den geistigen und moralischen Siegern, des Kriegs gehören würde. In dieser historischen Konstellation schrieb Frisch seinen Aufsatz über Kunst und Politik. Auch seine erste Ich-Erzählung entstand in dieser Zeit.
Bin oder Die Reise nach Peking
Diese »Träumerei in Prosa«244 , die spielerisch ein Dutzend Episoden zu einem filigranen Text aus Traum, Realität, Erinnerung und Reflexion zusammenstrickte, läßt sich biographisch leicht entziffern245 . Wiederum geht es um die richtige Lebensform in der bestehenden Gesellschaft.
Eine Prologepisode stellt Bin als jedermanns Alter ego vor. »Bin ist unser aller Wegbereiter insofern, als er unsere unerfüllten Möglichkeiten verkörpert. Er ist die Möglichkeit, die unsere Wirklichkeit begleitet.«246 Die Jahreszeitensymbolik strukturiert die Erzählung. Sie beginnt im Frühling, der Zeit des Lebensaufbruchs. »Mindestens die Hälfte des Lebens ist nun vorüber, und insgeheim fangen wir an, uns vor dem Jüngling zu schämen, dessen Erwartungen sich nicht erfüllten.« So denkt der Architekt Mitte Dreißig, der mit der Planrolle in der Hand am Feierabend im Caféhaus sitzt und »Heimweh nach ersten langen Gesprächen mit einer fremden Frau« hat.247 Doch statt nach Hause zur Frau namens Rapunzel zu gehen (das ist die Märchenschöne mit dem langen Haar, ein Salat, aber auch ein giftiges Kraut und der Spitzname für Trudy von Meyenburg), treiben ihn Frühlingsgefühle durch Gärten und Wald, »als ich unversehens vor der chinesischen Mauer stand«. Auf die Mauer gestützt raucht Bin eine Pfeife und lächelt. Gemeinsam zieht man weiter. »Ich hatte die Rolle unter dem Arm, Zeichen des Alltags«248 und ebenso Metapher für die gesellschaftliche Rolle, die jeder mit sich trägt. Man plaudert und wandert, bis man vom Hügel herab plötzlich Peking erblickt. »Weit konnte es bis Peking nicht sein, eine Stunde vielleicht oder zwei oder drei …«249 In Peking will der Architekt sich endlich von seiner Rolle im wörtlichen wie im metaphorischen Sinn befreien.
Frischs Peking liegt am Meer – wie Shakespeares Böhmen im Wintermärchen. Es ist kein realer Ort, sondern ein Ort der Sehnsucht, der Lüste, des Traums. Im Frühjahr, beim Aufbruch war Peking noch nahe gewesen. Im Sommer, in der Zeit der Reife, trifft man einen östlichen Heiligen, der die westliche Fragerei nach dem »Was tun sie?« nicht versteht. Ihm ist das bloße Dasein Glück genug. Man lagert im Gras, erinnert glückliche Jugendzeiten und bemerkt auf einmal, wie man im Strom der Zeit von Peking abtreibt. Man macht Lebenserfahrungen, gewinnt vernünftige Einsichten, wird erwachsen: »Der Jubel ist aus den Dingen verflogen, nur die Erfahrung bleibt, nur die Asche der Erfahrung nimmt zu.«250 Man trägt sich mit Selbstmordgedanken und vergißt Bin zuweilen jahrelang. Man altert. Bis Bin eines Morgens wieder da ist und es »ganz ernst meint mit unserer Reise nach Peking«.251 Aber nun ist es schon Herbst, »das Leben ist kurz«,252 und »wir haben nun endlich eine Wohnung gefunden … Sogar Garten haben wir nun, nicht viel, Blumen, Ausblick in die Bäume der Nachbarn, in Birnen und Kirschen, die uns nicht gehören.«253 Es ist die Wohnung an der Zollikerstraße 265, in welche die Familie Frisch 1942 gezogen ist. Und »nun haben wir auch bald ein Kind«254 – Ende 1943 und 1944 kamen Frischs Kinder Ursula und Hans Peter zur Welt. Die Erzählung ist in des Erzählers Gegenwart angekommen. Und genau hier setzte Frisch den ironisch-schmerzlichen Schlüsselsatz: »Wir sind in einer Weise
glücklich, die uns kaum noch ein Recht läßt auf Sehnsucht; das ist das einzig Schwere …«255 Frisch hat erreicht, was traditionellerweise zum bürgerlichen Glück gehört: Frau, Kind, Wohnung mit Garten, Beruf und Freunde. Aber diese haben alle »einen Knacks«,256 sie kennen nämlich Bin nicht. Sie sind getrieben von Geltungsbedürfnis und Ehrgeiz, was »ja auch nur ein Geiz« ist. Daß diese Sätze genau in der Mitte des Textes stehen, ist kein Zufall. Die »Mitte des Lebens« ist erreicht, die zweite Texthälfte gibt eine Voraussicht auf die Zukunft, auf den »Herbst« und den »Winter« des Lebens.
Wie sah Frisch 1942 seine Zukunft? Wieder einmal ist die Sehnsucht mächtig, die »ersten Häuser von Peking« sind erreicht. Der Architekt will endlich seine Rolle unterstellen und betritt einen Palast. Dieser ist – Angsttraum des Architekten – ein Zerrbild jenes Gebäudes, welches auf der Rolle entworfen ist. Der Hausherr lädt zu Gast, man vergißt wieder einmal Bin, denn die Tochter des Hauses ist süß und siebzehn. Auch sie plagt die Sehnsucht nach ihrem ›Peking‹. Mit dem Herrn des Hauses philosophiert man über die Diktatur der Zeit. Die Menschen des Abendlands sind ihre Sklaven, sie führen das Leben von »Ameisen«. »Unsere Seele gleicht einem Schneeschaufler, sie schiebt einen immer wachsenden … Haufen ungestillten Lebens vor sich her«.257 Gesellschaftliche Erfolge stellen sich ein, der Fürst gibt einen neuen Palast in Auftrag, ein Bubentraum erfüllt sich.258 Doch da legt der Fürst die Maske ab und zeigt sich als zotenreißender Fettsack. Die gute Gesellschaft, um derentwillen man Peking vergessen hatte, ist ein ordinäres Volk.
Man flüchtet mit der jungen Chinesin (auch sie trägt den Sehnsuchtsnamen Maja) ans »andere Ufer«. Maja jubelt ihrem Peking entgegen, denn Peking ist immer am anderen Ufer. Man landet – und das andere Ufer entpuppt sich als feines Lokal am Zürichsee. Was für Maja neu und aufregend ist, kommt dem Erzähler, der sich nun als Architekt Kilian vorstellt, öde, weil bekannt, vor: »Die Erde ist so groß nicht, wie man meint, auch sie macht es mit Wiederholungen.« Die Sehnsüchte sind aufgebraucht, und Maja verläßt den alternden Architekten mit einem jungen Mann.259 Der Winter ist gekommen, der Tod klopft bei Kilian an: Komm mit, oder finde einen andern, der für dich geht. Kilian sucht vergeblich, schließlich stirbt sein Vater. Im selben Augenblick kommt Kilians Kind zur Welt. Die Generationenfolge ist der einzige Weg, dem Tod zu entkommen! Die Erzählung ist