Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991. Urs Bircher
seiner Begrüßung, auch seinerseits ein Gefühl von der Liebenswürdigkeit des Zufalles, daß man sich gerade hier zum ersten Mal begegnet, ergibt alles weitere.«208 Die beiden verabredeten sich auf bald, doch kurz darauf starb Zollinger, erst 46 Jahre alt. Frisch schrieb ihm in der Neuen Schweizer Rundschau vom November 1941 einen Nachruf, worin er vor allem Zollingers poetische Fähigkeiten herausstrich. Interessanter als dieser Nekrolog war der Text Albin Zollinger als Erzähler, den Frisch zum ersten Todestag Zollingers für die Neue Schweizer Rundschau verfaßte.209 Noch einmal versammelte er alle Kernsätze früherer Zollinger-Rezensionen, dann aber schlug er neue, politisch radikale Töne an: »Albin Zollinger ist … Sohn eines Volkes, das er gefährdet sieht, in der Überschätzung seines äußeren Friedens geistig zu vergrasen«, und Zollinger sei eines der wenigen Ereignisse, die »unseren Frieden einmal im Geistigen aufzuwiegen haben, während das Abendland sich in Schlachten verblutet«.210
In größter Verkürzung wird hier ein Gedanke angesprochen, der zum Propagandainventar der Aggressoren gehörte: Wer das Leben im Frieden zu hoch bewertet, läuft Gefahr, geistig zu verkümmern (wie das grasende Vieh). Solche Sätze mögen als politische Geschmacklosigkeiten passieren. Wenn aber Frisch kurz vor der Stalingradwende – die deutschen Truppen sind noch im Vormarsch – die national-sozialistische Aggression als »Durchbruch in die Befreiung des lebendigen Triebes und der Tat«211 beschrieb, so legt das zumindest den Verdacht der politischen Desorientiertheit eines Intellektuellen nahe, der seit der Kapitulation Frankreichs mit dem faschistischen Endsieg rechnete.
Dazu passen Desorientierungen auch auf anderen Gebieten: »Ein großer Wurf«, urteilte Frisch über A.J. Weltis Roman Wenn Puritaner jung sind und erzählte die Geschichte: Sie handelt von Erna, einer »Lehrerin und Suffragette, die aus Verklemmung und Dünkel ihre Jugend verpaßte, um schließlich und endlich einem Jazzsänger, einem Nigger, anheimzufallen«.212 Im Klartext: Eine intellektuelle Frau ist verklemmt, das heißt sie klemmt die Beine zusammen, wenn ein Mann sie ›entklemmen‹ will, bis sie schließlich verblüht ist und zur Strafe von einem Night-Club-Nigger aufs Kreuz gelegt wird. Ein »einfallsreiches Buch«, befand Frisch.213
Frischs Erinnerung an Zollinger erschien, wie erwähnt, in der Neuen Schweizer Rundschau. In der NZZ wäre der Text mit dieser offen prodeutschen Äußerung in dieser Zeit kaum mehr angenommen worden. Korrodi legte Wert auf Dezenz, und Bretscher wie Müller, der Chefredaktor wie der Leiter »Ausland« hatten ein genaues Auge auf die politische Tendenz der Texte. Alfred Cattani berichtete, Albert Müller habe ab und zu Sätze aus Frisch-Beiträgen gestrichen, weil sie ihm zu deutschfreundlich waren.214
Glänzende Zukunftsaussichten
Die Hauptarbeit der Jahre 1941 und 1942 galt dem neuen Roman mit dem Titel: J'adore ce qui me brûle oder Die Schwierigen. Er erschien 1943 im renommierten Atlantis Verlag des aus Berlin in die Schweiz zurückgekehrten Verlegers Martin Hürlimann. Im selben Jahr gewann Frisch unter 82 Konkurrenten den ersten Preis im Architekturwettbewerb um das städtische Freibad Letzigraben. Mit dem Preis erhielt er auch den Bauauftrag. Damit konnte er sich selbständig machen. Im Haus der Tante seiner Frau an der Selnaustraße 16 bezog er mietfrei zwei Räume und richtete sein Architekturbüro ein (siehe S.211f.).
Auch auf literarischem Gebiet gab es erfreuliche Neuigkeiten: Kurt Hirschfeld, der Dramaturg des Schauspielhauses, ermunterte ihn, Theaterstücke zu schreiben. Ein erstes verfaßte Frisch in fünf, ein zweites in drei Wochen – und das Schauspielhaus nahm sie zur Aufführung an. Schließlich kam 1943 das erste Kind, die Tochter Ursula, zur Welt.
Die Bilanz konnte sich sehen lassen: Aus dem Außenseiter und Journalisten von 1936 war in sechs Jahren ein angesehener Architekt, ein Mitglied der besten Gesellschaft, ein Familienvater, ein prominent verlegter Prosa-Autor und ein angehender Dramatiker am ersten Theater des Landes geworden. Frisch hatte den richtigen Beruf, die richtige Adresse, die richtige Frau, den richtigen Verleger und die richtige, nämlich eine bürgerlich-konservative, Gesinnung. Trotz finsterer Zeiten lag eine glänzende Zukunft vor dem erst einunddreißigjährigen Mann.
Bin
oder Der Architekt als Freizeitschriftsteller (1942–1945)
Er habe die Architektur damals als sein Lebensziel begriffen und hauptberuflich als Architekt gearbeitet, berichtete Frisch. Nur in der Freizeit sei er Schriftsteller gewesen. Für unerwartete Einfälle habe allerdings immer ein Notizheft bereit gelegen. Die Selbstaussage ist nicht falsch, doch sie verschweigt, daß der Architekt Frisch oft keine Arbeit hatte und deshalb über viel Freizeit verfügte. Zwischen 1943, dem Jahr der Eröffnung des eigenen Büros, und 1947, dem Baubeginn des Letzigrabenbads, hatte er keinen einzigen Auftrag und beteiligte sich nur an zwei Wettbewerben. Wenn er (bis 1945) nicht im Aktivdienst war, nutzte er seine Zeit zum Schreiben. Im Frühjahr 1943 war ein neuer Roman erschienen.
J'adore ce qui me brûle oder Die Schwierigen
Er erzählte die Geschichte Jürg Reinharts bis zu dessen Tod weiter. Als Jugendgeschichte war dem neuen Text eine stark gekürzte Fassung des im Buchhandel nicht mehr erhältlichen Romanerstlings Jürg Reinhart vorangestellt215 .
Frisch schrieb mit dem neuen Roman also keine Fortsetzung von Antwort aus der Stille. Das hatte literarische Gründe, aber nicht nur. Es zeigte auch an, daß die Bescheidung in die bürgerliche Normalexistenz, die Frisch in der »Bergerzählung« vorgeführt hatte, für ihn nun keine Lösung mehr darstellte. Was ihm, der als Architekt wie als Dichter begabt zu sein schien, jetzt auf den Nägeln brannte, war nicht mehr das entweder Dichter oder Bürger, sondern die mögliche Vereinigung beider Lebensweisen. Zum dritten Mal machte Frisch im neuen Text die Vorausschau der eigenen Lebenssituation zum Thema.
In drei Teilen spielte er drei mögliche Konstellationen durch. Hinkelmann oder ein Zwischenspiel heißt der erste Teil. Heinrich Hinkelmann – der Name erinnert an Faust und Winckelmann – ist ein erfolgreicher Archäologe in Frischs Alter aus gutbürgerlich deutschem Pastorenhaus. Als geistiger Vorfahre des Homo Faber besitzt er »eine Art von harmlos-unerschütterlichem Selbstvertrauen, eine angstlose Zuversicht, daß ihm nichts in der Welt wirklich mißlingen könnte«.216 Er verliebt sich in Yvonne, die Tochter eines in Griechenland ansässigen, reichen Schweizers. Man heiratet und erprobt drei Jahre lang die Normalehe. Yvonne verwandelt sich innert kurzem von der Geliebten zur Mutterfigur, »deren Ziel es ist, daß ihr Mann ein möglichst großer Mann würde, und die im übrigen keine Rechte auf ihn hat«217 . Als Yvonne ein Kind erwartet, reagiert Hinkelmann unerfreut. Ein Kind hat keinen Platz in seiner Beziehung zur Ehefrau/Mutter. Yvonne ist von dieser Reaktion enttäuscht und verläßt ihren ›unmännlichen‹ Mann. Sie kehrt in die Schweiz zurück, um das Kind abzutreiben. Ihre Begründung: »Man bekommt kein Kind von seinem Sohn.«218
Im Erscheinungsjahr des Romans war Frischs Tochter Ursula, ein Jahr später der Sohn Hans Peter zur Welt gekommen. Frischs rückblickender Kommentar zu den Geburten ähnelt Hinkelmanns Reaktion. Hinkelmann: Er war »bereits unterrichtet, daß ein Kind in Aussicht stand, im Grunde wenig entzückt, aber ritterlich genug, seine männliche Eigensucht zurückzustellen und ihre weibliche Freude nach bestem männlichen Vermögen mitzumachen …«.219 Frisch: »Als jüngerer Mann habe ich mir Kinder nicht eigentlich gewünscht; die schlichte Nachricht, daß ein Kind gezeugt worden ist, hat mich gefreut, der Frau zuliebe.«220
Nachdem Yvonne ihn verlassen hat, bricht für Hinkelmann die Welt zusammen. Er bringt sich um. Die bürgerliche Normalehe, so das Fazit des ersten Romanteils, bringt keine Lebenslösung.
Im zweiten Teil, Turandot oder Das Heimweh nach der Gewalt, begegnen sich Jürg Reinhart und Yvonne in der Schweiz. Jürg ist Maler geworden und bemüht sich mit aller Kraft um künstlerische Selbstverwirklichung. Yvonne versucht mit Geigenunterricht und Büroarbeit ein materiell eigenständiges Leben zu führen. Sie sieht in Jürg einen verlockenden Ausweg aus ihrem unbefriedigenden Dasein als alleinstehende Frau.221 Reinharts Lebenscredo beeindruckt sie: »Alles, was man so Erziehung nennt, ist eine Schule der Verheimlichung, Angst ist unser Erbe, Angst, geboren aus der Verheimlichung alles Wirklichen, alles Ungemütlichen, alles Ungeheuren, das da ist … Wie sollten wir dankbar sein, daß wir leben! daß wir Wesen sind, die vergehen,