Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991. Urs Bircher
in die Geschichte eingegangen ist. Die Wurzeln dieser Ideologie reichen bis in die Kulturkrise nach dem Ersten Weltkrieg zurück. Die Gesellschaft, so vernahm man damals allenthalben, sei von »entwurzelten Großstadtmenschen« und »materialistischem Denken« »durchseucht«. Ein »heimatloses Literatengeschlecht« treibe sein Unwesen, »unter denen es dem ewigen Literaturjuden besonders wohl ist«, wetterte der konservative Volkskulturpapst Otto von Greyerz132 . Die Angst vor dem Neuen war panisch. Weder in der Architektur, noch in der bildenden Kunst, der Literatur oder der Musik hatte die kulturelle Avantgarde in der Schweiz ein Zuhause. Es herrschte der Geist eines »verkrampft politischen Kleinbürgertums«, das in seiner »Ungleichzeitigkeit« mit der technischen und ökonomischen Entwicklung für den Faschismus und Nationalsozialismus besonders anfällig war133 . Führende Intellektuelle der Zeit wie Schaffner, Oltramare, de Reynold sympathisierten offen mit diesen Ideologien.
Die kulturellen Axiome des Nationalsozialismus konnten allerdings nur beschränkt übernommen werden. Die Idee einer Überlegenheit der germanischen Rasse und Kultur über die französische war z.B. für den Erhalt einer mehrsprachigen Schweiz unbrauchbar. Völkische und sprachkulturelle Distinktionen zementierten in Deutschland den nationalen Zusammenhalt. In der multikulturellen Schweiz wären sie Sprengstoff gewesen. Hier mußte eine eigene kulturelle Identität geschaffen werden. Diese Aufgabe übernahm die »Geistige Landesverteidigung«.
Bereits 1934 erschienen erste Schriften, die unter diesem Schlagwort eine national-schweizerische Identität einforderten. Frischs Kritik am Zürcher »Emigrantentheater« mit seiner »leichtfertigen Deutschfeindlichkeit« gehört in diesen Zusammenhang. 1935 debattieren die eidgenössischen Räte das Thema mit dem Ziel eines gesamtschweizerischen Kulturkonsenses. Vom bislang üblichen Kulturföderalismus – jeder sollte in seiner Façon selig sein – ging man über zur offensiven Propagierung einer gesamtschweizerischen Volks- und Bodenideologie, unter deren Dunstglocke sich konservativ-heimattümelnde Kulturkritiker zusammenfinden konnten mit traditionalistischen, aber staatsverdrossenen Intellektuellen sowie mit sozial engagierten, national orientierten Fortschrittlern. 1938 erließ der katholisch-konservative Bundesrat Philipp Etter eine einflußreiche Kulturbotschaft, worin er in beschwörendem Gestus die Prinzipien der »Geistigen Landesverteidigung« postulierte: Wir gehören zwar ebenso zur französischen, deutschen und lateinischen Kultur, wir sind aber in der spezifisch schweizerischen Zusammenfassung dieser Kulturkreise ebenso etwas Neues, Ureigenes, eben etwas Schweizerisches.
Nicht Antifaschismus war der gemeinsame Nenner, auf dem sich die unterschiedlichen kulturellen Kräfte der Schweiz zusammenfinden sollten – ein solches Konzept hätte eine große Toleranz beinhaltet –, sondern die gesamte Kultur wurde eingeschworen auf einen zugleich diffusen wie engen Begriff des »Schweizerischen«. Gleichzeitig faßte Etter den Begriff der Kultur extrem konservativ: Für Geist und Kultur genüge, so der Bundesrat, der Name Jeremias Gotthelf.
An der »Landi 39« – der Landesausstellung in Zürich – erhielt das Konzept seine mythischen Weihen: Die Fahnen aller Schweizer Gemeinden formten vor der erhabenen Kulisse der Mythen – so heißen zwei Alpengipfel im Kanton Schwyz, die bei klarem Wetter von Zürich aus zu sehen sind – ein symbolisches und jedermann verständliches Dach über alle Schweizer. Wer sich diesem Dach entziehen wollte, geriet in den Ruch, ein unzuverlässiger Bürger zu sein. Kritik an der »Geistigen Landesverteidigung« grenzte an geistigen Landesverrat. So hatte die Schweiz in der Abgrenzung von ausländischen totalitären Ideologien ihre eigene entwickelt: auch sie intolerant, aggressiv und totalitär in vielen Zügen134 .
Max Frisch stand bei dieser Entwicklung nicht abseits. Hatte er in Jürg Reinhart noch ganz im Trend der zwanziger Jahre den einzelgängerischen, in der Fremde irrenden Selbstsucher thematisiert, so näherte er sich in Antwort aus der Stille dem Gedankengut der »Geistigen Landesverteidigung«. Inmitten des grandiosen einheimischen Alpenpanoramas fand Dr. Leuthold, der ehrgeizige Einzelgänger, dem die Niederungen der Normalität sterbenszuwider sind, zurück zur Gemeinschaft der Biederen und entdeckte die Würde der tätigen Eingliederung in und Unterordnung unter die Gemeinschaft.
Dabei war Frisch nicht einfach ein unpolitischer Mitschwimmer im nationalistischen Mainstream der Zeit, sondern ein engagierter Mitdenker, der, wie der folgende Brief zeigt, recht militant und unzimperlich auftreten konnte.
»Ihre satirischen Zeichnungen erreichen mehr als ein frontistischer Fackelzug«
Am 4. August 1938 schrieb Frisch an Gregor Rabinovitch, der als russischer Jude im Ersten Weltkrieg in die Schweiz emigriert und hier ein prominenter Karikaturist am Nebelspalter geworden war. Während etwa Bosco oder Bütsch, um zwei andere Karikaturisten der Zeitschrift zu nennen, stark von graphisch formalen Ideen ausgingen, orientierte sich Rabinovitch am satirischen und sozialethischen Realismus eines George Grosz und einer Käthe Kollwitz. Seine zeichnerisch bemerkenswerten Blätter, in denen er sowohl außenpolitische wie innerschweizerische Probleme aufs Korn nahm, überschritten oft das Genre der Karikatur in Richtung einer sozial engagierten Kunst. Frischs Brief an Rabinovitch lautet:
»Sehr geehrter Herr Rabinowitch!
Seit Jahren genieße ich den Nebelspalter, weil er mir, alles in allem genommen, in bestem Sinne schweizerisch erscheint, und kenne infolgedessen auch Ihre zeichnerische Mitarbeit135 , die in der Satire gewiß zum Schärfsten gehört, wobei ich nur immer wieder bedaure, daß ihr doch ganz wesentlich der Humor fehlt, jenes innerliche und freie Darüberstehen, das dem Künstler, ob er mit dem Stift oder mit der Feder arbeitet, doch allein das Recht gibt, über die Schwächen der andern zu lächeln.136 Glauben Sie nicht auch, daß Sie sich mit gewissen Zeichnungen, denen man eben nicht jenen Humor, sondern die Rache anspürt, nur ins eigene Fleisch schneiden und zwar mit der ganzen Schärfe, die Ihnen eignet? Ich verstehe nun dieses Ressentiment, das mir die Quelle fast all Ihrer satirischen Einfälle scheint, menschlich sehr gut, vielleicht sogar besser als Sie es mir nach diesem Brief zutrauen werden, der Sie beim ersten Lesen sicherlich verstimmen mag, aber es tat mir schon seit Jahren immer wieder leid, wenn ich sehe, wie manche Zeichnungen, wo sich das ganze Talent nur noch vom Hasse führen läßt, durchaus nicht jene treffen, die wahrlich auch nicht unsere Lieblinge sind, sondern vor allem den Mann, der jenen andern im Hasse nichts nachsteht und sich dennoch, ohne in seinem Zeichnen eine höhere Gesinnung zu verraten, zum Richter aufschwingt. Man hat dann stets das peinliche Gefühl, der Verspottete und der Spötter seien sich gleichwertig, und beide Teile sind nicht das, was unser schweizerisches Wollen ist.
Ich würde Ihnen, sehr geehrter Herr Rabinowitch, nicht schreiben, wenn ich mich nicht von persönlichen Vorurteilen frei wüßte; es geht mir um die Sache, die wir geistige Landesverteidigung nennen und der Sie, auch wenn Sie mit gutem Grund sicherlich das Gegenteil wollen, einen schlechten Dienst erweisen. Auch einfachere Leser spüren sicher, daß es Ihnen ja nicht für das Schweizerische, sondern gegen das Deutsche geht, das heutige Deutschland, das auch unsere Gefahr ist, wenn wir nicht wirklich etwas Eigenes sind; das aber heißt: schweizerisch ist nicht das Anti-Deutsche, womit wir uns ausliefern, sondern das Außer-Deutsche. Ich kann es Ihnen kaum klarer sagen. Aber ich spüre, Sie ahnen noch nicht, wie sehr Sie gerade ihrem Feind in den Sattel helfen! Ich
möchte Sie bitten, daß Sie mir das glauben. Darum schreibe ich Ihnen, nur darum; Ihre satirischen Zeichnungen erreichen mehr als ein frontistischer Fackelzug …
Unser Volk hat zur Zeit wieder ein sehr waches Empfinden; man spürt sehr bald, ob ein Mann für uns kämpft oder uns nur benützt, um gegen andere zu kämpfen. Ob jemand in unserer geistigen Landesverteidigung mitzuwirken berufen ist oder nicht, würde nicht davon abhängen, wie lange er schon im Lande ist; ich glaube, Sie sind schon lange hier, trotzdem ist Ihnen das Schweizerische sekundär, was ich spürte, bevor ich wußte, daß Sie, als Künstler einer sozusagen offiziellen Zürcherbildermappe, und vor allem auch Ihre Frau unserer schweizerischen Landessprache nicht nur fremd, sondern vollkommen gleichgültig gegenüberstehen, – und dies nicht als ein gewöhnlicher Herr, sondern als ein durchaus nicht unauffälliger Streiter im schweizerischen Nebelspalter.
Dies alles auf die Gefahr hin, daß Sie mich völlig mißdeuten, aber jedenfalls mit den besten Grüßen:
Max Frisch [Unterschrift] Sempacherstraße 71«137
Zu