Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991. Urs Bircher
Er ist verlobt und steht kurz vor der Hochzeit. Die Auspizien für eine gutbürgerliche Existenz stehen gut. Doch Leutholds Selbstempfinden widerspricht dieser Lebensperspektive. Er giert nach dem Besonderen, dem Höheren, dem Unkonventionellen. Vierzehn Tage vor der Hochzeit – sozusagen in Torschlußpanik – wagt er den letzten, verzweifelten Versuch, der scheinbar unentrinnbaren bürgerlichen Konvention zu entkommen. »Es ist sein letzter Versuch, wozu er aufgebrochen ist … Einmal muß man sein jugendliches Hoffen einlösen, wenn es nicht lächerlich werden soll, einlösen durch die männliche Tat …«113 Die männliche Tat um »Sein oder Nichtsein« besteht diesmal weder im Geschlechtsakt noch im Akt der Sterbehilfe, sondern in einer lebensgefährlichen Besteigung des noch unbezwungenen »Nordgrats«. Nordwand-Erstbesteigungen waren, dank neuer Klettertechniken, zwischen 1931 und 1938 in Mode: 1931 wurde erstmals die Nordwand des Matterhorns bezwungen, 1935 die Grandes Jorasses, 1938 schließlich die Eigernordwand, die lange als unpassierbar gegolten hatte. Frischs thematischer Hintergrund lag also ganz im Trend der Zeit.
Wer die gesellschaftliche Dimension menschlicher Selbstverwirklichung im Auge hat, mag in einer Bergkraxelei kaum eine Schicksalstat erkennen. Doch genau diese gesellschaftliche Dimension blendete Frisch, wie schon im Jürg Reinhart, auch diesmal aus: Nicht durch Bewährung im sozialen Leben, sondern im Einzelkampf mit sich und der Natur besteht die Herausforderung des »Schicksals«; nur in der außersozialen Ausnahmesituation reift der Mann.114
Der Plot ist auch diesmal einfach gebaut. Im Berggasthaus lernt Leuthold Irene kennen, eine junge Dänin. Ihr vertraut er seinen Plan an. Sie übernimmt an Leuthold eine ähnliche Funktion wie Inge an Reinhart. Sie lehrt ihn in langen Gesprächen, seine bürgerliche Existenz, aber auch seine Sehnsucht nach dem Außergewöhnlichen, mithin die Gespaltenheit seines Ichs, zu akzeptieren. Er träumt sich mit Irene in ein Land »ohne Alltag« und flieht auf den Flügeln der neuen Liebe in die Wunschgefilde eines außer-gewöhnlichen, eines erfüllten Lebens. Aber der Traum bricht vor der körperlichen Besiegelung jäh zusammen: Irene gesteht, mit einem kranken Mann verheiratet zu sein. Die bürgerliche Normalität hat den Ausreißer wieder eingeholt, die Flucht auf die romantische Insel ist gescheitert, die Konvention triumphiert. Also bleibt nur die Nordgratbesteigung, um der »Lächerlichkeit« und »Gewöhnlichkeit« zu entkommen.115 Leuthold überlebt das Bergabenteuer. Aber er kehrt nicht als Held, sondern als ein Geläuterter zurück, der angesichts des Todes erfahren hat, »daß es kein gewöhnliches Leben gibt, kein verächtliches Leben, das einfach wegzuwerfen wäre, und daß wohl alles genug ist, was wir wirklich erfüllen«.116 Die quälend empfundenen Zwänge eines normalen bürgerlichen Lebens verschwinden vollständig hinter der Dankbarkeit, überhaupt zu leben. Wenn es um »Sein oder Nichtsein« geht, wird die Frage nach dem »Wie-Sein« belanglos. Das große Problem der Integration in eine als lebenstötend empfundene Gesellschaft reduziert sich unter diesem Blickwinkel auf den persönlichen Reifeprozeß, auf die Bescheidung in den Alltag, auf die Annahme des ›Schicksals‹. Damit sind die normsprengenden Lebensansprüche aus Was bin ich? und aus Jürg Reinhart aufgegeben. Frisch selbst hat sich in einer literarischen Entlastungshandlung seinen Einstieg in die bürgerliche Gesellschaft freigeschrieben.
Die Wege ins bürgerliche Leben: Schreibverbot und Architekturstudium
Die Entscheidung gegen die Kunst und für die Bürgerlichkeit fiel 1936, als Frisch an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich (eth) das Studium der Architektur aufnahm. Sie wurde mit einer Manuskriptverbrennung besiegelt. Im Herbst 1937 »wurde alles Geschriebene zusammengeschnürt, inbegriffen die Tagebücher, und alles dem Feuer übergeben. Ich mußte zweimal in den Wald hinaufgehen, so viele Bündel gab es, und es war, ich erinnere mich, ein regnerischer Tag, wo das Feuer immer wieder in der Nässe erstickte, ich brauchte eine ganze Schachtel Streichhölzer, bis ich mit dem Gefühl der Erleichterung, auch der Leere weitergehen konnte.« – »Das heimliche Gelübde, nicht mehr zu schreiben, wurde zwei Jahre lang nicht ernstlich verletzt.«117
Die Gründe für diesen Entschluß waren vielfältig. Die ablehnenden Reaktionen Hermann Hesses, Werner Coninx' und anderer auf die »Bergerzählung« – die deutsche Tageskritik hatte sie überwiegend gelobt – bestärkten Frisch in der Furcht, als Schriftsteller nicht zu genügen. Später sprach er von einem eigentlichen »Zusammenbruch«,118 der ihn veranlaßt habe, die Schriftstellerei aufzugeben und, fünfundzwanzigjährig, ein Architekturstudium zu beginnen. Werner Coninx, der reiche Schulfreund, setzte ihm ein Stipendium aus: 16 000 Franken verteilt auf vier Jahre – eine ansehnliche Studentenbörse, die ungefähr dem späteren Anfangsgehalt des dipl. Arch. Max Frisch entsprach. Auch außerliterarische Ereignisse spielten wohl eine Rolle: 1936 wollte Frisch Käte Rubensohn heiraten. (Auf dem Zürcher Standesamt wurde ihm unaufgefordert ein Arierausweis ausgehändigt!) Käte lehnte den Heiratsantrag schließlich ab. Einmal, weil sie argwöhnte: »Du bist bereit, mich zu heiraten, nur weil ich Jüdin bin, nicht aus Liebe.« (Montauk) Zum andern habe sie ihn darauf hingewiesen, daß er »nichts erlernt hätte, was man einen Beruf nennen könnte«.119
Soweit die Geschichte, wie Frisch sie überliefert hat. Sie enthält manche Selbststilisierung. Zum Beispiel: Frisch hatte sein Architekturstudium damals keineswegs als Gegensatz zur Schriftstellerei konzipiert. Käte Rubensohn brachte ihn auf die Idee, zur Überbrückung literarisch nicht inspirierter Zeiten ein anderes Arbeitsfeld anstelle des zunehmend lästigen Journalismus zu suchen, ein Feld, das ebenfalls kreativ, aber nicht literarisch besetzt war. Auf Vermittlung ihres einflußreichen Onkels Ludwig Borchardt kam ein Beratungsgespräch mit Peter Meyer, dem Zürcher Professor für Architektur und Städtebau, im Café Select zustande. Frisch berichtete Käte davon in einem Brief vom 24. März 1936. Er bestätigt darin nicht nur ausdrücklich, daß er die Idee zum Architekturstudium von Käte erhalten habe, er hebt auch explizit den komplementären Nutzen von Architektur und Schriftstellerei hervor: Er denke, »daß es für mein Schreiben, also für das eigene, sehr förderlich sein könnte, wenn ich in einem völlig anderen, völlig literaturfernen Bezirk künstlerischen Wirkens mich betätigen dürfte, vorallem natürlich, weil die Architektur in hohem und glücklichem Maß mit dem Stoff, mit dem Material verbunden bleibt. Gerade dieses An-die-Dinge-heran ist ja meine Sehnsucht, dieser Wunsch auch nach Substanz im äußerlichen Sinn. Substanz im innerlichen Sinn, auch darin dürfte sich eine Bereicherung erhoffen lassen, nicht nur weil man mit Menschen völlig andren Geistes zusammenstößt und zum Beispiel auch volkswirtschaftlich manchen Einblick gewinnt, weil man diese praktischen Zeiten auf dem Bau mitmacht, was übrigens für mich ein prächtiger Fund sein dürfte – sondern vorallem weil man dem Wesen der Kunst vielleicht näher kommt, wenn man sie in zwei Ausstrahlungen nicht nur kennt, sogar auch ausübt. Ich glaube nicht, daß dann nichts mehr übrig bliebe auf beiden Seiten, im Gegenteil, vielleicht würde sich mein Schreiben von manchem reinigen, was nicht in diesen Bezirk gehört, und da die Architektur jedenfalls, ob ich sie so oder so ausüben würde, in engster Verbindung mit dem Leben, mit dem Wohnen, mit der sozialen Struktur einer Zeit steht, würde sie gewiß gerade für mein Schreiben, das ich auf keinen Fall preisgeben wollte, eine Bereicherung bedeuten.«120 Der Brief belegt, daß Frisch nicht, wie er später behauptete, das Schreiben zugunsten der Architektur aufgeben wollte; im Gegenteil, er reflektierte mit großer Sorgfalt die sinnvolle Kombination beider Tätigkeiten.
In den Herbst 1937 fiel auch die Trennung von Käte. Sie berichtete von einer schweren Krise: »Es war eine sehr sehr traurige Erfahrung, die wir beide machen mußten, daß die Liebe erloschen war, auf jeden Fall nicht mehr die alte war. Das Auseinandergehen fiel uns beiden unendlich schwer. Es gab Augenblicke, in denen ich ganz verzweifelt war, und ich habe mich nur aufgefangen, indem ich den Entschluß faßte (im Frühjahr 1938), nach Basel überzusiedeln, um die Trennung von Max zu überwinden.«121 Eine Schaffenskrise, Hesses negatives Urteil zur Antwort aus der Stille, die Trennung von Käte – es gab verschiedene Gründe für einen affektiven Zusammenbruch des jungen Manns.
Erst Jahrzehnte später hat Frisch die damalige Krise mit ihrer Manuskriptverbrennung und dem ›Schreibverbot‹ zu einer planvollen Handlung uminterpretiert.122
Zu berichtigen ist auch die Legende, Käte habe seinen Heiratsantrag 1936 abgelehnt, weil er »nichts erlernt hätte, was man einen Beruf nennen könnte«. Käte Schnyder-Rubensohn erinnert sich einer früheren Liebe Frischs namens Fanny – im Jürg Reinhart taucht sie als Erzählepisode