Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991. Urs Bircher
»Wunder des Lebens«, die »unleugbar eine Prachtleistung ist«, erstattete.104 Entzückt vom »glücklichen Mittelweg … zwischen allzu populärer Vereinfachung und allzu ausschweifender Gründlichkeit«,105 mit welcher hier ein »Hauptpfeiler nationalsozialistischer Ideen«, »nämlich die Naturwissenschaft«, veranschaulicht wird, bemerkte er nicht, wie sehr er mit diesem Entzücken den Nazis bereits auf den Leim gekrochen war. Indem er die ideologische Verzerrung von Naturwissenschaft, wie sie den Nazis eignete, umstandslos für Naturwissenschaft an sich hielt. Nur einen Punkt gab es, wo diese Verzerrung auch Frisch über die Hutschnur ging; immerhin liebte er zu dieser Zeit eine Jüdin. »Empörend ist dieser Selbstruhm, der seine eigene Rasse erhöht, indem er alles andere in den Schmutz stößt. Was die Ausstellung über die Juden bringt … läßt es uns äußerst schwer werden, über diesem dritten Reich das ewige Deutschland nicht zu vergessen.«106 Doch als sei diese Formulierung schon des Scharfen zuviel, nahm er sie im Nebensatz wieder ein Stück zurück. Er gestand den Nazis zwar ein »notwendiges Zurückdämmen« der Juden zu, bat sie aber auch, »die Rassenfrage nicht länger auf die Spitze« zu treiben.107
Man darf solche peinlichen Äußerungen nicht überbewerten. Frischs Ablehnung des Nazismus ist unbestritten. Doch sie war schmal begründet. Zum einen im Geschmack: Der bürgerliche Individualist und Traditionalist scheute die laute Massenbewegung der Gleichgeschalteten. Denn der »Weg zur wahren Gemeinschaft« verlaufe nicht über den Massenmenschen, sondern »über das erfüllte und selbstreife Individuum«.108 Zum anderen moralisch: Die Rassendiskriminierung ging ihm – über das »notwendige Zurückdämmen« hinaus – zu weit. Zum dritten verachtete er die politische Vereinnahmung der Kunst durch die Nazipolitik. Sie widersprach diametral seinem eigenen, unpolitischen Verständnis von Kunst. Und schließlich imprägnierte er sich mit einer schweizerischen Nationalideologie, der sogenannten »Geistigen Landesverteidigung«, gegen die Anfechtungen von außen. Diese Ideologie – im nächsten Kapitel wird davon ausführlich die Rede sein – war ein recht eigenartiges geistig-politisches Konglomerat, welches nicht nur die unterschiedlichsten Richtungen im Lande auf eine ideologische Linie brachte, sondern zugleich einen Riegel gegen die Versuchungen von jenseits der Grenzen schob, indem es zahlreiche Gedanken der dortigen Staatsideologie in abgewandelter Form integrierte. Frisch wurde ein glühender Vertreter dieses nationalschweizerischen Denkgebäudes.
Hier wird in »leichtfertiger Deutschfeindlichkeit gemacht«
Ein früher Text, der diese Gesinnung bereits in manchen Zügen zum Ausdruck bringt, ist der Brief, den er am 26. August 1934 an Käte Rubensohn schrieb: »Bald beginnt unser Schauspielhaus, das wieder ganz gute Kräfte besitzt, während der Spielplan einiges zu wünschen übrig läßt; besonders was die Uraufführungen anbelangt, scheint mir eine große Gefahr darin zu liegen, wenn sich ein hiesiges Theater, indem es unsere schweizerische Weltoffenheit übertreibt oder einseitig mißbraucht, zum Ableger verbotener Autoren macht, zum Emigrantentheater. Du wirst mich verstehen: die Beweggründe sind zu geschäftlich, man will die Gelegenheit benützen, ehemalige Berliner Berühmtheiten, die sich ohne den Umsturz zeitlebens einen Teufel um unser Schweizerländchen gekümmert hätten, bei uns aufzutrumpfen, ja, gewisse Stars sind nun billig und sogar für Zürich erschwinglich geworden, und es ist nicht der große Gedanke an Weltliteratur im Goethischen Sinne und die ernste Auffassung, daß diesen Verbotenen, wo sie wirklich etwas bedeuten, geholfen werden muß und daß es die Pflicht der Neutralen ist, dies zu unternehmen, nein, diese Geschäftsmanöver sind so ohne alle Gesinnung, und das Unglückliche daran ist es, daß sie trotzdem auf die Gesinnung wirken, d.h. daß hier in jener leichtfertigen Deutschfeindlichkeit gemacht wird, bloß weil es rentabel ist. Vielleicht sehe ich nun etwas zu dunkel, aber es scheint mir bekämpfenswert, wenn sich die Schweizer als Steigbügel hergeben, und gleich sündhaft, ob sich gewisse Kreise als hitlerische Provinz dünken möchten oder ob andere Leute, indem sie sich gegen das Dritte Reich propagieren lassen, sich zu einer Provinz des weimarischen Deutschland machen lassen. Wir sind Schweizer und müssen es heute leidenschaftlicher sein als je; unsere geistige Freiheit, die wir hochhalten werden zwischen drei Diktaturen, erfordert die völlige Unbefangenheit, scheint mir, und dürfte nicht auf diese Art mißbraucht werden. Das ist es: wir haben weder für noch gegen Deutschland zu sein, und daß gerade dies der durchschnittliche Deutsche in seinem Wahn, daß Deutschland die Welt bedeute, niemals begreift, bringt uns den irrtümlichen Vorwurf einer Deutschfeindlichkeit. Wäre eine wahrhaftige Deutschfeindlichkeit in uns, so wären wir gerade dadurch nicht mehr frei und von Deutschland nicht mehr unabhängig, wie wir es um jeden Preis sein müssen und sein wollen.«
Die Kritik an der Geschäftstüchtigkeit des damaligen Schauspieldirektors Ferdinand Rieser ist nicht aus der Luft gegriffen. Rieser war ein autoritärer Patriarch, geschäftstüchtig bis zur Gerissenheit, gefürchtet von seinen Angestellten wie von seinen Geschäftspartnern. Aber das war nur die eine Seite. Die andere war beachtlich. Nicht nur hatte er seit 1926 die Pfauenbühne mit Erfolg als Privattheater ohne städtische Subvention betrieben, sondern sie auch zu einer Bühne mit hohem künstlerischem und politischem Niveau aufgebaut. Gegen massive Widerstände aus Stadt- und Bundesregierung, von den Berufsverbänden und den Schriftstellervereinigungen engagierte er, und nicht erst sein berühmter Nachfolger Oskar Wälterlin, das legendäre Emigrantenensemble nach Zürich und rettete damit zahlreichen Spitzenkräften vermutlich auch das Leben.109
Interessant ist der Zusammenhang, in dem Frischs Brief steht. Wenige Monate zuvor hatten die Uraufführungen von Ferdinand Bruckners Die Rassen und von Friedrich Wolfs Professor Mamlock zu heftigen Krawallen der Frontisten gegen das Schauspielhaus geführt. Worauf Korrodi sich in der NZZ das »taktlose Hervortreten politischer Emigranten in unserem Land« energisch verbat – er meinte damit allerdings nicht die krawallierenden Frontisten, sondern die Theaterleute vom Schauspielhaus! Vom Theater verlangte er Kunst, das hieß für ihn Gesinnungsneutralität. Frischs Brief bläst in dasselbe Horn. Aufschlußreich ist auch Frischs politische Argumentation: Ob Weimarer Republik, ob Nazideutschland, ob Faschist oder Antifaschist, beides gilt ihm gleich, nämlich gleich falsch. Das einzig Richtige ist, proschweizerisch und weder für noch gegen Deutschland zu sein, auch wenn dieses Deutschland zum Terrorregime verkommen ist. Der echte Schweizer ist gesinnungsneutral. Genau diese Gesinnungsneutralität in den Medien hatten die Nazis seit ihrem Machtantritt von der Schweizer Regierung immer wieder gefordert. Aber der Bundesrat lehnte jede diesbezügliche Zensur mit dem Hinweis ab, die politische Neutralität der Schweiz beinhalte nicht die Eliminierung der Meinungsfreiheit. Indem Frisch sich in dieser Situation zum Anwalt der Gesinnungsneutralität machte, spielte er unfreiwillig den Nazis in die Hände.110
Alle restlichen Beiträge des Jahres 1935 sowie sämtliche Beiträge von 1936 hat Frisch aus den Gesammelten Werken verbannt. Der offizielle Grund: Ab der Mitte der dreißiger Jahre begann er nach einer anderen Lebensform zu suchen. Er empfand den freien Journalismus, diesen Kompromiß zwischen Bürger- und Künstler-Leben, zunehmend als Sackgasse. Der Zwang, auch dann »in die Öffentlichkeit« zu schreiben, wenn man gerade »nichts zu sagen hat«,111 habe ihn zu gedanklichen Wiederholungen, zu wortreichem Leerlauf, zu eitler Oberflächlichkeit verleitet. Soweit Frischs Selbsteinschätzung. In den rund dreißig Texten jener Zeit, die nicht in die Gesammelten Werke eingingen, finden sich in der Tat manche Gedanken, die er anderswo schon besser formuliert hatte. Aber nicht nur. Frisch schattete mit seinen Aussparungen auch die Tatsache ab, daß er seit 1935/36 ein überzeugter Vertreter der »Geistigen Landesverteidigung« war. Das nächste Kapitel wird sich damit eingehend befassen.
Antwort aus der Stille
Mitte der dreißiger Jahre stand Frisch erneut vor einer Wegscheide. Wollte er die journalistische Brotschreiberei aufgeben, so standen ihm prinzipiell zwei Wege offen: Entweder er setzte alles auf die Karte der Kunst und versuchte, sich als Berufsschriftsteller durchzusetzen. Oder er erwarb einen bürgerlichen Beruf zur Sicherung des Lebensunterhalts und betrieb die Schriftstellerei nebenbei.
Bevor er diese Entscheidung traf, spielte er sie auch dieses Mal in einem großen Text, der »Erzählung aus den Bergen« mit dem Titel Antwort aus der Stille, literarisch durch.112 In Jürg Reinhart hatte er die Möglichkeit der Selbstverwirklichung als Künstler beschrieben und sie dann zu leben versucht. Im neuen Text erkundete er den Weg zur künftigen Existenz als Bürger. Der Protagonist Dr.