Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991. Urs Bircher
Rubensohns Erinnerungen vermitteln darüber hinaus ein anschauliches Bild des jungen Dichter-Journalisten. Die erste Begegnung fand auf der Universität statt. »Es war im Proseminar von Professor Faesi. Ich war frisch von der Schule mit dem Abitur im Sack nach Zürich gekommen, denn in Deutschland konnte ich ja nicht mehr studieren. Das war 1934, da bin ich zum ersten Mal hingegangen, und Professor Faesi legte uns, ohne den Autor zu nennen, ein Gedicht vor, genannt Der Blumenelf. Faesi guckte sich um, hat mich als Neuling entdeckt und gefragt, scherzeshalber, ob das Gedicht wohl von einer eben aus der Schule Entlassenen sei. Er schaute mich an, worauf ich heftig mit dem Kopf schüttelte. Da begann ein junger Mann neben mir, ohne aufgerufen zu sein, zu sprechen: ›Um das Gespräch auf eine ernstere Basis zurückzuführen …‹ Ich riß die Augen auf ob soviel Dreistigkeit, jener aber fuhr fort: ›Einem bereits poetischen Gegenstand, der Blume, wird ein weiterer, der Elf, aufgepfropft. Das ist in meinen Augen Kitsch.‹ Das leuchtete mir ganz enorm ein und Professor Faesi auch, der sich ohne weiteres die kleine Dreistigkeit gefallen ließ. Es stellte sich zum Schluß heraus, daß das Gedicht von Gottfried Keller war … Der kecke junge Mann hatte einen runden dicken Kopf, ein gleichfalls rundliches Gesicht, die Augenlider konnte er nicht ganz gut öffnen, er trug einen hellgrauen Flanellanzug, keine Krawatte, weiße Schuhe und hieß Max Frisch.«92
Parsenn-Hütte bei Davos, 29. Februar 1936, mit Käte Rubensohn. Foto Käte Schnyder-Rubensohn.
»Wie ich ihn 1934 kennengelernt habe«, so erinnerte sie sich weiter, »war er ein armer Schlucker und hat Mühe gehabt, das Nötigste zusammenzukriegen … Einmal hatte er nur noch sieben Franken, sonst nichts.« 1936 sprach die städtische Kulturkommission dem »in großer Notlage« befindlichen, jungen Dichter eine »Aufmunterungsgabe« in der Höhe von 1000 Franken zu. Der chronische Geldmangel habe ihn gezwungen, immer wieder Teile aus dem dichterischen Werk herauszubrechen und journalistisch zu verwerten.93 Ansonsten habe ihn die Armut kaum bedrückt. Frisch sei kein Bücherwurm gewesen, sondern ein lebenslustiger, junger Mann voll sprühenden Humors. Tage- und nächtelang habe man Mensch-ärgere-dich-nicht, Halma oder Schach gespielt, letzteres sogar brieflich. Auch Sport habe er oft und gern getrieben. Er lief Schlittschuh, Ski, fuhr Rad, spielte Tennis und – mit Ehrgeiz bis ins hohe Alter – Tischtennis. Mit vierundzwanzig Jahren habe er noch schwimmen gelernt.94 Diese Lebenslust habe allerdings ihre Kehrseiten gehabt: Max sei aus Unsicherheit oft aggressiv und auftrumpfend gewesen und dauernd auf Selbstverteidigung aus. Er habe rigoros und unnachsichtig über Menschen geurteilt und sei häufig von Depressionen, von Lebensekel und schweren Selbstzweifeln heimgesucht worden, die sich bis zur psychischen Selbstzerfleischung steigern konnten, wenn ihm gerade wieder einmal die Schreibeinfälle ausgingen. Gegen Depressionen hätten vor allem Wanderungen geholfen. »Es wird immer zweifelloser, daß ich ein glückliches Aufrichten nicht aus mir beziehen kann«, schrieb er an Käte, »auch selten aus andern Menschen, eher schon aus großer Kunst, aus einer Musik etwa, am meisten aber aus solchen Anblicken der Landschaft, der äußern Welt, wenn sie uns wie ein Wunder begegnet und wenn es vollauf genug ist, zu leben, damit man sie anschauen darf.« Aus diesem Grund sei man sehr viel gewandert.95
In inspirierten Zeiten dagegen habe Frisch Tag und Nacht am Schreibtisch verbracht. »Ich bin nun ein wenig abgespannt«, schrieb er an seine Freundin, »da ich einen wunderlichen Lebenswandel führte; es kam vor, daß ich ohne Frühstück anfing und dann gegen drei Uhr eine Suppe machte, manchmal eine Bummelstunde im Freien, und dann ging es weiter in die Nacht hinein. Die Zeit war zu knapp; es war eine wilde Hetzerei, zumal schon das Schreiben immer viel Mühe macht, wenn man nochmals eine Stelle ändern mußte. Das Verrückteste aber war, daß ich gerade in diesen letzten acht Tagen, wo ich noch den letzten Akt entwerfen und die andern ergänzen mußte, eine neue Idee hatte, die mich nicht in Ruhe ließ; nachts um zwei Uhr zog ich die Hosen an und setzte mich ins Wohnzimmer und schrieb bis vier Uhr. Es ist ein Lustspiel märchenhafter Art, manche lustige und reizvolle Scene ist mir gelungen, immer nebenbei, während ich kochte oder aß oder ausging, um über meine andere Arbeit nachzudenken. Es machte mir ungeheuren Spaß, allerdings immer mit dem schlechten Gewissen, daß ich ja eigentlich arbeiten sollte. Nun ist ein Drittel dieser Komödie da, dazu allerlei Splitter, aber ich habe keine Ahnung, wie das Ganze weitergeht, und vorallem, ob dieses leichte und geradezu unwillkürliche Hinschreiben weiteranhält. Ich glaube es nicht … Aber Freude hat es mir gemacht.«96
Erste Deutschlandreise
Im März 1935, inmitten der heftigsten politischen Unruhen, reiste Frisch zum ersten Mal ins nationalsozialistische Deutschland. Er berichtete der Freundin: »korrodi hat mir die versprochnen 120 franken gegeben, voraussichtlich liefere ich ein tagebuch meiner reise, friedliche impressionen … natürlich nichts scharfes. jedenfalls schreibe ich es erst nach meiner rückkehr, wenn ich den ganzen überblick über den stoff habe.«97 »Friedliche Impressionen« und »nichts Scharfes«; der an Politik nicht interessierte Schriftsteller wußte sehr wohl, was sein Blatt von ihm erwartete.
Frisch deklarierte seine Reise als »Probe für unsere eigene geistige Haltung … denn kein Deutschschweizer … wird leichten Herzens das nachbarliche Deutschland aufgeben dürfen … und unsere kulturelle Zusammengehörigkeit kündigen können«.98 Frischs Frage im Reisegepäck hieß: Ist »Deutschland, dessen klassische Sprache uns künstlerisches Vorbild ist« noch das Deutschland der »Dichter« und der »Stillen«, »etwa eines Carossa«, oder nur noch eines der »brüllenden Massen« und der »Volksredner«?99
Zürich, im Café Studio, 30. August 1937, mit Käte Rubensohn. Foto Käte Schnyder-Rubensohn.
Dieser Frage lag eine Einschätzung zugrunde, die damals unter Schweizer Intellektuellen weit verbreitet war. Sie lautete: Das wahre Deutschland ist das der Dichter und Denker: Als eine Art Störung hat sich der Nationalsozialismus der brüllenden Massen, eine geistlose, proletische Bewegung, vorübergehend darin breit gemacht. Säuberlich getrennt handelte Frisch denn auch seine Reisebeobachtungen ab, die er in vier Folgen in der NZZ ausbreitete.100
In Stuttgart begeistert sich der künftige Architekt für den Bahnhof: »das Schönste und Höchste, was unsere Zeit schafft«. Paul Bonatz hatte ihn zwischen 1911 und 1926 als kühne Kombination von modernster Stahlkonstruktion und urtümlichem Quaderbau aus Muschelkalkblöcken errichtet. Der Bau erregte internationales Aufsehen. In seinem Turm »hauste«, so weiß der Journalist zu berichten, während der Revolution im zweiten Reich die Stadtregierung.101 Drei blanke Dolche in der Parteibuchhandlung offenbaren dem Chronisten die eine, das Gespräch mit einem Verlagsleiter die andere Seite Deutschlands: Hier erfuhr er, daß die »Blut- und Schollen«-Literatur mit dem »Mistgeruch« in Deutschland »kaum mehr gekauft« würde, auch in der Schweiz »stoße man auf ein zähes Mißtrauen, fast auf einen Boykott«. Zwar fände die nsdap-Literatur schon großen Absatz, doch das seien Pflicht-, nicht Neigungskäufe.
Es wäre falsch, dem jungen Frisch besondere Realitätsblindheit vorzuhalten. Beinahe alle deutschen Intellektuellen hielten noch Mitte der dreißiger Jahre die Naziliteratur für zu dumm, um ernsthaft Schaden anrichten zu können. Auch in Berlin war es ein Buchhändler, der über Deutschlands Geisteszustand Beruhigendes zu berichten wußte. Das »stille Buch« sei wieder gefragt, man suche wieder »die Gedanken eines umfassenderen, höheren und ewigeren Geistes«.102 (Der Komparativ ›ewiger‹ ist wohl eine unbeabsichtigte Ironie.) Als leuchtendes Beispiel für dieses »stille« Buch pries Frisch Hans Carossas Kriegstagebuch aus dem Ersten Weltkrieg, das Rumänische Tagebuch: »Da ist diese menschliche Größe, die sich in einer flammenden und blutigen Welt, wo alles aus den Fugen fällt, zum Glauben an den Sinn durchringt; da ist diese weite Kraft, daß einer neben dem Einschlag der Geschosse noch die blühende Blume sieht; da ist die erlösende Geduld, die nicht ins Fuchteln und ins Verzweifeln stürzt, sondern das gottgesetzte Schicksal still und männlich-demütig erfüllt; da ist ein dichterischer Kristall, wie er nur werden konnte unter dem ungeheuren Druck eines Weltschicksals.«103 Gottgesetztes Schicksal und männlich-demütige Erfüllung, Geschoß und Blume, Weltenschicksal und dichterischer Kristall – Frisch geriet