Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911-1991. Urs Bircher
zu bleiben; er wurde wieder Dramaturg, doch nicht, wie erhofft, Mitglied des Verwaltungsrats. Den vom Verwaltungsrat gewünschten deutschen Theaterdirektor und sozialdemokratischen Immigranten Carl Ebert ließ man schnell wieder fallen, als der Chef der Fremdenpolizei, Heinrich Rothmund, mit Nachdruck einen schweizerischen Freund empfahl. Dieser Freund galt zwar der Bundesanwaltschaft politisch »als ein Kind«, er hatte jedoch im In- und Ausland künstlerisches Aufsehen erregt, Leitungserfahrung gesammelt und er bot Gewähr für eine loyale Haltung gegenüber dem Verwaltungsrat. Schon einige Jahre zuvor hatte nämlich in Basel ein Theaterverwaltungsrat den dortigen Direktor Oskar Wälterlin, so der Name des Freundes, ohne Probleme zum Teufel gejagt – wegen eingestandener Homosexualität. So kam, was in der späteren Legende als Heldentat erschien, in Wirklichkeit als Kompromiß nach vielen Seiten zustande.151
Das Architekturstudium
Die weiteren Veröffentlichungen Frischs aus jenen Jahren sind Fingerübungen ohne großen Belang. Frischs Hauptbeschäftigung galt dem Studium der Architektur. »Wieso grad Architektur? Der Vater ist Architekt gewesen (ohne Diplom); das durchsichtige Pauspapier, die Reißschiene, die wippen kann, das Meterband als verbotenes Spielzeug. Ich zeichne exakter, als ich vorher geschrieben habe. Als Zeichner von Werkplänen komme ich mir übrigens männlicher vor.«152 So Frisch im Alter. Auffällig ist, daß er nun den Einstieg in die bürgerliche Welt als Weg in den Fußstapfen des Vaters sah, der ihm sonst kaum Vorbild gewesen war. In der Psychologie signalisiert diese Vaternachfolge Übereinstimmung mit der herrschenden Ordnung. Wie dem auch sei, in der Tat machte sich Frisch nun mit Konsequenz daran, wenn schon kein bedeutender Dichter des Bürgertums, so doch ein angesehenes Mitglied der gutbürgerlichen Gesellschaft zu werden.
Seine wichtigsten Lehrer waren William Dunkel und Otto Rudolf Salvisberg, beide Architekturprofessoren an der eth seit 1929. Salvisberg (1882–1940), der Sohn wohlhabender Berner Bauern, kam nach Ausbildungs- und Gesellenjahren in der Schweiz und in Deutschland 1908 nach Berlin, dem Mekka der modernen Architektur. Gropius, Wright, Behrens, Mies van der Rohe, Le Corbusier, Taut u.a. wirkten dort. Er wurde nach dem Ersten Weltkrieg einer der meistbeschäftigten Architekten und baute allein zwischen 1918 und 1923 an die 2500 (!) Häuser. Er kannte die Moderne – er baute z.B. das erste Geschäftshaus aus Sichtbeton in Berlin –, war jedoch kein Theoretiker und Entdecker neuer Wege. In der Inflationszeit errichtete er zahlreiche Berliner Villen, u.a. das Haus Flechtheim, das sich Göring 1933 aneignete. In Bern realisierte Salvisberg das Lory-Spital. Ab 1935 wurde er gewissermaßen Hausarchitekt von Hoffmann-La Roche und schuf neben deren Hauptsitz in Basel auch zahlreiche Niederlassungen im Ausland. Vom Bauhaus und von Le Corbusier hielt er wenig. Gropius seinerseits schrieb über Salvisberg: »Ich halte ihn keineswegs für einen ersten Mann, der aus eigener schöpferischer Quelle schafft, aber er hat ein sehr gediegenes Können.«153 Frisch beschrieb ihn als Mann, der von den Berliner Erfolgen getragen gewesen sei und der im Bewußtsein lebte, daß er seine Sache anderswo schon gemacht habe.154 Salvisbergs Vorlesungen waren im Wortsinn: Gebäudelehre. Geistige Höhenflüge boten sie nicht.
William Dunkel, geboren 1893 in New York, später Bürger von Bubendorf, Schweiz, wurde bekannt durch »originelle, eigenwillige schöpferische Leistungen in spontanem Kontakt mit den Gegenwartsproblemen«, so das Lexikon der Schweizer Künstler. Seine Dissertation galt dem modernen amerikanischen Städtebau. In seinen Düsseldorfer Jahren (1921–1929) entwickelte er sich zu einer Kapazität auf diesem Gebiet. Im Unterschied zu dem im Wohnungsbau noch immer üblichen Flachbau propagierte er den Stahlskelett-Hochhausbau als die Wohnform der Moderne. Sein Brückenkopf-Hochhaus in Düsseldorf (1924–1929) erregte Aufsehen. 1929 kam er mit sechsunddreißig Jahren als jüngster Architekturprofessor nach Zürich. Seine Wohnbauten in Zürich (Engepark) und Basel (Schützenmattstraße) erhielten Auszeichnungen für gutes Bauen, sein Entwurf eines riesigen, oktogonalen Stadions in Zürich wurde zwar mit dem ersten Preis ausgezeichnet, doch im Unterschied zum Letziparkstadion, das er ebenfalls entwarf, nicht gebaut. Auch sein Modell eines neuen Stadttheaters kam, obschon prämiert, nicht zur Ausführung, dafür das Lochergut, die ersten Hochhäuser Zürichs. Auch Frisch hat eine Weile dort gewohnt.155 Dunkel war primär Konstrukteur, nicht Theoretiker und Vordenker. Die Studenten hatten zu lernen, wie ein Gebäude oder eine urbane Situation technisch zu projektieren sei. Stilistische, künstlerische und planungspolitische Fragen blieben, so Frisch in der Retrospektive, ebenso ausgeklammert wie »das Unpapierene, Greifbare, Handwerkliche«, das er sich vom Architektenberuf erhofft hatte. Damit aber vermißte er genau jenen doppelten Praxisbezug, den er sich im Studium erarbeiten wollte: den Bezug zum Handwerk ebenso wie den Bezug zur gesellschaftlichen und politischen Dimension der Architektur. Vor allem dieser zweite Bezug sollte den Architekten Frisch noch besonders beschäftigen. In der Stadtplanung, seinem Lieblingsthema, wird er die Besitz- und Eigentumsverhältnisse der eigenen Gesellschaft kritisch zu analysieren beginnen und die Architektur vom reinen Bauhandwerk weg hin zur Konstruktion einer idealen gesellschaftlichen Lebensform weiterdenken. Damit aber wird er den Rahmen der konventionellen Architekturlehre sprengen und kritischer Gesellschaftstheoretiker anhand der Bautätigkeit eben dieser Gesellschaft werden. Das Studium klammerte solche politische Dimension tunlichst aus, weshalb es Frisch zwar »mühelos und mit linker Hand« (K. Schnyder-Rubensohn), doch ohne besonderes Engagement absolvierte.
Von der geistigen zur militärischen Landesverteidigung
Am 1. September 1939 überfiel Deutschland Polen. Zwei Tage später traten England und Frankreich in den Krieg. Der Schweizer Bundesrat ordnete die Generalmobilmachung an. Die Vereinigte Bundesversammlung hatte bereits am 30. August den Gutsherrn und Berufsmilitär Henri Guisan zum General, dem Oberbefehlshaber der Schweizer Armee zu Kriegszeiten, gewählt.156 Max Frisch, der gerade mit seinem ersten Bauauftrag, einem Taubenhaus und einem Kinderplanschbecken, beschäftigt war, rückte als Kanonier ins Tessin ein. Hier wurde er beim Bunkerbau eingesetzt. Vom Frieden zum Krieg, vom Taubenhaus zum Bunker – der Übergang hätte symbolischer nicht sein können.
In der Armee begann Frisch wieder intensiv zu schreiben. Er verfaßte ein Tagebuch, die Blätter aus dem Brotsack: »Nach den ersten [schriftstellerischen, U.B.] Anfängen, die sehr ungenügend waren … gab ich mir das Versprechen, nie wieder zu schreiben, und dann brach der Krieg aus, und unter dieser Bedrohung, die ich damals sehr ernst nahm (ich hatte nicht gedacht, daß wir ausgelassen würden), hab ich sozusagen für die letzte Zeit, die noch blieb, nochmals für mich diese Notizen gemacht und ohne jede theoretische Überlegung, ohne jede Reflexion in dieser unpraktischen Situation des Soldatseins natürlich das Tagebuch gewählt, denn das war möglich, daß ich in einer halben Stunde Feierabend, oder zwischendurch Notizen machen konnte; und ich habe eigentlich dort ohne viel Bewußtsein eine Form für mich entdeckt, die offenbar eine der möglichen Formen für mich ist.«157
Die Todesahnung war nicht unberechtigt. Die Spitzen von Politik und Armee rechneten 1939/40 ernsthaft mit dem Einmarsch der Reichswehr, und sie wußten auch, daß die Schweizer Truppen diesen Angriff nicht hätten aufhalten können. In Jonas und sein Veteran erinnerte Frisch an die Dramatik des 14. Mai 1940, an den Tag, an dem der Einmarsch erwartet wurde.158 Man saß hilflos und wehrlos herum und wußte, in wenigen Stunden konnte alles vorüber sein; man dachte an Selbstmord, an die unerfüllt gebliebenen Sehnsüchte, an den Tod. Der Kommandant der Einheit kommandierte »Bereitschaft zum Letzten, zum Sterben«.159 Wohl eher ins Reich der Legende gehört die Geschichte von der zufälligen Formfindung des Tagebuchs. Immerhin hatte sich Frisch bereits 1935 in Berlin für Hans Carossas Kriegstagebuch begeistert160 und im selben Jahr, in der NZZ vom 16. September 1935, ein eigenes Taschenbuch eines Soldaten in Form eines Tagebuchs publiziert. Vorbild und Erfahrung waren also vorhanden. Eine wirklich eigene Tagebuch-Form entwickelte Frisch erst im Tagebuch 1946–1949.
Blätter aus dem Brotsack. Tagebuch eines Kanoniers
Vom 1. September 1939 bis zum 17. Mai 1945 leistete Frisch in mehreren Etappen rund 650 Diensttage, das heißt er verbrachte ein knappes Drittel jener Jahre im Aktivdienst. Die Blätter aus dem Brotsack schrieb er hauptsächlich vom 1. September bis zum 18. Oktober 1939, sie erschienen im selben Jahr.161 Der Anlaß zum Text war, so Frisch, der Auftrag seines Hauptmanns, ein »Tagebuch unseres Grenzschutzes« zu verfassen.162
Die Blätter,