Inspiration Schweiz. Группа авторов
Ebel
Der Denker von der
Bäumleingasse
Erasmus von Rotterdam fand in Basel alles, was er brauchte: Drucker und Schnellpost, Burgunder und kluge Gesprächspartner, einen wärmenden Kamin.
Erasmus von Rotterdam war nicht nur der erste politische Asylant der Schweiz, sondern auch der erste Intellektuelle von europäischem Format. Der Sohn eines Pfarrers aus Gouda hatte die geistlichen Weihen empfangen, aber er war weder fürs Priesteramt noch fürs Kloster geschaffen. Erasmus war Weltbürger, Lebe- und Weltmann, eine Art Voltaire oder auch Enzensberger des Humanismus: geistreich, ironisch, streitlustig und doch immer auf Ausgleich und kommunikative Verständigung bedacht. Und ungeheuer produktiv: Um die hundertfünfzig Bücher soll er geschrieben haben und ausserdem dreissig bis vierzig Briefe jeden Tag.
Er ging keinem Disput mit religiösen Fanatikern und scholastischen Haarspaltern aus dem Weg; seine ketzerischen Ansichten hätten ihn leicht auf den Scheiterhaufen bringen können. Aber Erasmus war viel zu elegant, vieldeutig und vorsichtig, als dass er sich hätte festlegen lassen.
Und er hatte mächtige Freunde. Wenn es brenzlig zu werden drohte, zog er sich gern in ein «kaltes Schneckenhaus der geistigen Unabhängigkeit» (Stefan Zweig) zurück; so liess er etwa 1523 in Basel seinen todkranken, verzweifelten Freund Ulrich von Hutten vor seiner Tür schmoren.
Seinen Ruhm konnten derlei unschöne Vorfälle nicht mindern, im Gegenteil. Deutsche, Engländer und Franzosen wollten Erasmus als einen der Ihren vereinnahmen. Päpste, Kaiser und Könige suchten seinen Rat und belohnten ihn mit Ehrenpensionen, Pfarreien oder auch (imaginären) Bistümern auf Sizilien. Zwingli und Luther wollten den «Goliath» für die Sache der Kirchenreform gewinnen. Erasmus war nicht unempfänglich für Schmeicheleien und alles andere als ein Held. Mut, sagte er einmal, ziert den Schweizer Söldner; der Gelehrte brauche Ruhe. Aber er liess sich nicht kaufen oder einschüchtern.
Erasmus hatte an den bedeutendsten Hochschulen Europas gelehrt – Sorbonne, Oxford, Cambridge, Padua, Bologna, Löwen – und in den wichtigen Metropolen seiner Zeit gelebt, in Venedig, Florenz, Rom, Paris, London. Er stand mit den grossen Geistern seiner Zeit, von Thomas Morus bis Luther, auf vertrautem Fuss und hatte zu allem etwas zu sagen: Fürsten- und Kindererziehung, Gnadenwahl und Bauernkrieg, Grammatik und Bibel, Diät und Dummheit. «Adagia», seine Zitatsammlung antiker Schriftsteller, wurde zum unentbehrlichen Vademecum intellektueller Snobs; sein berühmtes «Lob der Torheit» («Nur wer im Leben von der Torheit befallen ist, kann wahrhaft Mensch genannt werden») erlebte noch zu seinen Lebzeiten 36 Auflagen. In seinen «Colloquia familiaria» plauderte er über verlauste Gasthausbetten und die Vorteile des Frühaufstehens, gebildete Frauen und seine kratzbürstige Basler Haushälterin Margarete Büsslin.
«Wo ich meine Bücher habe, ist meine Heimat»: Dass dieser ruhelose Kopf fast zehn Jahre in Basel lebte, länger als in jeder anderen Stadt, spricht für die Stadt. Basel war damals ein Hort religiöser Toleranz und humanistischer Gelehrsamkeit. In der Mitte Europas gelegen, leidlich weise regiert, frei von Krieg, Pest und Inquisition, hatte Basel alles, was ein Meisterdenker vom Kaliber Erasmus’ brauchte: kluge Gesprächspartner wie Oekolampad, Beatus Rhenanus und Glarean. Aber auch edlen Burgunder, Schnellpost, Bibliotheken und nicht zuletzt einen Drucker von Weltrang.
Erasmus verlegte in Johann Frobenius’ Kontor seine Bücher und machte das Verlagshaus zur Qualitätsmarke. Im Gegenzug bekam er ein Heer von Redaktoren, Schreibern und Boten für seine ungeliebte Fronarbeit als Herausgeber antiker Autoren und Kirchenväter sowie Kost und Logis gestellt. So nahm Erasmus zwischen 1514 und 1536 immer wieder bei Frobenius Quartier: erst im Haus zum Sessel, dann im Haus zur alten Treu am Nadelberg (wo Hans Holbeins berühmtes Erasmusporträt entstand), zuletzt im Haus zum Lufft; das heutige Erasmushaus in der Bäumleingasse 18 beherbergt, passend, ein Antiquariat.
Der Mann war ein anspruchsvoller Gast; seine Abneigung gegen Schmutz und Lärm, Ungeziefer und pöbelhafte Manieren waren legendär. Um die üblen Gerüche der Basler Altstadtgassen zu meiden, nahm er weite Umwege in Kauf.
Sein Gastgeber Frobenius tat alles für ihn: Der ewig fröstelnde Erasmus bekam Pelze, Bettdecken und einen Kamin, weil er angeblich allergisch gegen Herdfeuer war, dazu teure Kerzen, weil das Flackerlicht des Kienspans seinen nächtlichen Studien abträglich war, und natürlich Wein und Fleisch an allen Tagen. Für sein kränkelndes «Körperchen» hatte Erasmus einen päpstlichen Dispens erwirkt.
In Basel fand Erasmus seine Ruhe, aber letztlich doch kein Schlaraffenland oder gar das Paradies der Freiheit. Als die Stadt 1529 ins Lager der Reformation wechselte, musste er für sechs Jahre ins Exil ins nahe Freiburg im Breisgau ausweichen, was in Anbetracht der Flöhe, des sauren Weins und der katholischen Frömmler eine Zumutung war. 1535 kehrte der verlorene Sohn, schwer gezeichnet von Gicht und Rheuma, nach Basel zurück und wurde mit allen Ehren wieder aufgenommen. Nach seinem Tod am 12. Juli 1536 wurde er im protestantischen Münster begraben: eine seltene Ehre für einen Freigeist, der dem Papsttum nie abgeschworen hatte.
Seither kann man, wie Stefan Zweig in seiner Biografie schrieb und das Basler Stadtmarketing jederzeit bestätigt, «Erasmus nicht mehr denken ohne Basel und Basel nicht ohne Erasmus».
Martin Halter
«Vor diesem Bild kann manchem der Glaube verloren gehen»
Ein Bild im Kunstmuseum Basel spielt eine zentrale Rolle in dem Roman, den Dostojewski in der Schweiz 1867/68 begann: «Der Idiot».
Anna Grigorjewna war erst die Stenotypistin Dostojewskis. Sie half ihm, in 24 Tagen den Roman «Der Spieler» zu Papier zu bringen und so einen Knebelvertrag mit seinem Verleger zu vermeiden. Die gemeinsam durchgestandene Prüfung hatten den Autor und seine 25 Jahre jüngere Sekretärin zusammengeschweisst: Im Februar 1867 wurde in St. Petersburg geheiratet.
Zwei Monate später waren die Dostojewskis auf der Flucht vor den Gläubigern. Nach Berlin und Dresden war Baden-Baden die dritte Station ihres Exils. Nach entsetzlichen Verlusten im Spielcasino musste Dostojewski abreisen, ohne dass er die verpfändeten Kleider seiner Frau hatte auslösen können. Die Spielverluste und die immer häufiger werdenden epileptischen Anfälle ihres Mannes versuchte Anna Grigorjewna «mit philosophischer Kaltblütigkeit» zu ertragen, wusste sie doch seit einigen Wochen, dass sie schwanger war.
Ende August 1867 reisten die Dostojewskis von Baden-Baden über Basel nach Genf, wo sie für die nächsten Monate Wohnsitz nahmen. Warum gerade Genf? «Kann ich das wissen? Ist’s nicht ganz gleich?», kommentierte Dostojewski gegenüber Freunden die Wahl seines neuen Aufenthaltsortes.
Obwohl er sich am «wunderbaren» See mit seinen «malerischen» Ufern erfreuen konnte, wurde er kein Freund der Stadt Calvins. Wiederholt beklagt er sich in seinen Briefen über die Bise und die ständigen Wetterumschwünge. «Tagelang stürmt es hier, und selbst an den gewöhnlichsten Tagen wechselt das Wetter drei- und viermal. Und dies soll ich mit meinen Hämorrhoiden und meiner Epilepsie aushalten!»
Kaum zum Aushalten fand Dostojewski auch die Schweizer. «Wenn Sie eine Ahnung hätten, wie unehrlich, gemein, unglaublich dumm und unentwickelt die Schweizer sind!», schrieb er einem Freund. Auch Anna Grigorjewna ärgerte sich über die Selbstzufriedenheit und den «einfältigen Patriotismus» der Schweizer. Am schlimmsten empfanden die Dostojewskis aber die Unsauberkeit dieser «Barbaren», die sich mangels öffentlicher Bäder nur selten wüschen. «Der Kirgise in seiner Jurte wohnt sauberer!», berichtete Dostojewski «ganz entsetzt» nach Russland.
Trotz seiner Beschwerden konnte Dostojewski den Aufenthalt in Genf für die Arbeit an einem neuen Roman nutzen: Unterbrochen von einigen Abstechern in die Spielcasinos von Saxon-les-Bains nahm er in Genf den «Idiot»