Die Unbeirrbare. Barbara Kopp

Die Unbeirrbare - Barbara Kopp


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       Dies zur Illustration, damit Du, bis Du selbst Augenzeuge wirst, auf einem eventuellen Europabesuch per Zepp [Zeppelin] so ungefähr eine Ahnung hast, wo in der Welt meine Geistesprodukte wuchern & wo ab & zu mal ein Päukbrief entsteht. – (…)

       Also, Tschau Päuk, mit 1000 Grüssen und Küssen, Deine Trut.1

      Im unteren Stockwerk des Mehrfamilienhauses leben die Eltern, die jüngere Schwester Elisabeth und zeitweise auch ein Dienstmädchen. Anders als die Schwester hat die Gymnasiastin nichts für Handarbeiten oder Tier- und Blumenbilder übrig. Der Ausblick aus dem Fenster, ein Versprechen baldiger Freiheit, ohne das Kopfkissen unter dem elterlichen Dach aufgeben zu müssen, ist mehr nach ihrem Geschmack. Die Angabe, ihr Fenster gebe den Blick «gegen die Berge» frei, trifft zu – bei entsprechender Wetterlage. Denn Wallisellen, ihr Wohnort, grenzt an die Stadt Zürich und liegt inmitten ausgedehnter Felder und Wiesen. An der Glatt, einst ein mäandernder Fluss, der die Gegend überschwemmte und versumpfte, stehen die Fabriken, und hier befindet sich auch die Zwirnerei «Zwicky Nähseide und Nähgarn», deren Faden Hans Heinzelmann in der halben Welt verkauft. Auf Wallisellens Boden gibt es kaum Hügel, und der höchste erreicht keine fünfhundert Meter über Meer. Bei föhnigem Wetter ist es allerdings möglich, aus einem Dachfenster in weiter Ferne die weißen Spitzen der Glarner Alpen zu sehen.

      Eine «Talschlange», wie die Gymnasiastin Spaziergänger bezeichnet, die ehrfürchtig zu den Bergspitzen hochblicken, will sie bestimmt nicht werden. Der gewünschte Eispickel hingegen verspricht Kitzel, Mutproben und Selbsterfahrung. Er ist das Initiationsobjekt zur Aufnahme in die Gemeinschaft der Alpinistinnen. Die Familienausflüge, die höchstens bis zur Passhöhe führen oder am Bergsee beim Picknick enden, sind ihr viel zu langweilig. In den letzten Sommerferien vor dem Abitur gibt Bertha Heinzelmann dem Drängen ihrer Ältesten nach, lässt sie erstmals ziehen, unter erschwerenden Bedingungen allerdings, sie muss Elisabeth mitnehmen. Die Schwestern setzen sich in den Kopf, dass diese Ferien anders werden müssen, und reisen nach Kandersteg im Berner Oberland. In der Obhut eines Bergführers stürmen sie sogleich das Balmhorn, den höchsten Gipfel der Region. Das Abenteuer schildert Gertrud ihrem Onkel in Brasilien auf sechs Briefseiten:

      «Ich will Dir also mal verzapfen*, was so 2 unternehmungslustige Nichten eines Amerikaonkels alles selbständig zustande bringen. Hör & staune. (…) Um 2h morgens war Tagwache, 1/4 3h starteten wir für das Balmhorn, 3711 m mit Verlaub der höchste Kandersteger Berg! Nach sechs Stunden waren wir auf dem Gipfel, ruhten auf den Lorbeeren & tranken Tee & schauten uns die Welt mal wieder von dieser Höhe an.»

      Vom Hotel Schwarenbach aus führt der Aufstieg zuerst der Bergflanke entlang, bis nach ausgiebigem Fussmarsch der Gletscher erreicht ist, dann geht es weiter über blankes Eis und zuoberst durch Firn. Die Anstrengung hält die Briefschreiberin nicht für erwähnenswert. Beim Abstieg ist sie vermutlich am Rand ihrer Kräfte, und sie kommt mit dem Schrecken davon, was sie ironisch bagatellisiert: «Nach 1h mittags trafen wir schon wieder im Schwarenbach ein, nachdem ich auf dem Rückweg zur Abwechslung mein rechtes Bein 2mal in eine Gletscherspalte gesteckt hatte. Beide waren aber nur schmal, so dass alles reibungslos abgelaufen ist.» Am späten Nachmittag schultern die beiden Schwestern bereits wieder ihre Rucksäcke, weil es auf dem Gemmipass zum Wallis hinüber bessere Unterkunft gibt. Tags darauf gönnen sie sich Ruhe, das heißt, sie steigen steil hinunter nach Leukerbad. In der Jugendherberge treffen sie auf zwei Burschen, der eine ist ein Handelsschüler, den Gertrud flüchtig kennt. Onkel Paul lässt sie wissen:

      «Wir kochten uns zusammen ein fabelhaftes Nachtessen: 1 Pack Hörnli mit Tomaten, 1 Büchse Apfelmus, Waadtländerbratwürste & zwei Suppenschüsseln Tee. Bis der Frass bereit war, jagten wir den Herbergsleiter einige Male in Angst & Schrecken, weil wir nicht gut mit einem Holzherd kutschieren können & so die ganze Bude in einen undurchsichtigen Qualm setzten. Es geriet alles wunderbar & fand reissenden Absatz. – Um nicht einem langweiligen Aufwasch in der Küche anheimzufallen, packten wir das ganze Geschirr in einen Zuber & pilgerten zu einer heissen Leukerbadquelle, wo wir zusehen konnten, wie alles von selbst abgespült wurde.»

      * Verzeichnis der Dialektwörter und fremdsprachigen Ausdrücke Seite 308

      Am nächsten Morgen gibt es kein Verweilen, die Schwestern haben das Eggishorn im Kopf, wandern ins Tal hinunter nach Leuk und nehmen den Zug nach Brig. In den folgenden beiden Tagen wandern sie über die Belalp, Riederalp, Bettmeralp und hinauf auf das Eggishorn und hinunter nach Fiesch, auf dem Rücken trägt jede «15 Kg ohne Proviant», für solche, die keine «Talschlangen» sein wollen, eine Ehrensache – «Beth & ich wurden angestaunt wegen unseren Leistungen & unserm Schritt! & unserer Energie & Selbständigkeit, & der Tatsache, dass wir in unserem Alter zu zweit eine solche Tour machen konnten!» Unterwegs wird das Essen auf dem Spirituskocher selbst zubereitet, doch die Kost aus der eigenen Feldküche ist bald eintönig und das Erwachsensein etwas unbequem, sodass Gertrud und Elisabeth, trotz des Genusses allgemeiner Bewunderung, gerne in Berthas Nest zurückschlüpfen: «Allerdings haben wir jetzt für längere Zeit unseren Bedarf an Maggisuppen etc. gedeckt & füttern uns bei Muttern wieder voll.»

      Ähnlich wie mit dem Eispickel verhält es sich mit den vier Schweizer Franken. Auch sie bedeuten eine Absage an den Lebensweg der Mutter und demonstrieren den Anspruch auf einen Platz in der Öffentlichkeit. Deutschland und Österreich führten das Frauenstimmrecht nach dem Ersten Weltkrieg ein, ebenso Großbritannien, Irland, Schweden, Dänemark und die Niederlande. Noch früher konnten bereits die Finninnen und Norwegerinnen abstimmen. Am Mädchengymnasium ist die politische Gleichberechtigung kein Thema, das Gertrud Klasse beschäftigt hätte, jedenfalls erinnern sich ehemalige Schulkolleginnen nicht daran. In den Jahren der Wirtschaftskrise und des aufkommenden Faschismus ist das Frauenstimmrecht für eine Gymnasiastin nicht das Gebiet, auf dem sich Lorbeeren holen ließen. Zu viel Widerstand von allen Seiten. Selbst ein Studium und der Wunsch nach späterer Berufstätigkeit haben bereits einen rebellischen Anstrich. Katholisch-Konservative führen Brandreden gegen den Zerfall der Familie und machen die Ansprüche der Suffragetten dafür verantwortlich. Bürgerliche hetzen vereint mit der faschistischen Nationalen Front gegen verheiratete Frauen in qualifizierten Berufen, solche Arbeitnehmerinnen seien schamlose Doppelverdienerinnen, die man durch arbeitslose Familienväter ersetzen müsse. Kaum eine junge Frau meldet sich bei den hundertdreißig, zumeist älteren Zürcher Stimmrechtlerinnen. Die Präsidentin blickt bereits zuversichtlich vorwärts, wenn im Vereinsjahr nicht mehr Todesfälle zu verzeichnen sind, als es Neueintritte gab. Aber auch unter den Kämpferinnen, so ihre Klage, mache sich «Müdigkeit und Verdrossenheit» bemerkbar: «Man beginnt auch bei uns, den Argumenten der Gegner Gehör zu schenken und die, ach so oft gehörte, aber im Grunde billige Phrase – in solch schweren Krisenzeiten hätten die Frauen statt einseitig ihre feministische Liebe zu verfolgen aufs Wohl des Ganzen bedacht zu sein – gedankenlos nachzusprechen.»2

      Gertrud Heinzelmann protestierte zum ersten Mal, als sie noch in Wallisellen zur Schule ging, ein Backfisch im Faltenrock und mit langen Zöpfen. Frech marschierte sie an der Spitze der 1.-Mai-Kundgebung durch das Dorf, eine hoch aufgeschossene Gestalt, trotz jugendlich schlechter Körperhaltung überragte sie viele Erwachsene, und von weitem leuchteten ihre roten Haare, die sie vom Vater geerbt hatte. Wallisellens Bürgertum schauderte, die wohlhabende Kaufmannstochter unter den Sozialisten. Beim Vorbeimarsch wurde sie scharf zur Rede gestellt, ob sie mit den Roten nun gemeinsame Sache mache. Sie habe, sagt Gertrud Heinzelmann, geantwortet: «Ich bin hier die Frauenstimmrechtssektion.» Mit ihrem Beitritt zum Stimmrechtsverein erhält ihr Aufbegehren einen öffentlich anerkannten Ort, spielt sich fortan im Rahmen von Sitzung und Beschlussfassung ab und kann nicht mehr länger als jugendliche Flause abgetan werden.

      Gertrud Heinzelmann um 1934.

      Für ihre religiöse Veranlagung weiß die Gymnasiastin keinen Ort. Durch Wallisellen zieht sich ein unsichtbarer Graben zwischen der überwiegenden protestantischen Mehrheit und den Katholiken. Erstere schauen abschätzig auf die «Katholen» hinunter, die als ungelernte Arbeitskräfte in den Fabriken oder im Haushalt beschäftigt sind, im Dorf keine eigene Kirche haben und den Priester mit der Nachbargemeinde


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