Die Unbeirrbare. Barbara Kopp
gestossen – was Schulsachen sind!»2 Auch die Großtante bemerkt diesen Charakterunterschied, und obwohl sie im Aargau eine der ersten Volksschullehrerinnen ist, beobachtet sie Gertruds Streben mit Missbehagen und prophezeit ungute Folgen. Bertha an Paul: «Die Tante Lehreri in Boswil behauptete – s’Bethli sei viel s’Gescheitere – es bleibe gesund & die ander tüeg si gwüss nu überstudiere & werde krank – nei – mer wänds bei Gott nid hoffe!»
«Wenn man noch zwischen 20 + 30 steht, nimmt man s’Heiraten noch nicht schwer, & das ist schon ein Glück an sich.»
Bertha Heinzelmann-Zimmermann an Paul Zimmermann
Bertha, geborene Zimmermann, und Hans Heinzelmann, beide keine 30 Jahre alt, bei der Heirat 1913.
Für die Schulkolleginnen ist Elisabeth einfach das «Bethli», das man niemals «Heinz» gerufen hätte. Charakterlich sei sie die feinere gewesen und habe dem Vater geglichen, und Gertrud habe mehr der Mutter nachgeschlagen, sagt die Schul- und Spielkameradin Lotti Burri. Elisabeth ist ausgeglichener und anschmiegsamer, «von Morgen bis Abends lieb & gemütlich», und erfreut mit «goldenem Humor»3. Sie stickt und strickt und ist der älteren Schwester in traditionell weiblichen Arbeiten weit überlegen. Musisch begabt, fallen ihr Zeichnen und Malen leicht, später wird sie Landschaften aquarellieren und mit Kohle die Familienmitglieder porträtieren. Als sie mit 55 Jahren an Krebs stirbt, sagt Gertrud Heinzelmann an der Abdankungsfeier über ihre Schwester: «Als kleines Kind hatte sie schon eine besondere Liebe zu Käfern, Vögeln und Blumen, und ich erinnere mich, wie sie im weissen Sonntagsröckchen der damaligen Zeit sich am Sonntag morgen bäuchlings auf den Gartenweg legen konnte, weil ein goldschimmernder Käfer sie faszinierte. (…) Sie war ein Mensch des kultivierten künstlerischen Details.»
Elisabeth versucht körperlich mit der Ältern mitzuhalten, beginnt ebenfalls zu skifahren und zu klettern, ist aber auch hier weniger ehrgeizig. Am Klavier erteilt sie Gertrud, die eisern übt, böse Niederlagen, und Gertrud kontert mit Schulleistungen. Die schmerzhafteste Kränkung aber liegt für Gertrud auf weiblichem Gebiet. Sie sagt: «Ich hatte Schlitzäugli wie der Vater, ein wenig hängend, und meine Schwester hatte schöne, grosse Augen, die immer sehr bewundert wurden. Das war eigentlich ihr Schönheitszeichen. Ich musste aber zufrieden sein mit meinen Schlitzäugli, die mir aber gut gefallen haben.» Es demütigt sie, dass die jüngere Schwester überall wegen ihres Aussehens bewundert wird und wegen ihrer Liebenswürdigkeit wohlgelitten ist, hingegen sie selbst trotz ihrer Intelligenz weniger gilt, selbst bei der Mutter. In Gertruds Domäne behandelt Bertha ihre Töchter ungleich und bewertet die schlechteren Schulleistungen von Elisabeth besser: «Wenn mir die Kleine im Rechnen ein 5–6 heimbringt, so freut mich das mehr als Trutlis 6i, denn bei Trutli ist die beste Note selbstverständlich, – bei der Kleinen nicht, – die muss schuften bis alles eingeht!»4 Als Gertrud das beste Zeugnis ihrer Schulklasse nach Hause bringt, schreibt Bertha nach Brasilien: «Wir! bilden uns deshalb nichts ein, freuen uns aber dennoch am Erfolg.»5
Im traditionellen Bereich weiblicher Schönheit, Elisabeths Domäne, behandelt Bertha ihre Töchter hingegen gleich. Sie kauft für die Garderobe der Mädchen denselben Stoff, von bester Qualität an vornehmster Zürcher Adresse, und die Hausschneiderin Ida Rüegg näht daraus Kleider, für beide exakt dieselben. «Das hat mich wütend gemacht. So haben uns die Leute in Wohlen von Weitem gesehen. Dann hiess es, ‹ah Du bist also die Schwester von Beth›. Ganz schlimm war es an der Fastnacht. Ich wollte eine möglichst hässliche Maske anziehen, und meine Schwester wollte lediglich schön sein. Sie wollte keine Maske tragen oder höchstens bei den Augen. Und ich», so Gertrud Heinzelmann im Rückblick, «musste immer nachgeben. Immer war ich die Ältere, die vernünftig zu sein hatte.»
Ida Rüegg, die während vier Jahrzehnten die Sonntags- und Werktagsröcke, die Sommer- und Winterkleider der Familie Heinzelmann nähte, notiert als Rentnerin auf einem Blatt 1971 einige Erinnerungen. Warum sie dies tat, ob aus eigenem Antrieb oder auf Wunsch von Gertrud Heinzelmann, die als Gymnasiastin beginnen wird, die Familiengeschichte zu dokumentieren, das geht nicht aus dem Schreiben hervor. Die unterschiedlichen Charaktere der Schwestern skizziert Ida Rüegg so:
«Betli hatte von jung auf einen ausgesprochenen Schönheitssinn, es interessierte sich für die Königsfamilien, wie es dort zu- u. herging. Seine eigenen Bedürfnisse wählte es immer schön u. gut; es wählte den grossen Rahmen. Gertrud war dagegen sehr bescheiden in ihren Ansprüchen. Der Intellekt stand bei ihm im Vordergrund. Während ihren Studienjahren war sie sehr darauf bedacht, ihren Eltern nur die nötigsten Ausgaben zu machen.
Frau Heinzelmann sagte oft im Gespräch zu mir, Gertrud sei äußerst bescheiden für sich. Wenn es etwas Nötiges anschaffen müsse, suche es sich etwas im Ausverkauf, so dass sie ihm zu Hause ‹der billige Jakob› sagten.»
Die Zurücksetzung durch die unterschiedliche Bewertung von Intellekt und Schönheit, die Kränkung durch den familieninternen Spott, wenn sie beim Einkaufen das Billigangebot nutzte, schlägt bei Gertrud Heinzelmann manchmal in Geringschätzung gegenüber der Schwester um. Im hohen Alter sagt Gertrud Heinzelmann: «Meine Schwester war eine ‹Gluschteva›.» Damit meint sie eine Frau, die wie Eva zu verführen versteht und ihre Lust nicht beherrschen kann. Elisabeth sei am Tisch der Erwachsenen betteln gegangen und habe von den Tellern immer das Stück bekommen, das sie wollte. Für sie selbst dagegen sei Betteln unter jeder Würde gewesen. Um sich von der jüngeren Schwester abzugrenzen, demonstriert sie erst recht Eigenwilligkeit und Unabhängigkeit. Als betagte Frau sagt sie über sich: «Ich habe die Leute sehr gerne. Es gibt Leute, die ich schätze und so weiter, aber dieses Anlehnende von Elisabeth war bei mir nicht drin.»
Gertrud besucht die erste oder zweite Schulklasse, als sie, mit grüner Gärtnerschürze ausstaffiert, auf Wohlens Dorfstraßen Rossmist für den Garten einsammelt, sich zum Mist in den Leiterwagen setzt und den Kirchenrain hinunterrumpelt. Dies gehöre sich nicht für eine wohlanständige Bürgerstochter, findet die Großmutter Barbara Bertha Müller, verheiratete Zimmermann. Rossmistsammeln sei die Beschäftigung der «Fabrikler», die Enkelin solle ihre Zeit mit schicklicheren Tätigkeiten verbringen. Die so genannten «Fabrikler», Wohlens arme Leute, verdienen in den Strohfabriken oder in Heimarbeit zwölf Rappen auf die Stunde und müssen beim Bäcker für ein Pfund Brot den Lohn von zwei Stunden Flechtarbeit hinlegen. Mutter Bertha sieht nichts Unanständiges in Gertruds Vergnügen und lässt die Tochter gewähren. Soll sie den Kirchenrain, Wohlens steilste Abfahrt, hinunterkesseln, das will sie ihr nicht nehmen, allerdings, die Tochter hat rechtzeitig abzubremsen, bevor an der Bünzstraße das großelterliche Haus in Sicht kommt, und darf sich keinesfalls mit ihrer Wagenladung erwischen lassen.
«An Ostern hat uns der Osterhase wacker ‹gleit›: 1 grosser ‹Tschutball› (was schon lange unser sehnlichster Wunsch gewesen ist), ferner jedem ein Paar handgestrickte Strümpfe von der Grossmutter (die sie schon zu Weihnachten begonnen hat, sie waren aber so hart gestrickt, dass wir eine volle halbe Stunde brauchten, bis wir glücklich drin waren), dann jedem 1 Chocoladen- und ein Nougatei.»
Gertrud Heinzelmann an Paul Zimmermann
Elisabeth, die jüngere Schwester, und Gertrud Heinzelmann (ii), um 1922.
Die Großeltern mütterlicherseits sind Lehrersleute, nicht vermögend, auch nicht arm wie die «Fabrikler», mit bürgerlichem Klassenbewusstsein, das sich nach unten deutlich abzugrenzen weiß. Dabei reichte einst der Lohn von Lehrer Franz Josef Zimmermann nirgends hin, um seinen vier Kindern eine solide Ausbildung zu ermöglichen. Damit die Söhne Max, Franz und Paul eine kaufmännische Lehre machen konnten und Bertha nicht bis zur Verheiratung Kartoffeln schälen musste, arbeitete er, assistiert von seiner Frau, abends und am Wochenende als «Agent der Schweizerischen Mobiliar-Versicherungsgesellschaft». Die Kunden kamen zu ihm nach Hause und wurden ins Büro geleitet, wo schwarz gerahmt ein Pergament hing, auf dem eine Tiara mit zwei gekreuzten Schlüsseln prangte, und darunter stand: «Unterzeichneter Hauptmann Comandant der Schweizergarde Sr Päpstlichen Heiligkeit