Die Unbeirrbare. Barbara Kopp

Die Unbeirrbare - Barbara Kopp


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nicht ministrieren darf, weshalb eine Frau nicht wie ein Mann predigen, die Beichte abnehmen und das Abendmahl austeilen dürfe. Die Besuche führen zu heftigen Debatten, die der Geistliche mit dem Hinweis beendet, dass sie alles nachlesen könne bei Augustinus oder Thomas von Aquin, und mit einem theologischen Band aus der priesterlichen Bibliothek wird sie nach Hause geschickt. Was sie bekümmert, wofür der Priester kein Einsehen hat und was auch die Familie bei ihrem «Betblätz» nicht versteht, drückt sie in Gedichten aus. In ihrem Dachzimmer schreibt sie am 3. November 1933:

       Die Himmlischen sehen,

       sie fühlen, sie hören.

       Der tiefe Abgrund meiner Seele

       ist ihnen nah,

       ist ihnen Licht.

       Wem soll ich es klagen

       das grosse Leid?

       Den tiefen Schmerz?

       Wem soll ich ihn klagen?

       Überreif drückt mich das Leben,

       mein Leben zu geben

       euch Göttern des Lichts!

       Ihr Götter brechet

       die schwere reifende Frucht!

      Sie sucht eine Aufgabe, eine religiöse Bestimmung, doch wer die Götter sind, die sie anruft, ist für sie nicht eindeutig. In ihrem Bücherschrank steht dickleibig die «Lehre des Buddha», damals vielleicht sogar ihr wichtigstes Buch. Sie entdeckte es auf ihrem Schulweg durch die Zürcher Altstadt in der Kirchgasse, wo die Antiquariate und Buchhandlungen bei gutem Wetter ihre Sonderangebote vor den Schaufenstern stapeln. Der violette Einband ist ihr sofort aufgefallen, aber es vergehen Tage, bis sie zugreift. Vom Inhalt kommt sie nicht mehr los. Die Schilderung des achtfachen Pfades, die Abbildungen von bärtigen, asketischen Mönchen beim Meditieren hinterlassen einen tiefen Eindruck, und sie nimmt sich vor, später in buddhistischen Ländern zu leben. Das Buch eröffnet ihr eine exotische Welt jenseits katholischer Zwänge, ist Zuflucht und Lebenshilfe. Nach den Zeichnungen von Yogastellungen beginnt sie zu meditieren und entdeckt, dass es Einkehr und spirituelle Versenkung außerhalb der katholischen Kirche gibt und dass es keinen Priester braucht, der zwischen Erde und Himmel vermittelt. Durch Yoga hat ihre religiöse Veranlagung zum ersten Mal einen Ausdruck gefunden. Als Siebzigjährige schreibt Gertrud Heinzelmann:

      «Die Rückwendung der Reflexion auf das eigene Bewusstsein war schon in früher Kindheit ein spontanes, unauslöschliches Erlebnis gewesen. Nun fand ich einen Grossen, der es unternommen hatte, diesen Weg nach innen konsequent und folgerichtig bis zum Samadhi zu gehen. Die yogistischen Übungen, die ich nach den Beschreibungen betrieb, empfand ich als unerhört stärkend. Sie bauten mein Selbstbewusstsein auf und verliehen mir ein Selbstwertgefühl, das die vom Pfarrer verabreichte kirchliche Literatur nie zu vermitteln vermochte.»3

      Möglicherweise wissen die Eltern über die Meditationsübungen ihres «Betblätzes» Bescheid, denkbar ist aber auch, dass Gertrud Heinzelmann ihre Erfahrung für sich behält, um dem familiären Unverständnis zu entgehen. Gegenüber ihrem Onkel, dem sie viel anvertraut, erwähnt sie nichts. Über sich sagt sie als alte Frau: «Ich habe einen religiösen Stich bekommen, den ich von einem anderen Ort als der Familie habe. Es ist eine Begabung für mich.»

      Am Gymnasium sitzt Gertrud Heinzelmann in der hintersten Bankreihe. Regungslos wie eine Pflanze sei sie auf ihrem Stuhl gesessen und wegen ihrer Intelligenz und ihrem phänomenalen Gedächtnis aufgefallen, sagen ehemalige Mitschülerinnen. Belastbar sei sie gewesen. Die Städterinnen finden ihre langen Zöpfe gar ländlich, und Gertrud Heinzelmann lässt sich, nachdem der mütterliche Widerstand endlich gebrochen ist, in den oberen Klassen die Haare modisch kurz schneiden. In den letzten Wochen vor dem Abitur geht die Französischlehrerin den Bankreihen entlang mit der Frage, was jede Schülerin studieren werde. Pharmazie, Medizin, am liebsten Veterinärmedizin, ein Sprachstudium und anderes erhält sie zur Antwort, dazwischen auch verlegenes Zögern. Zu hinterst im Klassenzimmer gibt es keine Stockungen, die Antworten kommen bestimmt, und als Gertrud Heinzelmann an der Reihe ist, sagt sie, was schon zwei vor ihr gesagt hatten: ein Studium der Rechtswissenschaften. Onkel Paul schreibt sie zuversichtlich:

      «Die Aussichten sind zwar nirgends rosig & wenn man dem allgemeinen Klagegeheul zuhören wollte, könnte man den Eindruck bekommen, es sei das Gescheiteste, in eine Schachtel zu kriechen & und den Deckel zu schliessen. – Ich hoffe aber, dass wenn ich einmal fertig bin, ich doch eine Stelle bekommen kann, & ich denke gar nicht zuletzt an Dich, dass Du mit Deinen vielen Beziehungen mich irgendwo platzieren könntest.»4

      Beinahe drei Jahrzehnte später wird Gertrud Heinzelmann mit dieser Hoffnung, als sie in der Schweiz für sich keine Zukunft mehr sieht, zu ihrem Onkel reisen. In Rio de Janeiro lernt sie Bertha Lutz kennen, die in Brasilien für das Frauenstimmrecht gekämpft hatte und Gleichberechtigung als ein weltumspannendes Ziel versteht, das sie mit Hilfe der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte verwirklichen will. Beflügelt von dieser Begegnung, misst Gertrud Heinzelmann die katholische Kirche mit dem Maßstab der Menschenrechte. Zum Zweiten Vatikanischen Konzil fordert sie 1962 die Zulassung der Frauen zu Priestertum und höheren Kirchenämtern. Sie prangert die Jahrhunderte alte kirchliche Frauenverachtung an und verlangt die Modernisierung des theologischen Frauenbildes. Ihre Forderungen brechen mit religiösen Traditionen und sind in der Geschichte der römisch-katholischen Kirche ein Bildersturm. Sie stehen am Anfang der feministischen Theologie. In Europa, Amerika und Afrika gerät ihre Eingabe an das Vatikanische Konzil in die Schlagzeilen und Amerikas Katholiken greifen ihre Gedanken bald auf. In Rom wird, nach kurzem Aufschrecken und einer päpstlichen Gegendarstellung, geflissentlich geschwiegen. In der Schweiz ergeht es Gertrud Heinzelmann wie der jüngeren Gymnasiumskollegin Iris von Roten, die für ihr Emanzipationswerk «Frauen im Laufgitter» nichts als gehässige und ehrverletzende Kommentare erntete. Das einzige Land in Europa ohne Frauenstimmrecht reagiert auf seine Kirchenkitikerin mit der Wut der Durchschauten. Im selben Jahr, als Gertrud Heinzelmann katholische Priesterinnen verlangt und an die Einhaltung der Menschenrechte erinnert, betrachtet die Schweizer Regierung das fehlende Frauenstimmrecht nicht als Verstoss gegen die Menschenrechte.

      Führungsbewusst stürmt Gertrud Heinzelmann vorwärts, risikobereit, streng mit sich und den anderen. Sie wird die erste Ombudsfrau der Schweiz und ragt als Frauenrechtlerin mit ihrem Scharfsinn und ihrem trocken Witz heraus. Unerschütterlich vertraut sie der Aufklärung und der menschlichen Vernunft und hofft gläubig auf ein Jenseits. Sie hätte gerne ein grundlegendes Buch zur Emanzipation verfasst, wie es in ihrer Generation die Französin Simone de Beauvoir und Iris von Roten veröffentlicht haben. Mehrmals beginnt sie ein Manuskript, gibt wieder auf und ordnet ihr Schreiben der praktischen Arbeit unter. Sie versteht sich nicht als Schriftstellerin, sondern als «Frau des Kampfes»5, die entschlossen mit juristischen Mitteln eingreift und in unzähligen Zeitungsartikeln die Missstände im «eidgenössischen Wartsaal»6 brandmarkt, in dem die Frauen «in schulmädchenhafter Bravheit» ihr Dasein als Unmündige fristen müssen. Die Schriftstellerin Laure Wyss beschreibt die Streitbare 1986 so:

      «Sie hat seit jeher handfest und sprachlich träf gekämpft, diese Feministin Heinzelmann, eine der wenigen waschechten unseres Landes. Mit dem, was sie schrieb, konnten wir Frauen unmittelbar etwas anfangen. Die Männer übrigens auch, wenn sie es lasen, aber sie haben natürlich an der Entlarvung der für sie vorteilhaften Herrschaftsverhältnisse weniger Interesse als wir.»7

      Bevor am Gymnasium die Abschlussprüfungen beginnen, lässt Gertrud Heinzelmann ihren Onkel in Brasilien wissen, er solle ihr die Daumen drücken – «wir denken auf d. 21. März flügge zu werden, & die ganze Bande freut sich entsetzlich auf die akademische Freiheit. »8 Sie besteht im Frühling 1934 das Abitur mit Leichtigkeit, und die Eltern schenken ihr den Eispickel und die vier Schweizer Franken. Uncle Frank, Mutters älterer Bruder, lädt die zukünftige Studentin in die Ferien nach London ein.

      Der Onkel hatte bei seiner Ankunft in England das «z» in seinem Vornamen Franz


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