Die Unbeirrbare. Barbara Kopp
gesteckt haben soll. In ihrem «kindlichen Gemüt», so Gertrud Heinzelmann, habe dieser Nagel einen «unauslöschbaren Eindruck»13 hinterlassen. In Wohlen besucht die Mutter mit ihren Töchtern die Messe, in der an hohen Feiertagen ein Schauspiel geboten wird. An Karsamstagen stehen in der Kirche Felskulissen mit einer Grabnische, und hinter Glaskugeln, die mit gefärbtem Wasser gefüllt sind, brennen Kerzen. Dank Theaterbühnentechnik verschwindet während der Messe Christus mit Getöse in der Grabnische und erscheint wieder von der Kirchendecke hängend als Auferstandener.
Im liberalen Milieu der Heinzelmannschen Familie ist der Umgang mit der Kirche, der Gertrud und Elisabeth vermittelt wird, widersprüchlich. Die Eltern verstehen sich als Katholiken und somit zur Kirche zugehörig, aber ins Private dreinreden lassen sie sich von keinem Geistlichen, am katholischen Vereinsleben nehmen sie nicht teil, von der Konservativen Volkspartei14 distanzieren sie sich, schließlich halten sie es mit den freisinnigen Unternehmern und Industriellen aus dem Wohler Bahnhofsquartier. Wie jeder Rietschi verweigert Hans Heinzelmann den Kirchenbesuch, Bertha hingegen geht wie manche Frau aus liberalen Verhältnissen dennoch zur Messe. Ihr Abseitsstehen demonstrieren die Eltern dem Dorf während der Prozession an Fronleichnam. Die Route führt am großelterlichen Wohnhaus vorbei, der Festumzug hält hier an, der Priester betet an einem eigens aufgestellten Altar, und ein Chor singt. Die Eltern und Großeltern mischen sich nicht unter die Schaulustigen, sondern schließen, für alle sichtbar, die Fensterläden und verschanzen sich im Haus. Trotz dieser Distanzierung setzen die Eltern ihre Tochter der Kirche aus und lassen sie mit ihren Gefühlen allein. Gertrud Heinzelmann beschreibt diese Erfahrung als Erwachsene so:
«Es gehört wohl zu meinen ältesten frühkindlichen Erinnerungen, dass ich am damaligen Wohnsitz meiner Grosseltern zusammen mit dem alten gelähmten Hauseigentümer an einem Fronleichnamstag in den Garten gesetzt wurde, in dem alljährlich ein Altar als Station der volksreichen Prozession aufgebaut war. Die Kunde vom ‹Heiland› (wer hatte mir davon erzählt?) hatte schon lange zuvor mein kindliches Sinnen beschäftigt. Dann – über dem Gartenweg Monstranz, Baldachin, Weihrauch, nie gesehene Gewänder. Allein mit dem gelähmten Greis sass ich in einem von Gebüsch umhegten Chor, einem Geschehen mit überwältigenden Eindrücken preisgegeben, von denen ich nur das Wort ‹Heiland› verstand. Aber diesen mit ungeheurer Gefühlsintensität Erwarteten sah ich nicht trotz aller Anstrengung, aus einer seelischen Spannung fiel ich hoffnungslos in eine nicht zu bewältigende Enttäuschung. Schliesslich löste ein Strom von Tränen Überwältigung und Anspannung. Meine Mutter kam, trug mich in das Haus zurück, in dem die Erwachsenen sich hinter geschlossenen Fensterläden versammelt hatten.»15
Als die Tochter älter ist und ihre Schulklasse an der Fronleichnamsprozession teilnehmen muss, stellt sich der Vater auf die Treppe vor dem großelterlichen Haus, pfeift und ruft seine «Trut» energisch aus der vorbeimarschierenden Menge ins Haus.
Ambivalent muss auch Salesia Rietschis Verhältnis zum Katholizismus gewesen sein. Nach Gutdünken vermittelt die Großtante ihren Nichten frommes Brauchtum, erfindet vor dem Einschlafen lange Gebete, die mehr Gute-Nacht-Geschichten sind. Das Tischgebet spricht sie, während sie der Magd Babeli Christen in der Küche beim Anrichten hilft, mit Schüsseln zum Esstisch kommt und wieder hinaus geht. Für die Kinder, die auf ihren Stühlen warten, ist Folgendes zu hören: «Gib uns unser täglich Brot … Babeli, tüend d’Suppe arichte … Du bist voll der Gnaden … und de no de Schnittlauch dri.»16 Sie liest «Das Vaterland», die federführende Zeitung der Katholisch-Konservativen, doch in Boswil teilt sie jedem, der es wissen will, unmissverständlich mit, dass sie, wie alle Rietschis, eine Freisinnige sei, ergo nichts mit den Rückständigen am Hut habe. Das hört man im Dorf vermutlich nicht allzu gerne, hier dominiert die Konservative Volkspartei, und der H.H. Pfarrer, wie die Dorfchronik «Hochwürden» nennt, ist so einflussreich wie der Gemeindeammann oder der Gemeindeschreiber. Salesia lässt sich in keinem katholischen Dorfverein blicken, weder in der «Marianischen Kongregation» noch im «Katholischen Frauen- und Töchterverein». Sie entzieht sich den Organisationen, die nach verlorenem Kulturkampf von den Katholisch-Konservativen zur Abwehr freisinnigen und liberalen Gedankenguts überall gegründet wurden. Damit nimmt sich die Gemeindelehrerin weltanschaulich Freiheiten heraus, aber nur so weit, als ihr gesellschaftliches Abseitsstehen vom Dorf geduldet wird. Sonntags besucht sie die Messe.
«Salesia Rietschi entstammte einer angesehenen Stadtluzerner Familie mit etwas aristokratischem Einschlag. (…) Sie entschloss sich als begabte Schülerin zur Ausbildung im Lehrerberuf und wurde gleich nach bestandener Abschlussprüfung im Jahre 1879 als Lehrerin an die Mittelschule unserer Gemeinde gewählt.»
Dorfchronik Boswil
Grosstante Salesia Rietschi (1860–1938), Boswil.
Im freisinnigen Elternhaus entgeht Gertrud Heinzelmann nicht der weiblichen Sexualerziehung nach kirchlichem Keuschheitsideal. Abends will Bertha Heinzelmann die Hände ihrer Töchter auf der Bettdecke liegen sehen, ehe sie das Licht löscht und aus dem Mädchenzimmer geht. Ihre körperlichen Entdeckungen und Erfahrungen getraut Gertrud nicht der Mutter anzuvertrauen. Im Religionsunterricht erfährt sie andeutungsweise, dass ihre Entdeckungen ein schlimmes Vergehen sein müssen. Als Achtjährige muss sie mit der Schulklasse beim Religionslehrer, der zugleich Pfarrhelfer ist, zum ersten Mal in die Beichte. Darüber schreibt Gertrud Heinzelmann im Alter:
«Ein nicht ausgesprochener Druck lag auf unserer Mädchenklasse, in den mit violetten Vorhängen verhangenen Beichtstuhl des Pfarrhelfers einzutreten, der uns in die Geheimnisse des vergissmeinnichtblauen Katechismus eingeführt hatte. Aber gerade das wollte ich nicht, unter keinen Umständen, auf keinen Fall. Berührungen am eigenen Körper hatten mich mit den erogenen Zentren, deren Reaktionen und dem schlechten Gewissen vertraut gemacht. Der Beichtspiegel des Katechismus verzeichnete unter den Sünden gegen das 6. Gebot unkeusche Berührungen, verbunden mit der auf eine schwere Sünde schliessenden Frage: Wie oft? Ich weiss nicht mehr, wie der religionslehrende Pfarrhelfer damals (zirka 1922/23) diese Sünde umschrieben hatte. Jedenfalls geriet ich in grosse seelische Nöte.»17
Bevor sie zur Beichte gehen muss, fragt sie die Mutter, ob sie nicht eine Frau wüsste, die an Stelle des Pfarrhelfers hinter dem violetten Vorhang sitzen könnte. Bertha Heinzelmann verneint. Schließlich legt Gertrud wie alle Schülerinnen eine Beichte ab:
«Da ich keinen Ausweg sah, einem Mann meine kindliche Sünde (oder was ich dafür hielt) gebeichtet werden musste, wählte ich den Pfarrer, der mich nicht kannte. Vor dessen mit violetten Vorhängen verhängtem Beichtstuhl kniete kaum ein anderes Kind meiner Klasse. Wie einen Brocken im Erbrechen spuckte ich den Satz aus, den ich wörtlich aus dem Beichtspiegel des vergissmeinnichtblauen ‹Kleinen Katechismus› übernahm.»
Bei der Strohfirma Oskar Bruggisser, wo sich einst Hans Heinzelmann und Bertha Zimmermann von ihren Stehpulten aus verstohlene Blicke zuwarfen und am Lampenschirm zupften, läuft das Auslandgeschäft miserabel. Nach dem Ersten Weltkrieg bringt die Inflation Verlust um Verlust, und der «Strohbaron» verliert beinahe sein ganzes Vermögen. Hans Heinzelmann sieht sich nach einer anderen Arbeit um und wird bei «Zwicky Nähseide und Nähgarn» fündig. Die Familie verlässt 1924 Wohlen und zieht nach Wallisellen bei Zürich. Der Ortswechsel vom katholischen Freiamt in die Umgebung der Stadt, in der einst der Reformator Ulrich Zwingli gewirkt hatte, wird für alle zur Zäsur.
Bertha ist fortan alleinerziehende Mutter, während Hans die meiste Zeit im Jahr für die Nähseidenfabrik unterwegs ist, winters auf Orienttour, sommers auf der Nordreise. Nach Neujahr lässt er Wallisellen jeweils hinter sich, besteigt in Italien das Schiff nach Ägypten, gibt in Kairo, Beirut, Jerusalem und Damaskus für die Kundschaft Einladungen und nimmt Garn- und Fadenbestellungen entgegen, oder weniger angenehm, er muss Schulden eintreiben. Vor Ostern erreicht er die Türkei, wo er sich in Izmir für die Rückreise einschifft. Im Frühsommer folgt eine kurze Kundenfahrt durch Holland, bevor er im Hochsommer zur großen Nordreise durch Dänemark, Schweden und Norwegen aufbricht.
Am ersten Schultag in Wallisellen, als Gertrud Heinzelmann das Zimmer der vierten Klasse betritt, rufen einige Schüler sogleich: «Eine Rothaarige, eine Rothaarige und eine Katholische!»