Die Unbeirrbare. Barbara Kopp
Kinder haben, im Heinzelmannschen Haushalt solches jedoch nicht vorkomme, demnach gebe es einzig Enthaltsamkeit. Als Gertruds reformierte Mitschülerinnen im letzten Schuljahr den Konfirmationsunterricht besuchen, lädt der Pfarrer für den Aufklärungsunterricht Rosa Gutknecht ein. Sie ist die erste Pfarrerin von Zürich, arbeiten darf sie am Großmünster jedoch lediglich als Pfarrhelferin. Im weißen Stehkragen sei sie dagestanden, erinnert sich Gertruds Schulkollegin Hedy Bierter-Würgler, und habe ihnen das Übliche mit etwa diesen Worten geraten: «Wenn Sie unbedingt einen Freund haben müssen, stehen Sie mit ihm nachts immer unter eine Strassenlampe, damit die Passanten sehen können, was passiert.»
Gertrud und Elisabeth haben Berthas Lektion wohl verstanden und verkünden den Mitschülerinnen im Brustton unerschütterlicher Überzeugung, sie seien aus anderem Holz und keineswegs heiratslustig. «Mir sind nöd ghüratig», sagen die Schwestern und machen Gertruds Schul- und Studienkolleginnen derart Eindruck, dass keine diesen Satz vergisst. Doch Bertha scheint ihren Töchtern nicht ganz zu trauen und sorgt dafür, dass jede den erforderlichen Schliff erhält. Die Jüngere wird für mehrere Wochen nach Zürich an den Zeltweg in die Koch- und Haushaltungsschule der Elisabeth Fülscher geschickt, der Älteren wird dieser Schliff nur insofern erlassen, als sie ihn privat erhält. Bertha nimmt Gertruds Kochausbildung systematisch an die Hand, durch jeden Kochgang wird die Tochter «duretrüllet», angefangen beim Suppenkochen, weiter zum Braten, Garen, Schmoren bis zum Backen und Servieren.
Jahre später, Gertrud und Elisabeth sind inzwischen 21 und 19 geworden, betrachtet Bertha befriedigt den Erfolg ihrer Erziehungsmaßnahmen und meldet nach Brasilien: «Die Maitli sind fleissig & lieb, wir können mit den Kindern sehr zufrieden sein! Schon manches Maitli von Trutlis Klasse ist verheiratet & gewöhnl. war ein Muss dabei.»21
Ab Frühling 1931 besucht Gertrud Heinzelmann die «Höhere Töchterschule», das Mädchengymnasium von Zürich. In den Schulbänken sitzen Töchter von hohen Beamten, von Warenhaus- und Fabrikdirektoren, man wohnt in Zürichs besseren Quartieren, verkehrt gesellschaftlich unter seinesgleichen, bevorzugt beim Einkaufen protestantische Läden, und aus Prinzip stellt der eine oder andere Familienvater im Kader seines Betriebes keine Katholiken an. Doch zu Hause lassen sich die Töchter von katholischen Dienstmädchen bedienen, die man wegen mangelnder Manieren und fehlender Bildung und wegen ihrer andersartigen Bräuche belächelt. Nur wenige in der Klasse kommen aus bescheideneren Verhältnissen. Zum Erstaunen der Mitschülerinnen gibt sich Gertrud Heinzelmann als Katholikin zu erkennen, vom «Dröhtli» gefestigt und im stolzen Bewusstsein, einen freisinnig-liberalen Stammbaum zu haben, kurz, eine Herkunft vorweisen zu können, die nichts mit derjenigen von katholischen Dienstmädchen aus armen Landgegenden gemein hat. Im Übrigen ist sie zurückhaltend und gibt wenig Persönliches preis. Und wieder lernt sie für gute Schulnoten und ist stets sattelfest im Abfragewissen. Ihr aussergewöhnliches Gedächtnis beeindruckt, doch für diejenigen Mitschülerinnen, die sich auch für anderes als einzig für Lernstoff interessieren, ist sie keine Kameradin, der man nachgeeifert hätte. Hanny Zimmermann, die sich in der Klasse am besten bei Schlagern auskennt und später Zahnärztin werden wird, charakterisiert Gertrud Heinzelmann so: «Sie konnte sehr fröhlich und lustig sein, sie konnte bei Blödsinn mitmachen, sie war nicht stur, gar nicht. Aber ich hätte sie nie als Rivalin empfunden, wenn es darum gegangen wäre, in einer Tanzstunde mitzumachen. Da hat sie a priori nicht dazugehört.» Und Gerda Zeltner-Neukomm, die sich in der «Neuen Zürcher Zeitung», als Literaturkritikerin und Frankreichkennerin einen Namen machen wird, sagt: «Sie fiel mir damals auf, weil sie überhaupt nicht eitel war. Sie wollte nicht gefallen und hatte eine ganz besondere Sicherheit. Aus ihren Antworten habe ich immer gespürt, dass sie im Gegensatz vielleicht zu allen anderen von sich selbst absehen konnte.»
Als das Abitur näher rückt, und sich Gertrud Heinzelmann für eine Studienrichtung entscheiden muss, nimmt sie auf die finanzielle Situation ihres Vaters Rücksicht und fällt einen Vernunftentscheid:
«Ich habe lange zwischen Jus & Medizin geschwankt, aber das med. Studium geht minimal 13 Semester (Jus 6–8), ist sehr viel teurer als Jus & stellt sehr grosse Anforderungen an die Gesundheit, & nachher sind die Aussichten doch kaum günstiger als für Juristen.»22
Hans Heinzelmanns beruflicher Wechsel hatte sich nicht als ein glücklicher erwiesen. Exporteinbrüche und als neues Phänomen der zunehmend schnellere Wechsel der Kleidermode setzen nicht nur der Strohindustrie, sondern auch dem Faden- und Garnhandel zu. Die goldenen Jahre, in denen zur Damengarderobe Seidenstoffe, Stickereien und Borten gehörten und «Zwicky Nähseide und Nähgarn» in europäischen Metropolen eigene Agenturen und Fabrikationsfilialen eröffnen konnte, sind längst Vergangenheit. Zudem konkurrenziert der Kunstseidenfaden, billiger und zäher als Nähseide, die Fäden aus der Walliseller Zwirnerei. Die Verkaufsresultate, die Hans Heinzelmann auf seinen Reisen erzielt, sind ständigen Schwankungen unterworfen, trotz allem sind sie in seinen ersten Jahren noch zufrieden stellend. Aus Ägypten meldet er im Februar 1924: «Hiermit wieder ein Lebenszeichen. Geschäftlich geht es gut, ebenfalls gesundheitlich.» — Im Juni aus dem niederländischen Nobelbad Scheveningen: «Geschäfte gut, Wetter schlecht, Gesundheit dürfte besser sein, Klimawechsel hat mir zugesetzt.» – Im November aus Kopenhagen: «Bin wohlauf. Geschäft recht.» – Wiederum aus Kopenhagen zwei Jahre später im Juni 1926: «Bin stets wohlauf, mit etwas Rheumatismus zwar, aber glaub’s der Teufel bei diesem Hunde-Wetter. – Geschäftlich ging es in letzter Zeit besser.»23 Dank Umsatzbeteiligung am Auslandgeschäft verdient er überdurchschnittlich, doch dann kommt die Weltwirtschaftskrise, gefolgt von Inflation, Währungsreformen und Einfuhrbeschränkungen. «Wir haben hier wieder elendes Wetter; & die Geschäfte gehen nicht besonders gut», schreibt er im April 1930 aus Schweden und im November aus Finnland: «Bin wohlauf. – Geschäfte dürften besser sein.» Und: «Geschäfte sollten besser sein»,24 meldet er im nächsten Jahr aus Dänemark. In Wallisellen stehen die Zwirnmaschinen still und «Zwicky» muss einen Teil der Belegschaft entlassen. Das Auf und Ab der Verkaufszahlen drückt Bertha aufs Gemüt. Ihre Berichte an Paul zeigen Sorgen und Belastung deutlicher, als dies Hans auf seinen Postkarten an Salesia Rietschi eingesteht. «Er kann sich nicht rühmen übers Geschäft & strengt sich ausserordentl. an, um wenigstens kleine Pöstchen zu ergattern», schreibt Bertha im Frühling 1931, und im Herbst meldet sie erleichtert: «Wir sind zwäg = Vater ist in Kopenhagen. Dadurch, dass die Damenmode länger geworden ist, braucht er gerade das doppelte Quantum wie früher für die Damenconfection & kann dort am Platze ordli arbeiten. Wir haben es so nötig. Wie’s dann weiter nördlich wird, ist fraglich, doch habe ich letzte Woche in der ‹Neue Zürcher Zeitung› gelesen, dass der Streik in Norwegen endlich gebrochen ist.»25 Dann wieder ernüchtert: «Morgen kommt Hans von seiner Holland-Reise zurück, wo er schlecht abgeschnitten hat, es wollte niemand bestellen! Die Leute sind überall so niedergeschlagen!»26
Gertruds Studienwahl erhält familienintern Anerkennung, und aus Brasilien lässt Paul seine Schwester Bertha befriedigt wissen: «Heute überraschte mich der charmante Brief v. Student. Die Überlegung, sich als Jurist auszubilden, aus dem einfachen Grund, weil das Studium kürzer & das materielle Rendement analog der Mediziner ausfällt, fand meine Anerkennung. Kurz, der Brief zeigt klaren Menschenverstand.» Daraufhin gewährt Paul seiner Schwester freien Zugriff auf seine Bankkonten: «Ich kenne Deine Tugenden als bewährte Stauffacherin & erwarte weder Dankesrufe noch Lobgesang, sondern vernünftige Verwaltung.»27 Trotz Krise sollen seine Nichten eine «erstklassige» Ausbildung bekommen und Ferien geniessen. Mit schlechtem Gewissen – «ich hatte immer das Gefühl, als tue ich ein Unrecht» – lässt sich Bertha von seinem Konto Geld auszahlen und entschuldigt sich:
«Wir geben uns Mühe uns der Situation anzupassen. Hans & ich gehen jeder unnötigen Ausgabe ängstl. aus dem Weg – & danken Gott, dass Hans doch immer noch eine Anstellung hat & unser Brot verdient. Ausser den paar Tag Ferien, die wir uns erlaubten – trieben wir keinen Luxus. Wir hatten gesundes Essen & gesundes Wohnen und das kostet so viel – dass wir immer zielen mussten durchzukommen.»28
Mit Stolz fügt sie hinzu: «Die Kinder entfalten sich gut zu uns. grössten Freude – natürl. kosten sie, es müssen Opfer gebracht werden.» Elisabeth wird eine Lehre als Damenschneiderin beginnen und später die Kunstschule besuchen, Gertrud nimmt an der Universität