Die Unbeirrbare. Barbara Kopp

Die Unbeirrbare - Barbara Kopp


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sie die Mädchenklasse besucht, ein «ruhiges Gewässer», während die Knaben, wie damals in katholischen Gegenden üblich, in die Parallelklasse gingen.

      Nach diesem Schultag folgen weitere Erschütterungen, die nächste an einem Sonntag, als Bertha mit ihren Töchtern zur Messe geht. Nichts am Walliseller Gotteshaus erinnert an die Herrschaftlichkeit einer Freiämter Kirche, weder ist der Standort imposant, noch waltet im Innern ein besonderer Glanz: Da ist bloß die Nüchternheit eines Feuerwehrhauses. Das Dorf hatte seine ausgediente Sennerei für die «Zwecke des Feuerlöschwesens» umgebaut und zum Wohl des Gemeinwesens erweitert, mit einem kleinen «Arrestlokal» beispielsweise, das für leichte Fälle wie zur Ausnüchterung von Betrunkenen gedient haben mag. Der einstigen Sennerei wurde, so die Walliseller Gemeindechronik, ein «Schlauch-Tröckneturm» aufgesetzt, und unter diesem Turm, in dem die nassen Feuerwehrschläuche trocknen, beten und beichten sonntags Wallisellens Katholiken. Dies allerdings unterschlägt die Gemeindechronik, denn aus reformierter Sicht ist die katholische Religionsausübung nicht erwähnenswert. In der Gemeinde machen die Katholiken gerade 436 Personen aus, damals knapp ein Fünftel der Einwohnerschaft. Im Stammland des Reformators Zwingli sind die Katholiken einem Briefmarkenclub gleichgestellt, sie dürfen Versammlungen abhalten, aber im öffentlichen Leben sind sie rechtlos. Das wird bis 1963 so bleiben.

      Das Feuerwehrhaus dient noch einem anderen Zweck, den die «Geschichte der Gemeinde Wallisellen» ebenfalls unterschlägt. Die Bauern bringen ihr krankes und verunfalltes Vieh hierher. Gertrud Heinzelmann schildert dies an einem Walliseller Seniorennachmittag 1991 so: «Noch heute ist die unterste Türe angeschrieben mit ‹Notschlachtraum›. Das war damals schon so gewesen, die erste Türe war die Notschlachtung. Es kam ab und zu vor, dass gegen Ende der Woche hier sogenanntes Fallvieh oder Versicherungsvieh geschlachtet wurde. Am Samstag oder Sonntag sind dann die Katholiken durch die Türe nebenan zum Gottesdienst.»18 Für die Messe unter dem «Schlauch-Tröckneturm» kommt der Priester aus dem Nachbardorf und improvisiert zwischen notdürftigem Mobiliar: «Die katholische Kirche bestand aus einem Vorraum, von hier gingen ein paar Treppentrittli hinauf. Man kam in einen langgestreckten Raum, ich glaube heute sind hier Garagen, der Boden des Raumes war aus weißgetünchten Backsteinen. Drei Bänke ohne Rückenlehne standen hier, und es gab eine blinde Türe mit einem Gitter. Das war dann bei Bedarf der Beichtstuhl. Man hat die Türe einfach geöffnet, und oh Schreck, ohne Vorhänge, man konnte zuschauen, ad libitum, wenn man im hintersten Bank sass.» Samstags zieht ein Kind durch Wallisellen und sagt an jeder katholischen Haustüre sein Sätzlein auf: «Bitte kaufen Sie einen Backstein für die Kapelle!» Die Katholiken sammeln für den Bau einer eigenen Kirche, ein mühseliges Geldauftreiben, denn viele stammen aus ärmlichen Verhältnissen, zogen vom Hinterland ins industrialisierte, reiche Zürich und haben hier als Fabrikarbeiter, Handwerker oder Dienstmädchen ein mageres Auskommen. Kommt hinzu, dass sie wie alle Einwohner Steuern zahlen, aber als staatlich nicht anerkannte Glaubensgemeinschaft für den Kirchenbau kein Anrecht auf Steuergelder haben. Mit ihrem Geld finanzieren sie die Kirchen der Reformierten.

      Der protestantischen Mehrheit sind die katholischen Einwanderer fremd, ob sie nun aus der Innerschweiz oder aus dem Tirol stammen, und weil sie aus wirtschaftlich schwachen Regionen kommen, gelten sie als hinterwäldlerisch, in jeder Hinsicht rückständig und auf alle Fälle «sternehagelsaudumm». Da nützen der Familie Heinzelmann weder liberale Vorfahren, noch hilft ein Tropfen aristokratischen Bluts. Es spielt auch keine Rolle, dass Bertha und ihre Töchter in Wallisellen zu den «besser Frisierten» zählen, sich den Luxus von gepflegten Haaren leisten können und Kleider aus kostspieligerem Stoff tragen als viele Einheimische. Für die Reformierten sind sie schlicht «Katholen», auf die man grundsätzlich hinunterschaut. Gertrud Heinzelmann am Seniorennachmittag: «Wir waren ausgegrenzt gewesen in diesem reformierten Milieu, das sich für rechtdenkend hielt, etwas pietistisch. Wir standen irgendwie in einem Abstand.»

      Auf die damalige Zurücksetzung reagiert die elfjährige Gertrud in der Schule mit Leistung. Rückblickend sagt sie: «Ich wollte denen doch klarmachen, dass ich erstens einmal nicht nur gescheit bin, sondern wie sich dann sehr rasch zeigte, die Gescheiteste in der Klasse war.» Dank der traditionellen katholischen Mädchenerziehung kann sie, obwohl dazu wenig talentiert, selbst im Handarbeitsunterricht triumphieren: «In Wohlen hatten wir harten Handarbeitsunterricht, wir mussten lange Strümpfe stricken. Im Kanton Zürich hatten sie erst Waschlappen und solche Sachen genäht.» Zugeknöpft und elitär sei sie in der Schule gewesen, zwischen ihr und der Klasse habe eine Barriere bestanden, sagen einstige Mitschülerinnen übereinstimmend. Sie wird aber auch als auffallend mutig und selbstbewusst beschrieben, als eine, die sich zu Wort meldete und gegenüber dem Lehrer die eigene Meinung vertrat.

      Die gesellschaftliche Benachteiligung stärkt Gertrud Heinzelmann, sie lernt sich zu behaupten und wird kämpferisch. In Wallisellen beginnt sie auch, sich gegen die Diskriminierung in der eigenen Konfession aufzulehnen. Im Feuerwehrhaus fasziniert sie dieses geheimnisvolle Geschehen am Altar, das kaum zu sehen ist, weil der Priester und seine Diener dabei den Gläubigen die Rücken zukehren. Sie beneidet die Ministranten, die beim Altar stehen und dem Priester zusehen dürfen. Hingegen ist das Beichten an der blinden Türe, ohne Schutz der violetten Vorgänge, für Gertrud Heinzelmann noch belastender, als es schon in Wohlen war. Als Schülerin zum Religionsunterricht und Messebesuch verpflichtet, tut sie in den höheren Schulklassen, was damals unter Männern weit verbreitet ist. Sie besucht, wenn sie zur Beichte muss, eine andere Kirche, wo der Priester sie nicht kennt, um sich möglichst dem Zugriff auf das eigene Innenleben zu entziehen. Trotz diesen Schwierigkeiten entwickelt sie, je älter sie wird, religiöse Neigungen. An einem Sonntag sieht sie im Feuerwehrhaus unter den Ministranten einen gleichaltrigen Knaben aus der Nachbarschaft: «Ich verachtete ihn, denn er war ein Schlingel, hatte selten eine geputzte Nase und war ziemlich dumm. Ich war überzeugt, dass ich mich am Altar sehr viel besser ausgenommen hätte.»19 Gewillt, einen würdigeren Anblick als der Nachbarsjunge abzugeben, bestürmt sie den Priester, ebenfalls ministrieren zu dürfen. Doch auch in einem Feuerwehrhaus ist in den Zwanzigerjahren ein Mädchen im Ministrantenrock und mit Weihrauchfass am heiligsten Ort unvorstellbar. Gertrud gibt nicht nach, setzt dem Priester zu, bis er ihr erlaubt, als Abfindung gewissermaßen, nach der Messe die Geldspenden einzusammeln. Ein Mädchen mit der Opferbüchse sei damals, so Gertrud Heinzelmann, bereits ein Tabubruch gewesen.

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      Um nach dem Zürichhorn zu gelangen, mussten wir etwa 3–4 Spalten überqueren. Bei der 1. gab ich nicht besonders Acht, fiel und riss mir stark die Hand auf. Die letzte Spalte war die gefährlichste. Fortwährend gluckste das Wasser hervor und es begann in ihrer Nähe ordentlich zu krosen und krachen. Auf dem Rückweg benutzten wir aber ein Brett, um wieder heimwärts zu gelangen.»

       Gertrud Heinzelmann an Paul Zimmermann

      Mutter Bertha (2. v. li.), Gertrud (2. v. re.) und Elisabeth auf dem zugefrorenen Zürichsee 1929.

      In Wallisellen kennen die Heinzelmanns die anderen katholischen Familien, und Tochter Gertrud weiß genau, welche sie für liberal und welche sie für konservativ zu halten hat. Wohl verkehrt man mit der einen oder anderen, selbstverständlich mit den fortschrittlichen und «besser Frisierten», doch auch in der protestantischen Umklammerung sucht die Familie keine katholische Nähe. Im Dorf gäbe es beispielsweise den «Katholischen Frauen- und Mütterverein» zur Unterstützung in Erziehungs- und Familienfragen oder die «Töchterkongregation» zur Anleitung der Heranwachsenden zu einem christlich-sittlichen Lebenswandel. Gertrud macht eine Zeit lang bei «Iduna» mit, dem konfessionell und politisch neutralen Mädchenverband innerhalb der Antialkoholbewegung, und Bertha weiß auch ohne kirchliche Anleitung, wie sie ihre pubertierenden Töchter zu erziehen hat. Sie, das ehemalige Bürofräulein, besucht 1928 mit ihren Töchtern in Bern die SAFFA, die erste «Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit», zu deren Eröffnung mit einer riesigen Schnecke gegen das vorenthaltene Frauenstimmrecht protestiert wurde. Vehement wehrt sie sich jedoch dagegen, dass Gertrud und Elisabeth, die gerne modische Bubikopf-Frisuren hätten, ihre langen Zöpfe abschneiden und zügelt ihre Sinnlichkeit. Als Onkel Frank aus London schreibt, sein Sohn habe tanzen gelernt und den ersten Ball erlebt, begehrt Gertrud auf, sie müsse hundertjährig werden, bis ihr dies auch erlaubt würde. Berthas Kommentar: «S’stimmt schon!! ha ha ha ha.


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