Sprachliche Bildung und Deutsch als Zweitsprache. Kristina Peuschel
und insbesondere die als defizitär markierten Deutsch als Zweitsprache-Kompetenzen einzelner Schüler*innen werden jedoch häufig als das entscheidende Merkmal sprachlicher Heterogenität im Klassenzimmer wahrgenommen. Auf der Grundlage einer etwas weiteren Sicht auf sprachliche Heterogenität in Schule und Unterricht können so unterschiedliche Aspekte wie Deutsch als Zweitsprache, Bilingualität, Mehrsprachigkeit, aber auch Lese-Rechtschreib-Schwäche, spezifische Sprachentwicklungsstörungen oder dialektaler Sprachgebrauch zusammenfallen: Sie stellen eine Abweichung von einer homogenisierenden Vorstellung einer (schulischen) Sprachnorm dar. Alle Schülergruppen können demnach als sprachlich heterogen gelten, nicht alle jedoch sind mehrsprachig und nur einige wenige Schüler*innen befinden sich mitten im Erwerb des Deutschen als Zweitsprache. Das folgende ausführliche Zitat verdeutlicht noch einmal eine sehr weite Perspektive auf sprachliche Heterogenität, mit der Unterricht in sprachlich heterogenen Klassen als Normalfall erscheint:
Alle Kinder lernen mit sprachlicher Heterogenität umzugehen, unabhängig davon, ob sie ein-, zwei- oder mehrsprachig aufwachsen. Jedes Kind lernt in der Kommunikation mit verschiedenen Gesprächspartnern unterschiedliche Register einer Sprache bzw. verschiedener Sprachen zu verstehen und zu gebrauchen, z.B. merken Kinder, dass der Großvater anders spricht als die Mutter, dass die Nachbarn anders sprechen als die eigenen Eltern, dass die Eltern mit der Händlerin, bei der sie einkaufen, anders sprechen als mit einem Lehrer, auch wenn sie nicht benennen können, ob dieses jeweils ‚andere Sprechen‘ ‚Dialekt‘ genannt wird oder ‚Soziolekt‘ oder gar ‚Sprache‘, und nicht erschöpfend artikulieren können, was diese ‚Andersheit‘ jeweils konkret ausmacht. […] Kennzeichnend für den Sprachgebrauch von migrationsbedingt mehrsprachig aufwachsenden Kindern und Jugendlichen im familiären und außerfamiliären Bereich ist das Mischen der Sprachen. Normative Vorstellungen von ‚gutem‘ und ‚schlechtem‘ Sprechen sowie normgeleitete Beurteilungen von Sprachprodukten beeinflussen zwar die Aneignung von Sprache(n), können aber migrationsbedingte Neuformationen von Sprachen nicht verhindern. So wie es gang und gäbe ist, zwischen dem Standard und dem Dialekt hin- und herzuwechseln, so ist es gang und gäbe, dass zwei- und mehrsprachig Aufwachsende sich von der einen Sprache anregen lassen, um die andere zu verändern oder während des Sprechens zwischen den Sprachen alternieren. (Dirim 2015a, 27f.)
Mit der Redeweise von sprachlicher Heterogenität wird also nicht allein auf die sich entwickelnden Deutschkenntnisse jüngst zugewanderter Kinder und Jugendlicher rekurriert. Sie bildet vielmehr den gesamten Bereich individuellen und gruppenspezifischen Sprachgebrauchs in Schule und Unterricht vor dem Hintergrund von sprachlichen Normalitätserwartungen ab. Damit kann sprachliche Heterogenität im Klassenzimmer als Normalfall bezeichnet werden, mit dem Lehrkräfte umzugehen lernen sollten. Dies erfordert zunächst, sich der eigenen sprachlichen Heterogenität bewusst zu werden und sie aktiv als Ressource zu verstehen.
Werden Lehramtsstudierende mit der Aufgabe konfrontiert, über ihre eigenen sprachlichen Ressourcen zu reflektieren, kann dies einen hilfreichen Einstieg in die Sensibilisierung für sprachliche Heterogenität und Mehrsprachigkeit im Unterricht darstellen. Das Schreiben einer Sprachlernbiographie dient der Bewusstmachung der eigenen Ressourcen im Kontext von Seminaren zum Umgang mit sprachlicher Heterogenität im Fachunterricht. Die folgenden Beispiele entstammen einem Seminar zu Sprachbildung im Fachunterricht an der Universität Tübingen und sollen die Vielfalt sprachlicher Ressourcen von Lehramtsstudierenden veranschaulichen.
„Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen, aber das Türkische ist meine Erstsprache. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich sie gelernt habe. Zu Hause lief meistens türkisches Fernsehen, türkisches Radio und ich bin mit türkischer Musik aufgewachsen. Deutsch habe ich im Kindergarten gelernt. Mit dem Eintritt in den Kindergarten hat meine ältere Schwester begonnen, mit mir nur noch Deutsch zu sprechen. Ich folgte ihrem Beispiel dann, als unsere kleine Schwester ebenso in den Kindergarten ging. Für meine Mutter war es sehr wichtig, dass wir zu deutschen Kindern Kontakt hatten, weswegen sie versucht hat, Freundschaften mit deutschen Kindern zu fördern. Aber es war auch wichtig für sie, dass wir das Türkische nicht vergessen und uns Wissen über die Türkei aneignen. Als ich in der 5. Klasse war, habe ich nachmittags die Türkische Schule besucht. Dort habe ich etwas zur Religion und zur Landeskunde der Türkei gelernt.“
„Ich bin im Iran geboren und aufgewachsen. Alle Personen in meiner Umgebung haben Persisch gesprochen. Deswegen kann ich sagen, dass ich monolingual persisch aufgewachsen bin. Erst in der Schule habe ich weitere Fremdsprachen wie Arabisch und Englisch gelernt. Mit der deutschen Sprache wurde ich mit der Einwanderung meiner Familie nach Deutschland näher konfrontiert.“
„Meine Erst- bzw. Muttersprache ist Deutsch. Da meine Heimat in der Nähe von Stuttgart ist, bin ich im schwäbischen Umfeld aufgewachsen. Seit meiner Kindheit wurde ich durch meine Familie, meine Verwandten oder meine Freunde mit Schwäbisch konfrontiert, deswegen bin ich deutsche Muttersprachlerin mit schwäbischem Einschlag :-) In Tübingen, an der Universität spreche ich meistens Hochdeutsch, in der Freizeit jedoch Schwäbisch.“
„Ich bin deutsche Muttersprachlerin und verwende in meinem Alltag vorwiegend Deutsch. Deutsche Dialekte kann ich zwar häufig zuordnen und verstehen, aber nicht selbst sprechen. Bereits in der Grundschule habe ich zwei Fremdsprachen gelernt, aber ich war weder für längere Zeit im Ausland, noch habe ich dort Verwandtschaft. Auch in meiner Freizeit hatte ich nie irgendeinen Kontakt zu anderen Sprachen gehabt, daher blieb mir nur Schule und danach Uni. Schade!“
Diese Beispiele individueller sprachlicher Ressourcen zeugen vom Normalfall sprachlicher Heterogenität, die sichtbar gemacht werden kann und sollte (mehr zu Sprach(lern)biographien z.B. in Busch 2017). In dieser Sichtbarmachung liegen im Falle von Lehramtsstudierenden mindestens zwei große Chancen.
Die Studierenden erhalten Zugang zu ihren eigenen sprachlichen Ressourcen, können sich selbst reflektieren und darüber nachdenken, wie sie ihre Ressourcen in ihrer späteren professionellen Tätigkeit einsetzen.
Zukünftige Lehrpersonen können sich den potentiell mehrsprachigen Schüler*innen mit einer ähnlich reflexiven Haltung nähern und so auch deren sprachliche Ressourcen herausarbeiten, positiv bewerten und für das Lernen einbeziehen.
Nicht alle individuellen (sprachlichen) Ressourcen können im Bildungsverlauf relevant gesetzt werden, einige gehen verloren, werden nicht ausgebaut und sind nur noch als Erinnerung und Element einer Biographie vorhanden (mehr dazu bei Brizić 2009). Mehrsprachigkeit kann aber auch bereits aufgrund familiärer Gegebenheiten und Ressourcen, unabhängig von schulischen Lernprozessen, vorhanden sein. Sie kann zudem durch Unterricht – vor allem den Unterricht in den modernen Fremdsprachen – hergestellt werden. Nicht alle sprachlichen Ressourcen erstrecken sich in gleichem Maße auf alle gesellschaftlichen Domänen, nicht alle Sprachen werden in gleichem Maße schriftlich und mündlich beherrscht. Der Begriff ‚Mehrsprachigkeit‘ wird „in den verschiedenen Disziplinen und Sprachräumen nicht einheitlich benutzt“ (Hu 2016, 11). Grundsätzlich steht Mehrsprachigkeit mit Bilingualität oder mit einem Repertoire von mehr als zwei Sprachen im Zusammenhang, so in der Tertiärsprachenforschung und der Fremdsprachendidaktik. Eine weitere grundlegende Unterscheidung ist die zwischen Plurilingualitität bzw. Plurilingualismus und Multilingualismus, das eine mit Referenz auf die individuellen Ressourcen und den individuellen Sprachgebrauch, das andere mit Bezug auf die gesellschaftliche Verfasstheit. So ist beispielsweise die Schweiz ein mehrsprachiger, multilingualer Staat mit Individuen, die plurilingual sind, wenn sie die verschiedenen Schweizer Landessprachen