Linguistic Landscape als Spiegelbild von Sprachpolitik und Sprachdemografie?. Philippe Moser

Linguistic Landscape als Spiegelbild von Sprachpolitik und Sprachdemografie? - Philippe Moser


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den folgenden Untersuchungen zu den fünf mehrsprachigen Städten Freiburg, Murten, Biel, Aosta und Luxemburg sowie zur für Vergleiche herangezogenen einsprachigen Stadt Aarau werden wir uns mit den folgenden grundlegenden Fragestellungen befassen:

      1 Entspricht die Präsenz der berücksichtigten Sprachen (d.h. der offiziellen und/oder traditionellen Sprachen der jeweiligen Städte) respektive mehrsprachiger1 Einheiten in der Linguistic Landscape der tatsächlichen aktuellen Sprachsituation der jeweiligen Stadt in Bezug auf die Anteile der Sprecherinnen und Sprecher der jeweiligen Sprachen?

      2 Entspricht die Präsenz der berücksichtigten Sprachen (d.h. der offiziellen und/oder traditionellen Sprachen der jeweiligen Städte) respektive mehrsprachiger Einheiten in der Linguistic Landscape allfälligen sprachpolitischen und/oder sprachplanerischen Regelungen (falls vorhanden) der jeweiligen Städte und/oder Regionen?

      3 Gibt es Unterschiede zwischen verschiedenen Zonen (‹Altstadt› vs. Gesamtgebiet) der Städte? Wo sind mehrsprachige Einheiten und Minderheitensprachen resp. weniger vertretene Sprachen mit grösserer Wahrscheinlichkeit anzutreffen?

      4 Gibt es in Bezug auf Fragen 1-3 Unterschiede zwischen den Kategorien top-down und bottom-up?

      5 Gibt es in Bezug auf Fragen 1-4 Unterschiede zwischen den fünf untersuchten mehrsprachigen Städten und der einsprachigen ‹Vergleichsstadt›?

      6 Welche Rolle spielt die grafische Darstellung der verschiedenen Versionen in mehrsprachigen Einheiten?

      7 Welche Rolle spielt die (vollständige oder partielle) Übersetzung in mehrsprachigen Einheiten? Gibt es typische Übersetzungsstrategien der mehrsprachigen Linguistic Landscape?

      8 Gibt es in Bezug auf die Fragen 6-7 Unterschiede zwischen den Kategorien top-down und bottom-up?

      9 Gibt es in Bezug auf die Fragen 6-8 Unterschiede zwischen den fünf untersuchten mehrsprachigen Städten und der einsprachigen Vergleichsstadt?

      Die Fragen 1-5 sind Gegenstand der Untersuchungen zu sämtlichen in den jeweiligen Städten erhobenen Einheiten, während die Fragen 6-9 anhand ausgewählter einzelner Beispiele in einem rein qualitativen Ansatz behandelt werden.

      Diese Behandlung der Fragestellungen soll schliesslich auch zur Beantwortung der Frage führen, ob eine Methode, die sich ausschliesslich auf eine Betrachtung der Linguistic Landscape im in A.3.3.1 definierten Sinn beschränkt, Aussagen über Sprachdemografie und Sprachpolitik eines bestimmten Territoriums zulässt.

      A.2 Sprachgeschichte und Sprachsituation der untersuchten Orte

      A.2.0 Mehrsprachigkeit in der Schweiz1

      Die Schweiz wird als Bundesstaat auf den drei Staatsebenen Bund, Kanton und Gemeinde verwaltet, wobei jede Einheit der drei Ebenen ihre offiziellen Sprachen festlegt. In einigen Kantonen existiert ausserdem eine zusätzliche dezentralisierende Ebene zwischen Gemeinde und Kanton, bestehend aus Bezirken oder Kreisen, welche ebenfalls offizielle Sprachen bestimmen, was in der vorliegenden Untersuchung insbesondere für die Fälle von Freiburg und Murten von Bedeutung ist (vgl. A.2.1 und A.2.2). Auf die gesetzlichen Grundlagen der Sprachpolitik auf Kantons-, Bezirks- (respektive Kreis-) und Gemeindeebene für die betreffenden Städte und Regionen gehen wir in den jeweiligen Kapiteln ein (A.2.1.2, A.2.2.2, A.2.3.2, A.2.6) und befassen uns hier mit den Bestimmungen auf Bundesebene.

      Die offiziellen Landes- und Amtssprachen der Schweiz werden in den Artikeln 4 und 70 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft festgelegt:

       Art. 4 Landessprachen

      Die Landessprachen sind Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch.

       Art. 70 Sprachen

      1 Die Amtssprachen des Bundes sind Deutsch, Französisch und Italienisch. Im Verkehr mit Personen rätoromanischer Sprache ist auch das Rätoromanische Amtssprache des Bundes.

      2 Die Kantone bestimmen ihre Amtssprachen. Um das Einvernehmen zwischen den Sprachgemeinschaften zu wahren, achten sie auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete und nehmen Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Minderheiten.

      3 Bund und Kantone fördern die Verständigung und den Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften.

      4 Der Bund unterstützt die mehrsprachigen Kantone bei der Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben.

      5 Der Bund unterstützt Massnahmen der Kantone Graubünden und Tessin zur Erhaltung und Förderung der rätoromanischen und der italienischen Sprache.

      (BV, Art. 4; Art. 70)

      Die Sprachenfreiheit wird in Artikel 18 festgehalten:

       Art. 18 Sprachenfreiheit

      Die Sprachenfreiheit ist gewährleistet.

      (BV, Art. 18)

      Vier Sprachen erhalten also gemäss Artikel 4 der Bundesverfassung den Status einer «Landessprache» (Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch), nur drei davon sind jedoch «Amtssprachen des Bundes» gemäss Artikel 70 Absatz 1: Deutsch, Französisch und Italienisch. Rätoromanisch ist lediglich Amtssprache für ausdrücklich an Mitglieder der rätoromanischen Sprachgemeinschaft gerichtete Kommunikation, während die übrige Kommunikation grundsätzlich dreisprachig gewährleistet werden sollte.

      Seit 2010 ist zusätzlich das Bundesgesetz über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften (kurz Sprachengesetz, SpG, SR 441.1) in Kraft, das zusammen mit der zugehörigen Verordnung (Sprachenverordnung, SpV, SR 441.11) den Umgang mit der schweizerischen Mehrsprachigkeitssituation auf staatlicher Ebene regelt2. In Artikel 2 wird der Zweck des Sprachengesetzes festgehalten:

      a. die Viersprachigkeit als Wesensmerkmal der Schweiz stärken;

      b. den inneren Zusammenhalt des Landes festigen;

      c. die individuelle und die institutionelle Mehrsprachigkeit in den Landessprachen fördern;

      d. das Rätoromanische und das Italienische als Landessprachen erhalten und fördern.

      (SpG, Art. 2)

      In Artikel 3 Absatz 1 werden die Grundsätze festgelegt, die der Bund «bei der Erfüllung seiner Aufgaben» zu beachten hat:

      a. Er achtet darauf, die vier Landessprachen gleich zu behandeln.

      b. Er gewährleistet und verwirklicht die Sprachenfreiheit in allen Bereichen seines Handelns.

      c. Er trägt der herkömmlichen sprachlichen Zusammensetzung der Gebiete Rechnung.

      d. Er fördert die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften.

      (SpG, Art. 3)

      Die Mehrsprachigkeit des Landes wird also gesetzlich anerkannt und soll sowohl im Sinne von individuellen Kompetenzen der Einwohnerinnen und Einwohner als auch in Bezug auf Sprachgebrauch und Kommunikation der Behörden und Institutionen gefördert werden. Dazu vorgesehen sind namentlich Massnahmen im Bereich der Schule (Art. 14, 15 und 16 SpG; Art. 9 und 10 SpV), finanzielle Unterstützungen für die als mehrsprachig anerkannten Kantone Bern, Freiburg, Wallis und Graubünden (Art. 21 SpG; Art. 17 SpV) sowie für die Kantone Tessin und Graubünden zur Förderung der beiden kleinsten Sprachgemeinschaften Italienisch und Rätoromanisch (Art. 22 SpG; Art. 18-25 SpV). Empfehlungen und Bestimmungen zur Vertretung der Sprachgemeinschaften innerhalb der Bundesverwaltung werden ebenfalls abgegeben (Art. 7 SpV).

      Die Schweiz kennt im Grundsatz das Territorialitätsprinzip in Sinne einer abgegrenzten räumlichen Verteilung der offiziellen Sprachen. Dieses Prinzip wird in Artikel 70 der Bundesverfassung und im Sprachengesetz lediglich umschrieben: «Die Kantone bestimmen ihre Amtssprachen. Um das Einvernehmen zwischen den Sprachgemeinschaften zu wahren, achten sie auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete und nehmen Rücksicht


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