Deutsch in Luxemburg. Fabienne Scheer
meist aus Luxemburg hinaus (vgl. Willems/Milmeister 2008: 64). Das Gebiet galt als arm und rückständig und erlebte mehrere Auswanderungswellen. Allein zwischen 1841 und 1891 verließen rund 72000 Luxemburger ihr Land – fast die Hälfte der Bevölkerung (vgl. Thewes 2008: 10). Mit dem Beitritt zum Deutschen Zollverein entwickelte sich ab 1842 ein Auslandsmarkt. Im selben Jahr wurde im Süden des Landes Eisenerz entdeckt. Zwischen 1870 und 1880 nahm die Stahlproduktion stetig zu (vgl. Hoffmann 2002: 60). Die nun benötigten Arbeitskräfte kamen zunächst aus Deutschland, Belgien und Frankreich, kurz darauf aus Polen und Italien (vgl. ebd.; Hausemer 2008a: 3). Ab 1892 bestand ein allgemeiner Trend zur Einwanderung nach Luxemburg (vgl. Willems/Milmeister 2008: 65).1 Für die schlecht bezahlten Arbeiten in den Minen, Hüttenwerken und in der Baubranche wurden gezielt italienische Gastarbeiter angeworben (vgl. Pauly 2011: 118).2 Das für den Aufbau des Stahlsektors benötigte Kapital, das notwendige Know-how und der Absatzmarkt kamen überwiegend aus Deutschland (vgl. ebd.; Trausch 2003: 227). Bis zum ersten Weltkrieg machten die Deutschen über die Hälfte der in Luxemburg wohnenden Ausländer aus (vgl. Willems/Milmeister 2008: 66). Nach dem ersten Weltkrieg zog Luxemburg sich aus dem Zollverein zurück und fand nicht sofort einen neuen Wirtschaftspartner (vgl. Hoffmann 2002: 65). Die ausländischen Arbeitskräfte waren als erste von Entlassungen betroffen. Als sich die Wirtschaft wieder erholt hatte, wurden sie erneut angeworben (vgl. ebd.: 66). Es waren hauptsächlich Italiener, die im Stahlsektor und in der Baubranche arbeiteten (vgl. ebd.). Mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 sank der Anteil an ausländischen Arbeitskräften wieder (vgl. ebd.).
Die deutsche Immigration brach mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ab (vgl. Pauly 1985: 11). Der Fremdenanteil in der Bevölkerung betrug 1947 nur noch 10 %. Das änderte sich bald, da Aufbauhelfer benötigt wurden (vgl. ebd.). 1948 wurde ein erstes bilaterales Arbeitskräfte-Abkommen zwischen Luxemburg und Italien unterzeichnet, das in regelmäßigen Abständen bis 1957 erneuert wurde (vgl. Hausemer 2008a: 3; vgl. Scuto 2012: 285). 1947 waren 7622 italienische Aufbauhelfer im Land, 1960 stieg die Zahl italienischer Gastarbeiter auf 15708 an (vgl. Hoffmann 2002: 67).3
Ab 1949 wurde eine Diversifizierung der Wirtschaft angestrebt, um die Abhängigkeit von der Stahlbranche zu verringern (vgl. Pauly 2011: 107). Die Niederlassung des Reifenherstellers Goodyear im Jahr 1951 war richtungsweisend (vgl. Trausch 2003: 262; Weides et al. 2003: 11). Immer mehr Firmen zog es daraufhin nach Luxemburg. Angelockt durch steuerliche Vorteile, eine Politik der kleinen Wege, politische Stabilität und sozialen Frieden ließen sich zwischen 1959 und 1972 rund fünfzig Unternehmen in Luxemburg nieder (vgl. ebd.). Als die italienische Wirtschaft in den fünfziger Jahren einen Aufschwung erlebte, ließ die Zuwanderung der Italiener nach, zumal diese zunehmend nach Deutschland oder in die Schweiz auswanderten (vgl. Pauly 2010: 68; Pauly 2011: 119). Luxemburg ging dazu über eine aktive Immigrationspolitik zu betreiben (vgl. Scuto 2012: 296). Als Anreiz wurde die Familienzusammenführung ermöglicht, die aber nicht von den Italienern, sondern von Portugiesen, Kapverdiern mit portugiesischem Pass und Spaniern genutzt wurde. 1972 wurden bilaterale Abkommen mit Portugal und dem ehemaligen Jugoslawien in der Abgeordnetenkammer ratifiziert (vgl. Scuto 2012: 296f.; Pauly 2010: 68).4 1972 wurde auch das erste Zuwanderungsgesetz in Luxemburg verabschiedet (loi du 28 mars 1972 concernant l’entrée et le séjour des étrangers) und eine nationale Einwanderungsbehörde (Service Social de l’Immigration) geschaffen (vgl. Kollwelter 1994: 6). Als Portugal 1986 der EU beitrat, wurde es für portugiesische Zuwanderer noch einfacher nach Luxemburg zu kommen.
Ab Mitte der 1970er Jahre entwickelte sich der Finanzsektor zum wichtigsten Träger der luxemburgischen Wirtschaft (vgl. Pauly 2011: 112; Thewes 2008: 19).5 Der Finanzplatz Luxemburg und die Präsenz der europäischen Behörden hat die Migration verändert. Neben den traditionellen Arbeitsmigranten kommt hochqualifiziertes Personal. Der Finanzsektor zieht Grenzgänger nach Luxemburg, die heute in allen Wirtschaftssparten, aber vor allem im Finanzbereich, in Industrie und Handel sowie im Gesundheitswesen tätig sind (vgl. Trausch 2003: 283).
Luxemburg ist heute ein Einwanderungsland. Bei einer Gesamtbevölkerung von 563700 Einwohnern haben 258700 Bürger keinen luxemburgischen Pass (vgl. Statec 2015: 9). Die Portugiesen liegen mit 92100 Zuwanderern an der Spitze, gefolgt von 39400 Franzosen, 19500 Italienern, 18800 Belgiern, 12800 Deutschen, 6000 Briten, 4000 Niederländern, weiteren 29600 Zuwanderern aus der Europäischen Union und 36500 Nicht-EU-Bürgern (vgl. Statec 2015: 10). Durch Zuwanderung und Globalisierung erfuhr und erfährt der luxemburgische Sprachraum Veränderungen. Die Regeln des Sprachverhaltens in Luxemburg und der Stellenwert der einzelnen Sprachen im Land beruhen auf einem Wissen, einer spezifischen Logik, das/die dem einzelnen Bürger bei der Entscheidung, welche Sprache er in welcher Situation benutzen sollte, behilflich ist. Ich setze bei diesem spezifischen Wissen der Sprecher an, wenn es darum geht, den Stellenwert der deutschen Sprache in Luxemburg zu erschließen. Es ist ein Wissen, das je nach Sprachgruppenzugehörigkeit verschieden ausgeprägt und ausgebildet ist, aber darüber entscheidet, welche Sprachen aus den jeweils verfügbaren Sprachrepertoires ausgewählt werden dürfen und darüber informiert, wie in Luxemburg über einzelne Sprachen gedacht wird. Ausgehend von der Frage, was das Sprachwissen einer mehrsprachigen Gesellschaft, und konkreter, der luxemburgischen, eigentlich kennzeichnet, stellt sich in einem weiteren Schritt die Frage, inwiefern Migrationsbewegungen dieses Wissen verändern.
Im nun folgenden theoretischen Kapitel wird dieser Wissensbegriff mit der Hinzunahme von Theorien aus Soziologie, Geschichtswissenschaft und Sozio- und Kulturlinguistik umrissen. Zunächst wird zur Bezeichnung dieses ‚Orientierungswissens’ beim Begriff Denken-wie-üblich von Alfred Schütz angesetzt, der um den Begriff Handeln-wie-üblich ergänzt wird. Später kann das Wissen dann treffender als Mentalitätenwissen definiert werden. Anschließend wird der Foucaultsche Diskursbegriff vorgestellt, um das Wissen, das in der Gesellschaft über die Positionen, Funktionen und Bewertungen der einzelnen in Luxemburg vorkommenden Sprachen zirkuliert, mittels der Analyse von Sprecheraussagen, bzw. über die Analyse von Aussagen und Äußerungen von Diskursteilnehmern, zu erfassen.
III. Das Wissen der Sprecher – Theoretische Grundlagen
1 Über Mentalitätenwissen, Sprachdenken und Sprachhandeln
1.1 „Dieses ‚Denken-wie-üblich‘, wie wir es nennen möchten […]“1
Als ich mich in der Recherchearbeit befand, nach und nach das Untersuchungskorpus zusammenstellte und die ersten Expertengespräche führte, wurde mir des Öfteren gesagt, ich würde eine zentrale Voraussetzung mitbringen, um mich an das Thema ‚Deutsch in Luxemburg’ heranzuwagen, nämlich das teils bewusste, teils unbewusste Wissen über. Hierbei handelt es sich um ein Wissen, das durch die Sozialisation in Luxemburg erworben wird und das weit über die reine Kenntnis der drei offiziellen Landessprachen hinausgeht. Eine erste Definition dieses sogenannten intuitiven Wissens sowie ein Porträt des ‚Un-Wissenden’ formulierte Alfred Schütz in seinem Beitrag Der Fremde. Ein sozialpsychologischer Versuch (1972). Schütz beschreibt hier die Ausgangssituation, in der sich ein Fremder befindet, wenn er „versucht, sein Verhältnis zur Zivilisation und Kultur einer sozialen Gruppe zu bestimmen und sich in ihr neu zurechtzufinden“ (ebd.: 53). Den Fremden bezeichnet er als einen Erwachsenen, der sich als Immigrant in der „Situation der Annäherung [an eine neue Gesellschaft befindet], die jeder möglichen sozialen Anpassung vorhergeht und deren Voraussetzungen enthält“ (ebd.: 54). Fremde betreten als Unwissende ein neues Feld bzw. mehrere neue soziale Felder, deren Denk- und Handlungsgewohnheiten ihnen zunächst einmal nicht vertraut sind (vgl. ebd.: 55). Immigranten müssen für alle gesellschaftlichen Bereiche das passende Sozialverhalten neu erwerben oder überprüfen. Vorwissen über etwaige Verhaltensmuster der Zielgemeinschaft muss gegebenenfalls revidiert werden.
Der Begriff des lebensweltlichen Wissens bezeichnet bei Schütz den Wissensvorrat eines Menschen. Er fasst den Begriff zunächst weit, indem er annimmt, dass darin Traumwissen, Phantasiewissen, religiöses Wissen und Alltagswissen enthalten sind (vgl. Schütz/Luckmann 2003: 178). Das Alltagswissen stellt dabei den Kernbereich des lebensweltlichen Wissensvorrats dar und dient als Orientierungsgrundlage (vgl. ebd.; Schütz 1972: 55). Es handelt sich hierbei in erster Linie um Wissen über Denk- und Verhaltensmuster, vergangene Ereignisse, Erfahrungen, individuelle und tradierte Verhaltensroutinen und Verhaltenserwartungen. Das Alltagswissen