Deutsch in Luxemburg. Fabienne Scheer

Deutsch in Luxemburg - Fabienne Scheer


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Zusatz von Peter Dinzelbacher (1993: XXIV) – „Mentalität manifestiert sich in Handlungen“ – ist hier für die Verbindung von Theorie und Methode von zentraler Bedeutung: Die Handlungen, an denen sich das Mentalitätenwissen einer Zeit abzeichnet, können über die Sprache, mit der sie vollzogen wurden, wiederhergestellt werden und lassen sich folglich auf diese Weise untersuchen. Es ist die Sprache, über die Wissen wieder- und weitergegeben wird, sich Wissen manifestiert und konstituiert, in Texten oder Gesprächen materialisiert und damit greifbar und analysierbar wird.

      Empirische Sozialwissenschaft muss sich für Texte interessieren, weil ihr Gegenstand ihr in Texten gegenüber tritt und weil sie die Aussagen über ihren Gegenstand an nichts anderem als an Texten überprüfen kann (Wernet 2009: 11).

      So wird in Anlehnung an Viehöver/Keller/Schneider (2013: 9), Felder/Müller (2009: 5) und Felder (2009: 21–77) die Sprachlichkeit der Wissenskonstituierung betont: Wissen entsteht über Kommunikation, Wissen wird verwahrt über Kommunikation und Wissen verändert sich über Kommunikation. Mit den genannten Autoren wird auch die Gesellschaftlichkeit der Sprache unterstrichen: Sprache kann nicht unabhängig von gesellschaftlichen Erfahrungen existieren. Sie wird im sozialen Kontext praktiziert und verändert sich in diesem Kontext. Deshalb eignet sich die zunächst abstrakt erscheinende Einheit ‚Diskurs’, um „das Netz aller in einer Gesellschaft möglichen Aussagen zu einem bestimmten Thema […] einschließlich der gesellschaftlichen Perspektiven, Normen, Interessen und Machtverhältnisse“ auf einer vierten Ebene1 zu erfassen (vgl. Linke/Nussbaumer/Portmann 2004: 290). Die Rekonstruktion eines Diskurses erlaubt es, eine Vielzahl an sprachlichen Handlungen – die den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit mit dem entsprechenden Titel ‚Deutsch in Luxemburg’ bilden – zu erfassen und dabei kollektives Sprachwissen und Sprachhandeln zu untersuchen. Warnke/Spitzmüller (2008: 42) führten aus, dass es

      [d]as Ziel vieler diskursanalytischer Arbeiten ist […], Ideologien oder Mentalitäten freizulegen. Ob eher das eine oder das andere im Mittelpunkt steht, hängt unter anderem auch von der fachgeschichtlichen Tradition ab, in der die jeweiligen Analysen stehen. Im Umkreis der germanistischen Diskursgeschichte bzw. Diskurssemantik ist eher das aus der französischen (Annales-)Historiographie stammende Konzept der Mentalität wichtig geworden, in der angelsächsischen Diskurslinguistik sowie in der Kritischen Diskursanalyse eher das Konzept der Ideologie, das dort stark von der linguistischen Anthropologie geprägt wurde.

      Öffentliche sprachliche Manifestierungen sind zugleich Praxis (Produzent/Produktion) und Arrangement (Abbildung und Ordnung) dieses Wissensbestandes.2 Die Sprache informiert über das Wissen (im vorliegenden Fall über Sprachwissen) und sie ist zugleich am Erschaffen neuen Wissens beteiligt bzw. motiviert zu einem bestimmten Verhalten (hier zu einem bestimmten Sprachhandeln). So werden über sprachliche Manifestierungen (Gesprächsauszüge, Texte, etc.) die Bedeutungen und Bewertungen, die in der luxemburgischen Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit einer oder mehreren Sprachen beigemessen werden, zugänglich.

      2 „Archäologie des Wissens“ – Linguistische Diskursanalyse und die empirische Analyse und Rekonstruktion von Wissensbeständen

       „Ich will nicht unterhalb des Diskurses das Denken der Menschen erforschen, sondern ich versuche, den Diskurs in seiner manifesten Existenz zu erfassen, als eine Praxis, die Regeln gehorcht. Regeln der Formation, der Existenz, der Koexistenz, Systemen des Funktionierens usw. Diese Praxis in ihrer Koexistenz und nahezu in ihrer Materialität, ist es, die ich

       beschreibe.“ (Foucault 1969: 982).

      2.1 Erschließung des Foucaultschen Diskursbegriffs

      Der Begriff ‚Diskurs’ wird in der deutschen Wissenschaftssprache nicht einheitlich verwendet. Das gilt auch für die Diskursanalyse als wissenschaftliche Untersuchungsmethode. Die Methoden der Diskursanalyse und die Diskurskonzepte unterscheiden sich von Disziplin zu Disziplin und auch innerhalb der Fachgrenzen von Forschungsgegenstand zu Forschungsgegenstand. Die Diskurslinguistik ist gegenwärtig ein Sammelbegriff unter den Sprachanalysen gefasst werden, die sich (vor allem) mit dem beschäftigen, was über die Wort-, Satz-, und Textebene hinausgeht und die sich mit der gesellschafts- und wissenskonstituierenden Funktion von Sprache befassen (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011: 10). Ein Forschungsprojekt, das einen der vielen Diskursbegriffe, eine der vielen Diskurstheorien und eine der zahlreich vorhandenen Diskursmethoden appliziert, kommt nicht umhin zunächst das eigene Diskursverständnis darzulegen.

      Das deutsche Lexem ‚Diskurs’ findet Anfang des 16. Jahrhunderts durch französische Vermittlung Eingang in den deutschen Sprachgebrauch (vgl. Pfeifer 2005: 230). Etymologisch leitet sich das Wort von mittelfranzösisch/französisch discours, aus spätlateinisch discursus ab (= ‚Verkehr, Umgang, Gespräch’ ; lat. discurrere ‚auseinanderlaufen’, ‚sich ausbreiten’; spätlat. ‚etwas mitteilen’) (vgl. ebd.). Der deutsche Diskursbegriff wird, wie auch sein französisches Pendant, bis ins 20. Jahrhundert hinein gleichbedeutend mit ‚wissenschaftliches Gespräch’‚ ‚wissenschaftliche Abhandlung’ oder auch ‚gelehrte Disputation’ gebraucht (vgl. Warnke 2007: 3; Heinemann 2011: 33). Neben dieser Bedeutung wird Diskurs ab dem 17. Jahrhundert auch als Quasisynonym zu ‚Konversation’ verwendet (vgl. ebd.).

      Seit den 1970er Jahren wird der Diskursbegriff in der Mediensprache gebraucht. Er taucht dort zunächst im Feuilleton auf, später dann in sämtlichen Ressorts als Quasisynonym für ‚Debatte’ ‚Dialog’, ‚Gespräch’ oder ‚öffentlicher Meinungsaustausch’ (vgl. Spitzmüller/Warnke 2011: 6, 9). Über die Medien erfährt der Diskursbegriff eine massive Bedeutungserweiterung, etabliert sich im Bildungswortschatz, um dann Eingang in die Umgangssprache zu finden (vgl. ebd.: 6). Dadurch verliert er erheblich an Prägnanz:

      Wie so oft ist aus einem neuen oder neu definierten Begriff, aus einem Codewort, das nur von wenigen und sehr gezielt verwendet wurde, nach einer Periode der Abwehr ein Allerweltsbegriff geworden, den man fast schon wie eine abgenutzte Münze in die Hand nimmt, ohne ihn näher zu betrachten (Schöttler 1997: 134).

      Von einem Diskurs wird heute gesprochen, wenn das (Haupt)-Thema einer öffentlichen Debatte bezeichnet wird (Krisendiskurs, Stammzellendiskurs etc.) und/oder die unterschiedlichen Träger solcher Debatten benannt werden (Mediendiskurs, politischer Diskurs, juristischer Diskurs, Laiendiskurs etc.) (vgl. auch Heinemann 2011: 32). Der Begriff erlaubt die Eingrenzung des Bereichs, in dem diskutiert wird (Bildungsdiskurs, Literaturdiskurs, Werbediskurs u.a.) (vgl. ebd.).

      Alle Diskursverständnisse haben als gemeinsame Grundbedeutung die öffentliche „Praxis des Denkens, des Schreibens, Sprechens und Handelns“ (Parr 2008: 234). Insofern ist der Diskursbegriff genuin linguistisch. Er bezieht sich auf Kommuniziertes (vgl. Jung 1996: 453). Hinter dem wissenschaftlichen Diskursverständnis stehen umfangreiche Konzepte einzelner Denker, die wiederum sehr heterogen rezipiert und weitergedacht wurden. Das Diskursverständnis von Michel Foucault und die an seine Schriften angelehnte linguistische Lesart eines Diskurses, prägen die methodische Vorgehensweise dieser Arbeit. Sie ermöglichen die Erfassung von Wissenssegmenten über die Analyse von Äußerungen. Foucault selbst regte dazu an, aus seinen Ausführungen die theoretischen Begrifflichkeiten zu entnehmen und Methoden zu entwickeln, die sinnvoll erscheinen, um „[…] das handlungsleitende und sozial stratifizierende kollektive Wissen bestimmter Kulturen und Kollektive zu erschließen“ (Spitzmüller/Warnke 2011: 8). Die Diskurslinguistik im Anschluss an Foucault hat bis heute keine einheitlichen Definitionen und Verfahrensweisen. Es gibt mehrere Theorieverständnisse (und damit einhergehend unterschiedliche Methoden), verschiedene Schulen1, die sich im Verlauf der letzten Jahre entwickelt haben und die Schriften Foucaults unterschiedlich stark gewichten. Der Sammelband Diskurslinguistik nach Foucault (Warnke 2007) war bedeutsam für die Etablierung einer Diskurslinguistik im deutschsprachigen Raum. Andreas Gardt (2007: 30) fasste dort das linguistische Diskursverständnis wie folgt zusammen:

      Ein Diskurs ist die Auseinandersetzung mit einem Thema, – die sich in Äußerungen und Texten der unterschiedlichsten


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