Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur. Manuel Caballero González

Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur - Manuel Caballero González


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Fast. VI 473–562OvidFast. VI 473–562

      Dies ist eine der wichtigsten Textstellen in der griechischen und lateinischen Literatur für das Verständnis und die Interpretation von Athamas’ Mythos. Es handelt sich um den 11. Juni. Ovid schildert das Fest der Matralia1, die auf dem Forum Boarium in RomRom stattfand. Hier wird die I-L-M-Version präsentiert. Die Erzählung ist den ätiologischen Geschichten von Plutarch2 ähnlich; der Unterschied liegt darin, dass Ovids Werk literarisch höher steht als das des griechischen Schriftstellers.

      Bevor der Text ausführlich analysiert wird, ist es nützlich, seine Struktur darzustellen:

       Kleine Einleitung zum Tag (473–474).

       Vorstellung der Matralia:Zielpublikum (475)KultKult (476)Lokalisierung (477–480)Motivierung der Erzählung: Drei Fragen (481–482)

       Anrufung von Bacchus (483–484)

       Erster Teil: I-L-M-Version (485–498)Bacchus’ Aufnahme (485–486)Junos Zorn (487–488)Athamas’ furor und Learchos’ Tod und Beisetzung (489–492)Ino und Melikertes (493–498)

       Kurzes Zwischenspiel: Panopes Aufnahme und Seefahrt (499–502)

       Zweiter Teil: AbenteuerAbenteuer in Italien (503–550)Semeles oder Stimulas Hain (503–506)Junos Eingriff und Mänadens Angriff (507–515)Inos Anrufung und Herkules’ Beihilfe (516–522)Herkules’ Dialog und Inos Fama (523–528)Gast bei Carmentis: Kuchen – Prophezeiung – Divinisierung (529–550)

       Dritter Teil: Grund für den Hass den Sklavinnen gegenüber (551–558).Einleitung (551–552)Athamas’ heimliche Liebe zu einer SklavinSklavin und Anklage wegen des verbrannten Samens (553–558)

       Epilog: Bitte für die Nachkommenschaft der anderen (559–562)

      Die kleine Einführung (473–474) spielt auf den Beginn des Tages an, denn „Tithon, époux de l’Aurore, était le fils de Laomédon et le frère de Priam“3. Das Wort exit muss man „in der Bedeutung oriri“4 verstehen.

       0’) Vorstellung

      Ovid wendet sich an die guten römischen Mütter und lädt sie ein, zu ihrem Fest, den Matralia, zu kommen. Das Zielpublikum sind dann entweder bonae matres (475) oder die pia mater (559). Man muss beachten, dass „Ovide emploie matres comme équivalent de matronae“5. Leider gestattet der Umfang dieses Buches nicht, in das faszinierende Thema der Matralia einzudringen; hier wird nur das Wichtigste hervorgehoben6. Auf jeden Fall behauptet Schilling treffend, „le développement d’Ovide est une illustration remarquable du cas où rite et mythe se trouvaient en discordance“7.

      Die Matralia8 wurden zu Ehren von Mater MatutaMatuta gefeiert. Frazer glaubt, sie war „an old Italian goddess, whom Ovid erroneously identified with the Greek goddess Ino or Leucothea“9. Schilling meint, „l’assimilation syncrétiste Mater Matuta-Leucothea était un fait acquis dès le temps de Cicéron (N.D. 3, 3910)“11; die Gründe für diese Gleichsetzung aber sind für Bömer „nicht leicht erkennbar“12. Der Ursprung dieser Göttin liegt im Dunklen; Frazer glaubt, „the ancients connected the name of the goddess Matuta with mane, ‚morning‘“13. Bömer schließt jedoch nicht aus, „wie Iuno Lucina ist auch Mater Matuta vielleicht schon ursprünglich Geburts- und Frauengottheit“14.

      Im Ritual dieses Festes sollten einige auffällige Merkmale betrachtet werden, wie z.B. die Beschränkung der Teilnahme: nur die mit einem einzigen Mann verheirateten Frauen (uniuira) durften dabei sein. Frazer erwähnt noch eine Angabe: „None but a wife who had had but one husband (uniuira) might place a wreath on the image of the goddess“15. Nach diesem Gelehrten galt die Vorschrift auch für das Abbild von Fortuna Muliebris16. Laut römischem Gesetz war es zwar nicht verpflichtend, dass der Mann noch lebte, aber man darf annehmen, dass die Witwen fernblieben. Man hätte ihnen vorwerfen können, „the pollution of death might be thought to attach to them“17.

      Man kann der Vollständigkeit wegen die bekannte These der Komparatistik in Bezug auf dieses Fest, wie sie Dumézil formuliert, hier einbringen: „L’Aurore allaite et lèche l’enfant de sa sœur, la Nuit. Cet enfant, qui est le Soleil, ne peut apparaître qu’après l’expulsion de l’Aurore. Dans cette perspective, le rôle des matrones romaines consiste à favoriser, par une sorte d’action sympathique, une fois l’an, le 11 juin, la réussite de cet office astral“18. Den Verlust dieser theologischen indogermanischen Geschichte ersetzt Ovid mit dem Mythos von Ino-Leukothea, weil er ‚diese griechische Figur‘ mit Mater MatutaMatuta identifiziert hat: Ino erzieht Bacchus, den Sohn ihrer Schwester SemeleSemele; die Sklavinnen werden aus dem Tempel geworfen, denn eine war die Geliebte ihres Mannes Athamas. Schließlich kann man sagen, „Ovide a adapté rigoureusement la mythologie grecque au rite latin“19. Interessant ist zu bemerken: „Der KultKult der Matuta war in Italien weit verbreitet (Satricum-Conca, Cora, Cales, Praeneste, Pisaurum u.a.)“20; und die Römer verbreiteten ihn, als sie die Welt eroberten.

      Die räumliche Umgebung für Ino-Leukothea ist nach Ovid ThebenTheben. Das ist logisch, weil ihr Vater KadmosKadmos die Stadt gegründet hatte. Obwohl dieses Thema ausführlicher im nächsten Kapitel analysiert wird, kann man schon jetzt folgenden Schluss ziehen: Wenn man auf Nepheles Sohn Phrixos besteht (I-P-H-Version) und er der Protagonist der Geschichte – normalerweise als Vorgeschichte der ArgonautenArgonauten – ist, wird die Erzählung in OrchomenosOrchomenos lokalisiert; zu dieser böotischen Stadt fuhren Phrixos’ Söhne, als sie ihre Mutter verließen, um das Haus ihres Großvaters Athamas zu erreichen, ob nun der Text das Erbe als Grund erwähnt21 oder nicht22. Der Leser findet sich in der Mitte der Erzählung des Mythos von Athamas. Wenn man auf Ino besteht (entweder I-P-H- oder I-L-M-Version) und sie die Protagonistin der Geschichte ist – ihr Bild kann entweder positiv oder negativ sein –, wird die Aktion in Theben stattfinden; in diesem Fall wird diese Erzählung mit KadmosKadmos’ Familie verbunden und betont das unglückliche Schicksal der Töchter von Kadmos.

      Ovids’ carmen geht weiter. Der Dichter erwähnt den gelblichen, knusprigen Kuchen, der zu Ehren der Göttin angeboten werden sollte. Wie in den Metamorphosen stellt Ovid verschiedene Szenen nebeneinander dar, die, wie üblich, mit einer neuen Ortsbeschreibung beginnen. Der Leser befindet sich auf dem Forum Boarium oder Bouarium, wie es auch genannt wurde; es liegt zwischen den Brücken der Tiberinsel und dem zwischen Palatin und Aventin liegenden Circus Maximus. Ovid nennt die Namen der Brücken nicht, „but they were probably the old wooden bridge (Pons Sublicius) and the Aemilian bridge (Pons Aemilius)“23. Zu dieser Gegend kam man vom Forum Romanum her durch das Velabrum, nämlich den Janusbogen (Ianus Quadrifons) gelangen. Es ist communis opinio, dass dieses Gebiet nordöstlich von der Kirche S. Giorgo in Velabro, südöstlich von der Kirche S. Maria in Cosmedin und südlich vom Ponte Rotto begrenzt wurde. Frazer denkt, „the position of the Ponte Rotto appears to correspond to that of the old wooden bridge (Pons Sublicius), and the Aemilian bridge was not far off“24.

      Dieser Ort bekam seinen Namen auf Grund des Denkmals eines liegenden Rindes, von dem keine Spur mehr erhalten ist. Frazer meint, Ovid habe sich darin geirrt25, denn es ist noch wahrscheinlicher, dass der Ort so genannt wurde, weil er ein berühmter Marktplatz war, der hauptsächlich als Viehmarkt diente. Das Bild, auf das Ovid angespielt, war aus Bronze, kam aus Ägina und wurde auf Myron zurückgeführt; im 1. Jh. n. Chr. (Plin. HN. XXXIV 10)Plinius der ÄltereHN. XXXIV 1026 war es noch sichtbar.

      Ovid weist in die Zeit des Königtums, und zwar des großen Königs Servius Tullius zurück, denn dieser König hat den Tempel zu Ehren von Mater MatutaMatuta geweiht. Der Text spricht über sacra … templa (479–480); der Plural muss so verstanden werden: „Servius Tullius (579–534) passe pour avoir consacré, le même jour et au même endroit, les temples de Mater Matuta (480) et de Fortuna (569) qui sont contigus“27. Ovids Behauptung ist in Liu. V 19, 1–7 bestätigt, wo man auch lesen kann, dass der Diktator Marcus Furius Camillus ihn 396 v. Chr. nach der Eroberung


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