Der Mythos des Athamas in der griechischen und lateinischen Literatur. Manuel Caballero González
die er beim Namen nennt und möglicherweise hat Ovid diese Nereide wegen des Textes von Vergil (VergilG. I 437G. I 437) explizit genannt: In Georgica steht sie bei dem Gelübde, das die Seeleute ablegen, buchstäblich neben Ino.
Man muss bemerken, dass nur Learchos in den Fasten stirbt; Ino und Melikertes überstehen inlaesos (499). Außerdem ändert sich der Ton der Beschreibung ganz und gar: von den zerrauften Haaren, den rasenden Armen, den tödlichen Sprüngen zu einer sanften Seefahrt. Das erinnert den Leser an die Seefahrt von Phrixos und Helle, denen auch von den Göttern durch das goldene Vlies geholfen wurde. Ovid besteht aber darauf, dass Ino und Melikertes’ Divinisierung noch nicht stattgefunden hat (vgl. Vers 501).
2’) Die AbenteuerAbenteuer in Italien
Ino und Melikertes kommen zum ersten Mal in der griechischen und lateinischen Literatur im Mündungsgebiet des Tibers an.
Und noch einmal: Eine neue Bühne, eine neue Szene: Ein Hain. Der Leser ist gespannt; schwierig ist, die Morde von Aktaion, Pentheus und Learchos im Wald zu vergessen. Die Struktur ist derjenigen von Vers 495 (lucus erat) ähnlich, mit einer bloßen Umkehrung von Wörtern: Substantiv + Verb. Seltsam ist der Name des Hains: entweder Semeles, Inos Schwester und Mutter von Bacchus, des Gottes des Wahnsinns, oder Stimulas, eines Schlüsselwortes in Ios Irrsinnn. Der Name des Haines legt im Voraus die Natur seiner Bewohner fest: die Mänaden Ausoniens. Frazer meint, Stimula „seems to have been a genuine old Roman goddess, the personification of the impulses which stimulate and excite the mind“49. Die Identifizierung mit SemeleSemele, Bacchus’ Mutter, war möglich, weil das Bacchusfest, das Bacchanal, vielleicht in diesem Gebiet stattfand; Le Bonniec deutet tatsächlich an, „le sens de Stimula (déesse « qui aiguillonne ») semble faire de cette déesse une instigatrice du délire bachique“50. Ernout / Meillet glauben, Stimula könnte vielleicht eine volkstümliche Fehlbildung von Semele sein51. Dieser Meinung ist auch Bömer, wenn er schreibt: „Ihre Verbindung zu Semele ist in erster Linie auf die sprachliche Ähnlichkeit zurückzuführen“52; oder Le Bonniec selbst: „Vieille divinité italique, mal connue, rapprochée de Sémélé à cause de la ressemblance de leurs noms“53.
In diesem Hain, der auch in CIL. VI 2 9897EinschriftenCIL. VI 2 989754 erwähnt ist, fand angeblich das berühmte Bacchanal des Jahres 186 v. Chr. statt, das RomRom so stark erschreckte; aus diesem Ereignis resultierte der denkwürdige, im Museo della Civiltà Romana erhaltene Text über das Verbot des Bacchanals. Der Hain sollte in der Nähe des Aventin liegen; Frazer mutmaßt, „that it was situated in the northern part of the modern Prati del Testaccio, at the western or south-western foot of the Aventine, below the church of S. Maria Aventina or of S. Anselmo“55.
Ino fragt nach der Identität der Mänaden; die Antwort verbindet RomRom mit Griechenland, nämlich mit Arkadien und dem König Evander. In diesem Moment taucht eine neue Figur auf, die ihre echte Identität versteckt: Saturnia56. Ovid benutzt für die Beschreibung ihrer Erscheinung das gleiche Wort, das den Hain kennzeichnet: instimulat (508). Die Worte der Göttin, die im Gegensatz zu denen, die Ino ausspricht, wortwörtlich nacherzählt werden57, haben dieselbe Eigenschaft wie Juno: die Unwahrheit.
Der Höhepunkt der Ironie befindet sich in diesem Widersinn: Juno beschuldigt Ino des gleichen Verbrechens, das sie selber begeht, nämlich des Betrugs. Die Rede der Göttin ist einfach und kurz, aber sehr wirksam. Zunächst erweckt sie den Argwohn der Zuhörerinnen, daraufhin enthüllt sie die böse Absicht der Ino: Kadmos’ Tochter ist zu ihnen gekommen, um das Ritual ihres Bundes zu erkunden. Letztlich weist sie auf die verdiente Bestrafung hin: Melikertes muss sterben. Dieser letzte Punkt ist dem Ausdruck ipse docet quid agam in Met. IV 428OvidMet. IV 428 ähnlich. In der Tat beabsichtigt Juno, dass Inos Schicksal dem ihrer Schwester Agave ähnelt und ihr Sohn Melikertes von den Bacchanten zerrissen58 wird und stirbt. Junos Besessenheit bezüglich Inos Kinder ist krankhaft.
Die Mänaden werden durch ihre üblichen Züge gekennzeichnet: Heulen, Kopf in die Luft und ungewöhnliche Gewalttätigkeit. Auffällig ist der Beiname ‚Thyaden‘, den Vergil (Aen. IV 302VergilAen. IV 302) schon benutzt hatte und der auf Griechisch ‚irreredende Frauen‘59 bedeutet. Die Hände zu strecken (iniciuntque manus, Vers 515), könnte mit einem außergerichtlichen Ritualakt zu tun haben60.
Ino ruft, wenn sie angegriffen wird, die Götter und Männer des Landes, und zwar die Vorfahren der Römer. Zum ersten Mal spricht Ino in den Fasten. Diese Szene ist der in Met. IV 516–517OvidMet. IV 516–517 sehr ähnlich: Da versucht Athamas – und er schafft es –, Learchos, nicht Melikertes, aus den Armen ihrer Mutter zu reißen. In den Fasten verteidigt Ino ihren Sohn vor dem Angriff der tobenden Bacchanten, im Gegensatz zu Agave in Bezug auf ihren Sohn Pentheus; der Unterschied liegt in dem furor: Der von Dionysos ist wirksam, jener von Juno nicht.
Herkules verlässt die Kühe61 auf dem Aventin und läuft dahin, wo er das Kampfgeräusch hört. Herkules’ Anwesenheit in dieser Geschichte – Ovid ist der einzige Autor, der diese Angabe überliefert – würde die enge Verbindung zwischen dem Tempel Hercules Victor und dem PortunusPortunus im Forum Boarium bestätigen, falls es wahr ist, dass die Kirchen S. Maria Sole und S. Maria Egiziaca zu Ehren dieser Helden geweiht worden sind. Das bedeutet, dass die Nachbarschaft beider Tempel auf eine gemeinsame, wahrscheinlich im 2. Jh. v. Chr. entstandene Legende zurückgeht, die „gleichzeitig die Erzählung von dem Eingreifen des Hercules in die Portunus-Geschichte“62 klarstellen könnte.
Der Held vom Berg Öta63 kommt an, und die Frauen fliehen entsetzt. Ovid benutzt das Bild, das zum Wort tropaeum, und zwar τροπαῖον, führt. Das war das Denkmal, das als Siegeszeichen genau an dem Ort, wo der Feind dem Gegner den Rücken zukehrte und zu flüchten begann, gesetzt war. Im Gegensatz zu den Bacchanten, die von Juno betrogen worden waren, erkennt Herkules Ino sofort und nennt sie matertera Bacchi (523). Dieser Titel ist eigentlich der Grund von Junos Zorn, der Beweis für die neue Niederlage von Jupiters Frau. Es ist nicht erstaunlich, dass Herkules sogleich auf Juno anspielt, ohne aber ihren Namen zu nennen: Er bezeichnet sie nur als numen (524).
Herkules und Ino haben ein ähnliches Erlebnis, ein gemeinsames Schicksal: Beide werden von JunoJuno verfolgt. Ino erzählt ihm nur einen Teil der Geschichte; Ovid sagt, dass sie den anderen Teil aus Scham zurückhält: Ihr ist es peinlich, eine solche Freveltat vor ihrem Sohn auszusprechen. Allerdings stimmt es überhaupt nicht mit Ovids Erzählung überein, dass Melikertes nur ein Säugling ist und er kein Wort verstanden hätte. Zum ersten Mal wird klar gesagt, dass sich Ino von den FurienFurien mitreißen ließ, was als ein deutlicher Hinweis darauf gilt, dass der furor auch in Athamas’ Frau wirkte. Nachdem Ino mit ihrer Erzählung fertig ist, fliegen die Gerüchte über sie überall hin. Und das Gerücht, das damals den Zeitgenossen Inos Erzählung bekannt machte, ist dasselbe, das den Römern vom 1. Jh. n. Chr. durch Ovids Darstellung Inos Geschichte erzählt.
Dann erscheint die Priesterin Carmentis, Evanders Mutter und Göttin des prophetischen carmen64. Ino ist Gast in Carmentis’ Haus, in dem Athamas’ Frau die auf dem Herd gewärmten Kuchen isst. Dies ist die Antwort auf die zweite Frage: Die Römerinnen sollten Mater Matuta, die raffiniert mit Ino identifiziert wurde, Kuchen anbieten, weil Tegeas Priesterin dies damals bei Ino auch so getan hatte. Laut Frazen „[these cakes65] were baked by matrons in a hot earthen pot (testu); hence they were called testuacia“66. Bömer deutet an, „das Aition ist griechisch“67. Ein anderer Beleg dieser Kuchen ist in Varr. V 106VarroLL. V 106 zu lesen: Testuacium, quod in testu caldo coquebatur, ut etiam nunc Matralibus id faciunt matronae. Carmentis wird Tegea genannt, weil sie aus Arkadien kommt, dessen wichtigste Stadt Tegea ist.
Nachdem Ino den Hunger gestillt hat, will sie auch ihre Neugier stillen. Sie fragt Carmentis nach der Zukunft. Athamas’ Frau ist besonnen; sie weiß, dass es nicht gestattet ist, alles zu sagen, weil sie Herkules auch nicht alles erzählen konnte; deswegen bittet sie nur, dass es gesagt wird, qua licet (536). Wie Ino unverzüglich (498) gesprungen war, genauso schnell bemächtigte sich der Gott der Weissagerin68 und bringt sie zum Sprechen. Der ἐνθυσιασμός ändert, verunstaltet und entstellt die menschliche Figur69; er vergrößert ihre Statur, weil auch ihre