VARIATIONslinguistik trifft TEXTlinguistik. Группа авторов

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gesagt: an Einheiten sehr hoher Abstraktionsebene das an der Überlieferung konkreter Texte und Wortlaute fast vollständig überlagert.

      4 Virtuelle Einheiten auf der Textebene

      Mit mündlich tradierten Stoffen, insbesondere volkstümlichen, haben wir den Gegenstand vor uns, bei dem es unausweichlich ist, (bestimmte) Texte zu parallelisieren mit (bestimmten) Wörtern, sie nämlich als Einheiten zu begreifen, die zum kollektiven Gedächtnis gehören und immer wieder neu realisiert werden, mitunter also auch in mehr als milliardenfacher Materialisierung. Bei solcher Reproduktion kann man von Performanz in besonders positivem Sinn sprechen, es kann sich nämlich durchaus um ,Aufführungen‘ handeln, in denen es um Virtuosität geht – für diese ist Variation konstitutiv.

      Solchen überlieferten, aber doch notwendigerweise immer wieder neu und jeweils mehr oder weniger anders realisierten Einheiten gilt die klassische Studie von André Jolles (1930) zu Einfachen Formen. Sie ist nicht nur in literaturwissenschaftlichen und volkskundlichen Arbeiten breit rezipiert, sondern – allerdings recht spät – auch in der Textlinguistik aufgegriffen worden (vgl. dazu Fix 1996). Auf Jolles (neben vielen anderen Arbeiten zur oral poetry) bezieht sich auch Thomas Luckmann (1927–2016) in seinem wissenssoziologischen Ansatz (vgl. besonders Luckmann 2002: 165f.; und Auer 1999: Kap. 16). Während das gemeinsam mit Peter L. Berger (1929–2017) schon 1966 verfasste Buch auf ein außerordentliches Echo stieß und bald zum Klassiker aufstieg, sind Luckmanns zahlreiche seit den 80er Jahren entstandene Arbeiten (am besten zugänglich über die Aufsatzsammlungen von 2002 und 2007) weniger verbreitet. Dabei geht es in ihnen um nichts weniger als Das kommunikative Paradigma der ‚neuen‘ Wissenssoziologie. Dazu hat Luckmann einen Vortrag auf dem Symposium New paradigms in contemporary sociology gehalten, kommentiert dies freilich folgendermaßen:

      „Ich möchte hier kein neues theoretisches Paradigma vorstellen. Im Grunde bin ich sogar sehr skeptisch, was Positionen angeht, die beanspruchen, neue Paradigmen zu präsentieren. Vertreter von Neuigkeiten leiden herkömmlich sowohl unter historischer Kurzsichtigkeit als auch unter dem Drang, Marginalitäten überzubewerten – und großrednerische Prediger von Paradigmenwechseln haben in der Regel Kuhns Theorie […] völlig fehlinterpretiert.

      Dennoch möchte ich nicht bezweifeln, daß in einigen Teilen der Gesellschaftstheorie ein Wandel vollzogen wurde, der zu einer vermehrten theoretischen Beachtung der Kommunikation als einer wesentlichen sozialen Tatsache führte [… Bourdieu, Luhmann, Habermas]. Ich möchte mich hier jedoch nicht mit diesen theoretischen Entwicklungen auseinandersetzen, sondern meine eigene Position vorstellen – eine Position, die eine empirische Ausweitung des Versuchs darstellt, den Berger und ich […] vor mehr als einem Vierteljahrhundert unternommen haben: einige Schlüsselbegriffe der allgemeinen Soziologie im Sinne dessen neu zu definieren, was man als ,neue‘ Wissenssoziologie bezeichnet hat. Neben meiner Arbeit in der Religionssoziologie habe ich mich zunehmend auf die Entwicklung einer soziologischen Sprachtheorie und anschließend auf die detaillierte Analyse kommunikativer Formen konzentriert, in denen Wissen oder, allgemeiner, Sinn und moralische Orientierungen erzeugt, vermittelt und reproduziert werden.“ (Luckmann 2002: 201; Hervorhebungen K. A.)

      Im Mittelpunkt steht dabei das Konzept der kommunikativen Gattungen. Eingegangen ist dieses auch in diverse Unterprojekte des Konstanzer Sonderforschungsbereichs Literatur und Anthropologie (SFB 511; 1996–2002), insbesondere in das Projekt Anthropologische Funktionen nicht-schriftlicher kommunikativer Formen und Gattungen: Thematisierung des Menschlichen, sekundäre Ästhetisierung und Fiktionalisierung (1996–1998). An diesem Projekt haben auch Susanne Günthner und Helga Kotthoff mitgewirkt; dies erklärt, dass das Konzept der kommunikativen Gattungen in der Gesprächs-/Konversations- bzw. Interaktionsanalyse sehr prominent ist.

      Unter diesen Voraussetzungen könnte man erwarten, dass die außerordentlich breit ausgerichtete – u. a. Literatur, Religion, Mythos, Wissenschaft und Alltagswelt zusammen denkende – Sichtweise Luckmanns auch zu einer besseren Verständigung einerseits zwischen Literatur- und Sprachwissenschaft, andererseits innerhalb der letzten zwischen Text- und Gesprächslinguistik geführt hat. Davon kann aber (noch) keine Rede sein. Vielmehr geht die Tendenz derzeit deutlich in Richtung auf immer spezialisiertere Subdisziplinen (bzw. ‚Paradigmen‘) und die Hervorhebung von Gegensätzen. Dazu gehört, dass viele TextlinguistInnen literarische Texte aus ihrem Objektbereich ausschließen (vgl. Adamzik 2017: bes. Kap. 4) und sich zunehmend auch wieder nur mit schriftlich Fixiertem auseinandersetzen wollen (für Nachweise vgl. Adamzik 2016: Kap. 2.5.2., Anm. 23). Dies führt zur Präsentation von Textsorten und kommunikativen Gattungen als konkurrierenden Konzepten (vgl. so auch Auer 1999: 176f.):

      „Die Termini ‚kommunikative Gattungen‘ und ‚Textsorten‘ sind nicht gleichzusetzen. Das Konzept der kommunikativen Gattung basiert auf der Annahme, dass eine dialogische Kommunikation vorliegt, das Textsortenkonzept geht für den prototypischen Fall gerade nicht von dieser Annahme aus.“ (Dürscheid 2005)

      „Gattungen werden […] nicht etwa als homogene, statische Gebilde mit festgelegten formalen Textstrukturen betrachtet, sondern als Orientierungsmuster für die Produktion und Rezeption von Diskursen.“ (Günthner 2000: 21)

      In ihrer Rezension zu Günthner merkt Fix zu Recht an,

      „dass die Charakterisierung der Textlinguistik dem jetzigen Forschungsstand der Textsortenforschung, für die die Annahme beweglicher, prototypischer Textsorten und deren Einbettung in kommunikative Zusammenhänge doch mittlerweile selbstverständlich ist, nicht ganz gerecht wird“ (Fix 2002: 292).

      Es wird aber m. E. auch das Potenzial nicht ausgeschöpft, das Luckmanns Wissenssoziologie für die Textlinguistik bietet (vgl. im Ansatz so Heinemann / Heinemann 2002) – Textlinguistik hier verstanden in einem weiten Sinn, denn die Entgegensetzung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit läuft dem Anliegen Luckmanns zuwider; sie passt ja auch nur schlecht zu den Titeln des Konstanzer SFB und des genannten Teilprojekts.

      Wenn Luckmann sich ausdrücklich den mündlichen Gattungen, der Face-to-Face-Kommunikation, zuwendet, so geschieht dies nicht etwa, weil er die schriftlichen Formen der „Tradierung und Vermittlung bestimmter gesellschaftlich relevanter Wissensbestände“ – so bringt Auer (1999: 177) die Funktion von Gattungen auf den Punkt – für unwichtig hielte: Wenn eine Gesellschaft über Schrift verfügt, dann wird das Tradierenswerte auch schriftlich festgehalten. Er konstatiert jedoch ein Versäumnis der traditionellen Soziologie; diese habe nämlich „die Frage nach der kommunikativen ‚Urproduktion‘ von Sinn und Kultur im Gesellschaftszusammenhang entweder nur auf der abstrakten Ebene von ,Geist‘ und ,Gesellschaft‘ gestellt oder ganz ausgeklammert“ (Luckmann 2002: 158f.; Hervorhebungen K. A.). Kommunikative Urproduktion möchte ich dahingehend interpretieren, dass sich Gesellschaften (wie Sprachen) und gesellschaftliche Gruppen (wie sprachliche Varietäten) nur erhalten können, indem sie die relevanten Wissensbestände immer wieder neu aktualisieren, sie sich zu eigen machen und weiterbearbeiten. Dies geschieht am unmittelbarsten in mündlicher Interaktion, in der die Teilnehmer auch körperlich beieinander sind (vgl. Luckmann 2002: 187).

      Die Einfachen Formen sind nun gewissermaßen der Inbegriff solcher mündlichen Traditionen, und Jolles (1930 / 1999: 262) meint sogar, dass sie der Schrift „zu widerstreben scheinen“. Davon kann in einer Zeit, in der die Publikation von gesammelten Märchen, Sagen, Witzen, Sprüchen … einem florierenden Geschäft entspricht, eigentlich keine Rede sein; auch von den mittelalterlichen Legenden wüssten wir allerdings nur wenig, wenn sie nicht auch aufgeschrieben worden wären. Die Bedeutung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit für die Tradierung gesellschaftlich relevanten Wissens scheint also doch verwickelter. Dem soll unter Rückgriff auf die Ausführungen von Luckmann und Fix (2009 / 2013) zu Jolles und der Frage nachgegangen werden, wie stark kommunikative Gattungen bzw. Textsorten verfestigt sind – oder: wie viel Variation sie aufweisen.

      In der wohl frühesten Erwähnung kommunikativer Gattungen bei Luckmann1 erfolgt der Rückgriff auf Jolles‘ Einfache Formen noch nicht explizit, es ist aber offensichtlich, dass sie im Hintergrund stehen:

      „In


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