VARIATIONslinguistik trifft TEXTlinguistik. Группа авторов

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      All diese abstrakten Kategorien sind für das Verständnis einer Äußerung allerdings weniger wichtig, zentral ist die folgende Voraussetzung:

       Nun ist ein konkretes Wort oder Syntagma aber nicht nur eine Realisierung der allgemeinen Größe ‚Sprachzeichen‘; es repräsentiert vielmehr zugleich auch ein bestimmtes Lexem.

      Ebenso möchte man auf der Textebene nicht in erster Linie wissen, welche Textsorte vorliegt, sondern welcher Text, jedenfalls wenn es um solche wie die hier zitierten geht, denn bei diesen handelt es sich um individuelle Größen, die als solche bekannt sind und überliefert werden.

      Auch bei den Textwörtern muss man allerdings differenzieren: Wenn wir nämlich Lexem als ‚Wörterbuch-Wort‘ auffassen, ist die genannte Voraussetzung nicht für alle gegeben, z. B. nicht für Grünkohlverderber. Es gibt Textwörter, die nicht im Wörterbuch stehen, oder anders formuliert: die nicht ins kollektive Gedächtnis der Sprachgemeinschaft eingehen. Für Syntagmen und Sätze gilt das natürlich noch viel mehr. Sofern diese komplexen Gebilde den phonologischen, morphologischen, Wortbildungs- und syntaktischen Regeln der Sprache folgen, lassen sie sich selbstverständlich trotzdem problemlos interpretieren. Dazu greift man eben auf das Regelwissen und nicht auf bereits fertig gespeicherte komplexe Einheiten zurück. Interpretierbar sind allerdings auch Ausdrücke, die den vertrauten Regeln nicht (ganz) folgen, z. B. [4] oder [5]:

       [4] lichtung

        manche meinen

        lechts und rinks

        kann man nicht velwechsern

        werch ein illtum

        (Ernst Jandl)

       

       [5] Fallweise Liebe

        Ick liebe dir, ick liebe dich,

        Wie‘t richtig is, det weess ick nich

        Und is mich ooch Pomade.

        Ick lieb‘ dir nich im dritten Fall,

        Ick lieb‘ dir nich im vierten Fall,

        Ick liebe dir uff jeden Fall!

        (Autor unbekannt)

      [4] und besonders [5] reichen in ihrer Bekanntheit sicher nicht an den Erlkönig heran; auch sie werden aber immer wieder als Ganzheiten reproduziert. Das gilt auch für die übrigen Beispiele, [2] verbreitet sich unter Grünkohlfreunden, [1] und [5] erscheinen mit leichten Variationen, z. B. den/das Bubi oder ohne Artikel bzw. uff jeden Fall oder uff alle Fälle usw. Sie gehören damit ebenso wie Lexeme zum kollektiven Sprachgedächtnis.

      Bei der Größe ‚kollektives Gedächtnis‘ handelt es sich natürlich um ein Konstrukt, das sich nur schwer präzise fassen lässt, als Kategorie ist es aber unverzichtbar. Was die Lexemebene angeht, so liegen mit Wörterbüchern Versuche der Rekonstruktion der ‚Schätze‘ vor, die Sprachen und Varietäten ausmachen. Sie umfassen auch komplexe Ausdrücke bis hin zu Kurztexten (Sprichwörter, Redensarten), und es liegen seit langem auch spezialisierte Sammlungen wie etwa Büchmanns Geflügelte Worte (11864) vor.

      Wörterbücher oder sonstige Nachschlagewerke können prinzipiell nicht vollständig sein, zumal sie versuchen, ein genuin dynamisches Etwas zu fixieren. In der heutigen Zeit mit den immensen Möglichkeiten der Aufbereitung von Datenmengen führt das dazu, dass in relativ kurzen Abständen, nämlich oft in weniger als zehn Jahren, immer wieder aktualisierte Versionen erscheinen. Sicher ist, dass die Auswahl, die sie jeweils treffen, nicht das Sprachwissen irgendwelcher Sprechergruppen oder gar das des Durchschnittsmenschen spiegelt. Individuelle Wissensbestände umfassen vielmehr grundsätzlich nur einen sehr kleinen Teil des aufbereiteten Materials. Andererseits gehen sie aber auch darüber hinaus, denn gesellschaftliche Gruppen organisieren sich ja gerade über Wissen, das (nur) die Mitglieder teilen und das sie gegenüber anderen Gruppen bzw. gegenüber der Mehrheit oder einem Durchschnittsmenschen auszeichnet. Dazu gehören auch Wissensbestände, die sprachliche Varietäten betreffen.

      Von diesen gehen bestimmte Ausschnitte aber doch in umfassende Nachschlagewerke ein, sie werden also auch zu (potenziellen) Wissensbeständen von Nicht-Mitgliedern gerechnet. So einfach ist es tatsächlich nicht, Teile des Sprachwissens bestimmten Trägergruppen zuzuordnen. Selbst die Versuche, wenigstens so etwas wie einen allgemein bekannten Grundwortschatz zu bestimmen, führen zu recht unterschiedlichen Ergebnissen und letztlich zur Einsicht, dass auch ein solcher nicht klar bestimmbar ist. Ebenso gelingt es der Fachsprachenforschung höchstens theoretisch, Fachwortschätze und Gemeinsprache als klar abgrenzbare Konstrukte zu etablieren (vgl. Adamzik 2018b: Kap. 5.4.2.).

      Sicher ist zunächst, dass (sprachliche) Wissensbestände nicht bei auch nur zwei Individuen genau übereinstimmen können (vgl. dazu aus wissenssoziologischer Perspektive Schütz / Luckmann 2017: Kap. IV C. und aus varietätenlinguistischer Sicht sehr nachdrücklich Schmidt / Herrgen 2011: Kap. 2). Das gilt besonders für eine hochdifferenzierte Gesellschaft wie die unsere. In ihr verfügen alle über Wissen in mehreren Sprachen und Varietäten. Oft beschränkt sich dieses allerdings auf wenige Elemente. So dürfte etwa für einen durchschnittlichen Sprecher des Deutschen [5] klar als berlinerisch identifizierbar sein; vielleicht gibt der Text auch Anlass, neu zu lernen, dass es ist mir/mich Pomade/pomade bedeutet ‚es ist mir gleichgültig‘. Auch Personen, die Berlinerisch als Erstsprache gelernt haben, wissen aber nicht unbedingt, dass dieser Ausdruck zurückgeht auf die Entlehnung des polnischen pomału (‚allmählich, gemächlich, nach und nach‘; erweitert im Sinne von ‚jemand hat es nicht eilig, es kommt ihm nicht darauf an‘). Daher bauen sie vielleicht Assoziationskomplexe zu dem aus romanischen Sprachen entlehnten Wort für Haarcreme auf, mit dem er tatsächlich vermischt wurde. Auch solche Assoziationskomplexe gehören zum individuellen Sprachwissen. Ideen dazu, warum etwas so heißt, wie es heißt, kann man aber auch weitergeben, was dann zu den sog. volksetymologischen Ableitungen oder Geschichten führt. Manche kennen diese, andere nicht.

      Das geteilte Gruppenwissen überschreitet sowohl Varietäten- als auch Sprachgrenzen. An sprachspielerischen Aktivitäten sind gerade solche besonders beliebt, in denen ein bekannter Text (z. B. die Weihnachtsgeschichte oder vertraute Märchen) in Varietäten anderer (!) Sprechergruppen übertragen werden, und zwar nicht zuletzt, um sich über diese zu belustigen oder gar zu empören. Außerordentlich beliebt ist dies als Auseinandersetzung mit Jugendsprache. Für Fachsprachen zieht man gern Sprichwörter heran, weil bei längeren Texten der Lustgewinn in keinem adäquaten Verhältnis mehr zum Verarbeitungsaufwand stünde:

       [6] Die Struktur einer ambivalenten Beziehung beeinträchtigt das visuelle und kognitive Wahrnehmungsvermögen extrem – oder wie man früher sagte: Liebe macht blind.1

      Schon hier, erst recht aber bei gewöhnlichen Übersetzungen, d. h. solchen in andere Sprachen, bleibt nur der Inhalt eines Textes – mindestens grosso modo – erhalten, nichts dagegen von seiner sprachlichen Gestalt, wenn man einmal von Namen absieht. Dennoch reden wir so, als hätten wir die Odyssee, Konfuzius, Dante, Don Quijote, Hamlet, Anna Karenina usw. gelesen, auch wenn es nur Übersetzungen waren. In einem ziemlich abstrakten Sinn handelt es sich eben immer noch um denselben Text. Um die Behauptung zu rechtfertigen, dass man ihn ‚kenne‘, reicht es sogar aus, von seiner Existenz zu wissen und elementare Kenngrößen (Autor, Entstehungszeit, Plot) sowie Fragmente des Wortlauts kognitiv gespeichert zu haben (und bist du nicht willig, …; Sein oder nicht sein, … usw.).

      Zu diesen Wissensbeständen zu Texten kann man grob gesehen auf zweierlei Weisen kommen: Entweder man hat den Text tatsächlich ganz gelesen. Je länger dies zurückliegt, desto mehr hat man allerdings vergessen oder wie man heute lieber sagt: Es werden nur wenige Elemente im Langzeitgedächtnis gespeichert, und zwar sowohl zentrale Inhaltselemente als auch charakteristische Formulierungen. Bei intensiver Lektüre werden diese vielleicht exzerpiert oder durch Anstreichungen


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