VARIATIONslinguistik trifft TEXTlinguistik. Группа авторов

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darin, gleich auf entsprechende Bearbeitungen anderer Rezipienten zurückzugreifen: Man schlägt in einem Werklexikon oder einer Enzyklopädie nach. In Wikipedia ist tatsächlich eine große Menge von Einzeltexten diverser Textsorten entsprechend aufbereitet, allerdings gerade nicht solcher, die Brinker bei der Erläuterung dieser Kategorie erwähnt, denn reine Gebrauchstexte haben keinen Überlieferungswert. Das macht den Unterschied zwischen Wetterberichten und Bauernregeln aus. Auch die häufig behandelten Kochrezepte gibt es in überlieferungswürdigen Traditionen, und zwar einerseits solchen, die das Brauchtum bestimmter Regionen betreffen (vgl. dazu Gredel in diesem Band), andererseits solchen, die Familientraditionen entsprechen (bzw. dies vorgeben): Aus Großmutters Küche.

      Für Texte mit hohem Überlieferungswert muss man nun feststellen, dass sie ‚sich‘ im Laufe der Zeit auch selbst verändern. Liest man einen Text (in der Originalsprache), etwa die Klassiker der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte, sogar jene aus der neuhochdeutschen Periode, hat man es nämlich nicht unbedingt mit der Fassung zu tun, die dem ersten Druck oder gar dem Manuskript entspricht: Anpassungen an orthografische und teilweise auch morphologische Entwicklungen werden in modernen Ausgaben stillschweigend vorgenommen. Außerdem existiert mitunter schon ‚das‘ Original in verschiedenen Fassungen. Das gilt nicht nur prinzipiell etwa für die mittelalterlichen Handschriften, sondern z. B. auch für Die Leiden des jungen Werthers/Werther von Goethe oder Der grüne Heinrich von Gottfried Keller. Die Fassungen sind einander hinreichend ähnlich, um nicht als ganz verschiedene Texte, sondern als Versionen desselben Textes, aber auch hinreichend verschieden, um nicht als genau derselbe Text wahrgenommen zu werden.

      Den entsprechenden Fragestellungen geht man in diversen Textwissenschaften in Unterzweigen wie der (Editions-)Philologie, Entstehungs-, Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte etc. ausführlich nach. Auch für die Variationslinguistik, insbesondere die historisch ausgerichtete, sind sie zentral. In der Textlinguistik hat sich dieser Fragenkomplex dagegen (noch) nicht als relevantes Gebiet etabliert, obwohl es in der Anfangszeit durchaus Bemühungen in diese Richtung gab.

      3.2 Wissenschaftshistorisches: Texteme und Allotexte, emische und etische Texte

      An der Wende von den 1960er zu den 70er Jahren verortet man (in der Bundesrepublik Deutschland) einen sog. Linguistik-Boom. Seine wichtigste Wirkung bestand in der Reorganisation philologischer (zunächst vor allem germanistischer) Universitätsinstitute. Waren diese traditionell in eine Alte/Ältere und Neue(re) Abteilung untergliedert, so kam jetzt als drittes Untergebiet die Linguistik hinzu.

      Im Rahmen solcher Prozesse sind nicht nur administrative, sondern auch bestimmte Fachtexte besonders wichtig. Dazu gehörten in der Bundesrepublik zwei 1973 erschienene Werke, nämlich einerseits das Funk-Kolleg Sprache, andererseits das Lexikon der germanistischen Linguistik (LGL) (Althaus u. a. 1973). Beide beanspruchten, den Stand der modernen Linguistik im Überblick darzustellen. Dabei war wichtig, dass sie nicht nur die strukturalistische, sondern auch die (frühe) generativistische Schule einbezogen sowie Kommunikationsmodelle, Pragma-, Sozio- und Textlinguistik.

      Das Funk-Kolleg Sprache nimmt eine Sonderstellung ein. Es gehört zu einer Serie, in der Radiosender in Verbindung mit dem Deutschen Institut für Fernstudien an der Universität Tübingen (für Studien-Begleitbriefe) und Volkshochschulen (für Studien-Begleitzirkel) zusammengearbeitet haben, und zwar vor allem, um Menschen ohne Abitur den Zugang zum Studium zu ermöglichen. Entwickelt seit 1970, wurden die Sendungen ab September 1971 ausgestrahlt. Verbindlich eingeschrieben hatten sich dazu fast 17.000 Hörer, die Prüfungen ablegen konnten (organisiert durch die Kultusministerien von fünf Bundesländern). Diese Zahl ist noch relativ bescheiden, gemessen am Erfolg, den dann die (im Gegensatz zum LGL sehr preiswerte) Taschenbuchausgabe von 1973 erzielen konnte. Deren Vorwort orientiert ausführlich über die damaligen Bedingungen, zu denen insbesondere gehört, dass man noch auf kein vorliegendes Curriculum hatte zurückgreifen können, sondern dieses erst zu entwickeln war. Im Hintergrund standen folgende Voraussetzungen:

      „In den nächsten Jahren ist eine grundlegende Neuordnung des Deutsch- und Fremdsprachenunterrichts zu erwarten. Damit Hand in Hand geht eine Neuorientierung des herkömmlichen Philologiestudiums. Grund ist die moderne Linguistik, die nicht mehr nach den historischen Wandlungen der Einzelsprachen fragt, sondern nach den allgemeinen Merkmalen und Strukturen des Zeichensystems Sprache.“ (Aus dem Paratext Über dieses Buch)

      Das Funk-Kolleg Sprache vertritt in besonders ausgeprägter Weise die oben angesprochene Variante, nach der systemlinguistische Ansätze zwar die Grundlage der ‚modernen Linguistik‘ bilden (müssen), diese jedoch einzubetten sind in einen kommunikationswissenschaftlich orientierten Rahmen. Das erste Hauptkapitel (von insgesamt fünf) ist betitelt: Kommunikation und Sprache. Der Textlinguistik kommt in diesem Buch (besonders im Verhältnis zur Soziolinguistik) keine besonders große Bedeutung zu. Mit dem Ausdruck Textem erfolgt jedoch eine quasi konsequente Parallelisierung zur Phonem- und Morphemanalyse. Im LGL erscheint dieser Begriff dagegen nicht (auch nicht in der stark bearbeiteten 2. Auflage von 1980). Dieses Handbuch wendet sich auch viel eher an die etablierten Kreise in den Universitäten und bespricht sehr ausführlich verschiedene Ansätze und einzelne Arbeiten aus der frühen Textlinguistik. Auch hier werden jedoch von Anfang an eine auf die Langue gegenüber einer auf die Parole bezogene Sichtweise unterschieden. Während bei der zweiten übereinstimmend mit dem Funk-Kolleg die Kommunikativität thematisiert wird, soll es jedoch bei der ersten um (die Gesamtheit von) Textbildungsregeln gehen, so dass hier nicht Phonologie und Morphologie als Vorbild fungieren, sondern die Syntax.

      Nun ist es relativ einfach, den Ausdruck Textem parallel zu Phonem und Morphem zu bilden, weniger klar ist allerdings, was man sich darunter vorzustellen hat. Im Glossar des Funk-Kollegs erscheinen die folgenden Erläuterungen:

      Text: Sprachliche Äußerung; Ergebnis der → Realisierung eines → Textems.

      Textem: Noch nicht realisierte sprachliche Struktur als Ergebnis der sprachlichen → Kodierung.

      Textstruktur (= Textem): strukturierte Ketten von Sprachzeichen als Ergebnis der sprachlichen Kodierung.

      Kodierung: vom Sprecher vorgenommene Umsetzung einer Vorstellung in eine sprachliche Äußerung.

      Sie zeigen klar, dass Text wie Phon und Morph als konkrete/materielle Realisierung einer abstrakten (vorher nur kognitiv verfügbaren) Einheit konzipiert wird. Gewöhnlich bezeichnet man nicht materialisierte Ketten von Sprachzeichen als Wortlaut, und zwar – ebenso wie bei Morphemen und Lexemen – unabhängig von der medialen Verfasstheit: Die Frage, ob ein Morphem einer gesprochenen oder geschriebenen Einheit entspricht, stellt sich schlicht nicht; wir befinden uns auf einem Abstraktionsniveau, auf dem die Materialisierungsart keine Rolle spielt. Ein Schema (Abb. 1) zur Visualisierung wird als Versuchsanordnung bezeichnet, da alle Faktoren, die sich außerhalb des zentralen Kastens befinden, (und zusätzlich u. a. Intention, Wissens- und Sprachspeicher)

      „vorübergehend außer acht gelassen werden. Wohlgemerkt vorübergehend: Wenn die kausalen Beziehungen zwischen einem ideal homogenen denotativen Kode, der von einem idealen Sprecher aktiviert wird, zum produzierten Text analysiert und beschrieben sind, werden nach und nach weitere Faktoren in die Analyse einbezogen; so wird Schritt für Schritt die Beschreibung der Komplexität des Sachverhalts angenähert. Genau wie die ideale Kompetenz kann man auch die soziale Rolle eines Sprechers isolieren und dadurch idealisieren und fragen: Welche Merkmale X, Y und Z hat ein Text, der auf der Grundlage eines bereits beschriebenen Kodes in einer bestimmten sozialen Rolle produziert wird?

      Wir haben zu zeigen versucht, daß nur einschichtige homogene und also idealisierte Objekte einer präzisen Analyse zugänglich sind. Daraus folgt, daß die Komplexität realer Sachverhalte in einer wissenschaftlichen Beschreibung nur dann annähernd zu erreichen ist, wenn man schrittweise analysiert und eine Menge elementarer Ergebnisse zu einer Gesamtbeschreibung zusammenfügt. Da wir die Aktivierung des Kodes durch einen Sprecher oder Hörer für das grundlegende Ereignis


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