Der deutsche Wortschatz. Christine Römer
Tatsache, dass nicht alle an den Bildungen komplexer Wörter beteiligten Teile „gleichberechtigt“ sind. Ein Bestandteil, der Kopf (engl. head), legt die grammatischen und semantischen Grundeigenschaften des Gesamtwortes fest. Wenn man giftgrün mit Rattengift vergleicht, so sieht man, dass giftgrün ein Adjektiv ist, da das Gesamtwort vom zweiten Teil, der Kopfkonstituente, diese Eigenschaft übernommen hat. Rattengift ist dagegen ein Substantiv, weil Gift hier die Kopfkonstituente ist. In der deutschen Sprache sind die komplexen Wörter in der Regel rechtsköpfig. (Zwicky, 1985)
Zentrale Aufgabe der Wortbildungs(lehre) ist es, zu beschreiben, was ein mögliches Wort einer Sprache (z.B. der deutschen) ist, d.h. welche Wörter bzw. Wortbestandteile (z.B. Affixe) wie miteinander kombiniert werden können, und welche regelmäßigen Beziehungen es zwischen der Bedeutung des komplexen Wortes gibt. Man kann sich für den jetzigen Bestand von Wortbildungsprozessen interessieren (synchrone Wortbildung), man kann auch untersuchen, wann bestimmte komplexe Wörter wie entstanden sind, welcher Herkunft die Wortbildungs-Affixe sind, wie produktiv bestimmte Wortbildungsprozesse waren usw. (diachrone Wortbildung). (Clément, 1996, S. 38) Clément, D.
Einen kompakten Überblick findet man im Teil Wortbildung der Dudengrammatik. (Wöllstein und Dudenredaktion, 2016)
3.3.3 Kompositionen WortbildungKompositionen
Die meisten komplexen Wörter sind im Deutschen Komposita (Wortzusammenfügungen). Mindestens zwei Wörter bzw. frei vorkommende Morpheme werden zu einem neuen Wort fest zusammengefügt, das zusammengeschrieben wird. Bei der Vereinigung von mehr als drei Wörtern kann trotzdem eine binäre Gliederung (mit Ausnahme der Kopulakomposita) festgestellt werden, wobei die Teile in dem Verhältnis der Über- und Unterordnung stehen, was das Verständnis erleichtert. In der Abbildung 3.2 wird dies mittels eines Konstituentenbaumes veranschaulicht. Konstituentenstruktur
Abbildung 3.2: Konstituentenstrukturbaum
Bahnhof wurde mit Güter zu Güterbahnhof verbunden; Bahnhof entstand aus der Verbindung der Wörter Bahn und Hof. In der Regel ist die zweite unmittelbare Konstituente das Hauptwort, dies wird auch durch eine Transformation in eine Wortgruppe deutlich: Güterbahnhof → Bahnhof für Güter; Bahnhof → Hof für die Bahn. Dieses Hauptwort bestimmt auch die grammatischen Eigenschaften des entstandenen Kompositums (Wortart, Genus, Flexion): das Gut/die Güter + der Bahnhof → der Güterbahnhof. Wie bei der Zusammensetzung Bahnhof augenfällig ist, ist die Gesamtbedeutung des Kompositums keine einfache Zusammenfügung der Bedeutungen der Teilwörter. Dieser Prozess wird auch als Univerbierung bezeichnet (siehe weiter Römer, 2017). Bei der Zusammenfügung der Wörter werden oft Fugenelemente an der „Nahtstelle“ eingefügt (Landsmann); siehe dazu Fuhrhop (1996). Es fallen aber auch Wortteile weg (Sprachwissenschaft < Wissenschaft über Sprachen).
„Als Grundtypen der Wortzusammensetzung werden gewöhnlich Determinativ-, Possesiv- und Kopulativkomposita angesehen, wobei vor allem substantivische Determinativkomposita von vielen Autoren als Prototyp betrachtet werden.“ (Klos, 2011, S. 13) Die Zusammenrückung hinzufügend, sollen diese Grundtypen der Komposition jetzt kurz charakterisiert werden. Auf die Untertypen wird hier nicht eingegangen. Determinativkompositum
Determinativkomposita (DK)
Der Terminus DK bezeichnet die Haupteigenschaft dieser Bildungen: Die erste unmittelbare Konstituente (Bestimmungswort) modifiziert die zweite (Grundwort) und benennt damit eine Untermenge, wie in der Abbildung 3.3, wo Sturm modifiziert wird. Sturm
Abbildung 3.3: Determinativkomposition
Possesivkomposita (PK) Possesivkompositum
Bei den PK liegt auch ein determinatives Verhältnis zwischen den unmittelbaren Konstituenten der Komposita vor. Das bezeichnete Objekt wird jedoch nicht vom Grundwort benannt, es befindet sich außerhalb, wie bei Rotkehlchen: ‘ein Vogel mit rotem Kehlchen’. Deshalb werden die PK auch exozentrische Komposita genannt. Rotkehlchen
Kopulativkomposita (KK) Kopulativkompositum
Die KK, die relativ selten vorkommen, werden auch als Reihenwort bezeichnet, weil deren Glieder (unmittelbare Konstituenten) gleichgeordnet sind. Eine Speise wird als süßsauer charakterisiert, weil sie süß und sauer schmeckt; das Wetter als nasskalt, wenn es nass und kalt ist; die deutsche Fahne ist schwarz-rot-gold (schwarz + rot + gold) gestreift. schwatz-rot-gold
Zusammenrückungen (ZR) Zusammenrückung
Bei ZR wird eine freie semantisch zusammenhängende Wortgruppe ohne weitere Wortbildungsmittel zu einem Wort zusammengerückt, an dem das Syntagma zu erkennen ist (Gernegroß, Stelldichein, zugunsten). WortbildungKompositionen
3.3.4 Derivationen WortbildungDerivationen
Explizite Ableitungen Ableitungexplizit
Während bei der Komposition vorhandene Wörter zu neuen, komplexen Wörtern verbunden werden, findet bei der expliziten Ableitung (Derivation) die Schaffung neuer, komplexer Wörter durch Ableitung mittels Wortbildungsmorphemen statt. Nach der Stellung im Morphemgefüge werden sie unterteilt:
SuffigierungenAm häufigsten erfolgen Ableitungen durch das Anfügen von Suffixen (wie waschen > waschbar); dieser Prozess wird als Suffigierung bezeichnet. Suffigierung
Präfigierungen PräfigierungWenn ein Präfix vor die Ausgangsbasis tritt, spricht man von einer Präfigierung (Sinn > Unsinn). Während das Suffix meist die Wortart der Basis ändert, ist dies bei der Präfigierung nicht der Fall.
Kombinatorische Derivate DerivationkombinatorischeBei der kombinatorischen Derivation treten gleichzeitig ein Präfix und ein Suffix an das Ausgangswort, dies nennt man Zirkumfix. ZirkumfixEs stellt sich um die Basis herum (lehren > ge-lehr-ig).
Implizite Ableitungen Derivationimplizite
Neben der expliziten Derivation steht die implizite Derivation als Wortbildungsmuster zur Verfügung. Diese impliziten Ableitungen von vorhandenen Wörtern erfolgen jedoch nicht mit zusätzlichem sichtbaren Wortbildungsmaterial, weshalb es nicht zu komplexeren Wörtern führt. Diese impliziten Ableitungsprozesse erfolgen vielmehr durch:
Rückbildungen (V → N : laufen > der Lauf),
innere Ableitungen (V → N : trinken > der Trank; A → V : weit > weiten),
Konversionen (V → N : essen > das Essen). KonversionWortbildungDerivationen
3.3.5 Reduktionen Reduktion
Durch Reduktionen werden auch neue Wörter gebildet, die jedoch nicht komplexer werden. Beim Kurzwort wird eine Langform gekürzt (Navigationsgerät → Navi), die neben der Langform aber ein eigenständiges Lexikonelement ist, siehe weiter Kapitel 9.3.1 in diesem Studienbuch. Wortkreuzungen (auch Blending, Kontamination, Kofferwort) sind auch Reduktionen (Besserwisser + Wessi → Besserwessi), jedoch keine Kurzwörter, da sie keine Vollformen besitzen.
3.4 Beschränkungen für die Bildung komplexer Wörter WortbildungBeschränkungen
Die Bildung neuer Wörter erfolgt nicht willkürlich, sondern ist regelbasiert. Die Regeln leiten sich weitgehend vom vorhandenen Wortschatz ab. Die Produktivität der Wortbildung ist Veränderungen unterworfen. Zu bestimmten Zeiten erfreuen