Der deutsche Wortschatz. Christine Römer

Der deutsche Wortschatz - Christine Römer


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Substantiv ist beispielsweise die endungslose Form des Nominativ Singular die Nennform (der Tisch).

      2.10 Lexeme

      Alltagssprachlich wird Lexem häufig synonym zu lexikalisches Wort verwendet. Manche Linguisten definieren es (wie beispielsweise Conrad 1985, S. 140) als „Wort oder Wortstamm als Einheit des Wörterbuchs, d.h. als abstrakte Einheit, die Träger einer lexikalischen Bedeutung ist.“ Danach sind sowohl die Wortformen, die bei der Flexion abgeleitet werden, als auch die Hilfswörter, WortHilfswortdie keine lexikalische Bedeutung haben, keine Lexeme. Innerhalb des Syntagmas Das Haus hat gebrannt. ist demnach nur Haus ein Wort mit Lexemstatus; das und hat haben diesen Status nicht, weil sie grammatische Hilfswörter sind und gebrannt ist keines, weil es eine Wortform zu dem Lexem brennen ist. Oft werden auch Phraseologismen als Lexeme aufgefasst, weil sie eine konzeptuelle Einheit vertreten (dumm wie Bohnenstroh = ‘sehr dumm’). Man spricht dann von MehrwortlexemenLexemMehrwort-.

      2.11 Listeme

      Das Fachwort Listem wurde in der Psycholinguistik von Di Sciullo und Williams (1988) Di Sciullo, A.Williams, E.als Oberbegriff für alle idiosynkratischen Lexikoneinheiten eingeführt, die im Gedächtnis gespeichert, „gelistet“ sind. Damit umfasst dieser Oberbegriff nicht nur mentale Wörter und Wendungen, sondern auch Wortbildungsmorpheme, Flexive und die Wortformen. Der Begriff Listem soll die Tatsache hervorheben, dass diese Lexikoneinheiten mit ihren spezifischen phonologischen, morphologischen, syntaktischen und semantischen Charakteristika (idiosynkratische Eigenschaften) aufgelistet sind und auswendig gelernt werden müssen, da sie nicht wie die syntaktischen Phrasen durch allgemeine Regeln herleitbar und analysierbar seien. Dieser psychologische Terminus ist in der germanistischen Linguistik eher ungebräuchlich.

      3 Komplexe Wörter

      3.1 Charakterisierung der komplexen Wörter Wörter;komplexe

      Komplexe Wörter werden von Simplizia unterschieden. Simplizische Wörter (wie blau und Tisch) werden auch als einfach charakterisiert, da sie nur aus einer sinnhaltigen Komponente bestehen und deshalb nicht weiter zerlegbar sind. Komplexe Wörter (wie Tische und Tischbein) haben dagegen prototypisch mindestens zwei sinnhaltige Bestandteile. Die Sinnhaltigkeit der Wörter im Deutschen zeigt sich darin, dass sie minimale freie Formen sind,1 d.h. sie können allein an einer andere Stelle im Text auftreten.

      Nach dieser Definition ist das Wort Tische morphologisch komplex, da es aus zwei minimalen Einheiten besteht: Tischder lexikalischen Basis Tisch und dem grammatischen Pluralmarker e. Letzterer kann auch an anderen Wörtern als Pluralmarker auftreten (Stühle). Tischbein ist auch morphologisch komplex: Es ist eine Wortzusammensetzung (Wortbildung) aus zwei minimalen Einheiten, den Wörtern Tisch und Bein (‘Bein vom Tisch’). Wohnzimmerschrank ist eine Verbindung des komplexen Wortes Wohnzimmer (‘Zimmer zum Wohnen’) mit dem einfachen Wort Schrank. Und Wohnzimmerschrankwand ist eine feste Verknüpfung von zwei komplexen Wörtern: ‘eine Schrankwand fürs Wohnzimmer’.

      Wörter können also zum einen komplex werden, wenn sie mit einer minimalen Einheit mit grammatischer oder wortbildender Funktion2 (wie bei Tischler) kombiniert werden. Zum anderen werden sie komplex, wenn sie sich mit anderen Wörtern verbinden. Lyons (1983, S. 141) bezeichnet erstere als „komplexe Lexeme“ (Derivationen) und letztere als „zusammengesetzte Lexeme“ (Kompositionen). LexemkomplexLexemzusammengesetzt

      Mittels der Methode der Segmentierung werden die komplexen Wörter identifiziert. Die kompetenten Sprecher und Hörer werden aufgrund ihres lexikalischen Wissens unbewusst, ohne große kognitive Anstrengung, das Wort Tische in die zwei Komponenten Tisch und e und nicht in Tis und che zerlegen. Diese Fähigkeit setzt jedoch bei den lexikalisierten komplexen Wörtern morphologische und semantische Transparenz voraus. Ein produktives Bildungsmuster, die Morphemstruktur und die Bedeutung der Wortkonstituenten muss also erkennbar sein. Wenn die Transparenz im Verlaufe der Wortentwicklung verloren gegangen ist, spricht man von Demotivierung bzw. Idiomatisierung oder Bedeutungsisolierung. Bei dem Wort blaumachen (‘schwänzen’) blaumachenist die morphologische Transparenz vorhanden, jedoch die Bedeutung kann nicht mehr aus den Komponenten ermittelt werden3, sie muss als Ganzes erlernt werden. Im wörtlichen Sinn bedeutet es ‘blau färben’, das der empfohlenen Rechtschreibung nach getrennt geschrieben wird.

      Die Übergänge zwischen morphosemantisch transparent und nicht transparent sind fließend. Dies wird in der Wissenschaft u.a. mit dem „Vorschlag einer Skala morphosemantischer Transparenz“ beschrieben (Galèas, 2003, S. 287). Usuelle komplexe Wörter sind mehr oder weniger lexikalisiert; die Motivierung eines Wortes lässt nach und verschwindet. Bei völliger Lexikalisierung geht die Möglichkeit der KompositionalitätStufenKompositionalität und damit die Transparenz verloren, da eine kompositionale Dekodierung nicht möglich ist. Galèas (2003) unterscheidet sieben Stufen der morphologischen Transparenz: Sie reichen von völliger Kompositionalität, bei der die Bedeutungen der Teile im komplexen Wort nicht verändert wurden, wie bei Haustür, bis zur totalen Suppletion, wenn keine Ableitung nach den allgemeinen phonologischen oder morphologischen Regeln möglich ist, wie bei engl. go – went oder dt. sein – bin – war. (Nübling, 1999, S. 78)

      Falschsegmentierungen von transparenten Wörtern treten in der Sprachverwendung auch bei Muttersprachlern auf. Beispielsweise bei Ambiguitäten wie in dem Satz: Im Umschlag ist ein Druckerzeugnis. Zu Druckerzeugnis existieren die Lesarten ‘Druck-Erzeugnis’ oder ‘Drucker-Zeugnis’ (siehe weiter dazu Römer, 2009) Römer, C.oder bei „wenig vertrauten fremdsprachlichen Entlehnungen.“ marode(Plank, 1981, S. 68) Dies ist beispielsweise bei dem aus dem Französischen entlehnten Adjektiv marode der Fall, das „letztlich auf frz. maraud ‘Vagabund, Bettler, Lump, schlechter Kerl’ zurück“ geht. (Pfeifer, 1989, Bd. 2, S. 1066) Komplexe Fremdwörter werden am Beginn ihres Auftretens häufig als Simplizia wahrgenommen: „Wiederholen sie sich mit immer den gleichen Affixgruppen, können wir die Fremdaffixe langsam als eigenständige Morpheme erkennen, und wir zerlegen die Fremdwörter nachträglich in ihre morphologischen Bestandteile, das heißt, wir realisieren die Form.“ (Elsen, 2014, Kap. 9.2)

      3.2 Arten von komplexen Wörtern Wörter;komplexe;Arten

      In der Literatur haben sich verschiedene Blickwinkel auf die Differenzierung komplexer Wörter etabliert.

      Zum einen werden sie nach der Produktivität der Wortbildung differenziert: Jene, „die durch produktive Prozesse gebildet werden und daher morphosyntaktisch und semantisch regelmäßig sind.“ Andere, „die zwar morphologisch komplex sind, aber entweder nicht auf allen Ebenen kompositionell sind oder keinem produktiven Muster angehören.“ (Schmid u.a., 2001, S. 2) Es kann also nicht strikt unterschieden werden in regelbasiert gebildete und nicht regelbasierte komplexe Wörter, weil es Übergangserscheinungen gibt.

      Ein anderes Kriterium ist, ob historisch komplexe Wörter transparent sind, ob sie synchron noch in Komponenten zerlegt werden können. Wenn dies nicht der Fall ist, werden sie als Simplizia im Lexikon gespeichert. (Schmid u.a., 2001, a.a.O.) Während Wasserglas ohne Probleme in die Konstituenten Glas und Wasser (‘Glas für Wasser’) zerlegt werden kann, ist dies bei Kleinod (‘Kostbarkeit’) nicht der Fall, da es in der Gegenwartssprache keine Minimaleinheit Od gibt. UsualitätDie komplexen Wörter werden auch hinsichtlich der Usualität (Üblichkeit) differenziert. Man unterscheidet usuelle von okkasionellen, beispielsweise bei Bhatt (1991, S. 27). Bhatt, C.In dem nachfolgenden Beispiel ist das Wort Superreiche enthalten, das ein usuelles komplexes Wort ist. Die Schöpfung (Geldver-)Mähren wird sicher okkasionell (nicht usuell) bleiben und nicht in den deutschen Wortschatz eingehen.

      […] würden wir gern wissen, um wen es sich bei den vier anderen Superreichen aus Böhmen und (Geldver-)Mähren handelt […]1

      Neben den morphologisch-semantisch


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