Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Herbert Huesmann

Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots - Herbert Huesmann


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wird Kapitel A 1 durch einen Überblick über den Forschungsstand zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots (A 1.3) und Anmerkungen zur Rezeption ihrer Romane in Deutschland und Frankreich (A 1.4). Auch die Ausführungen zur „Darstellung des Raums“ in Kapitel A 2 erheben keineswegs den Anspruch, den wissenschaftlichen Diskurs zu diesem Thema in seiner ganzen historischen Breite und Tiefe sowie in seiner komplexen theoretischen Differenziertheit abzubilden. Gleichwohl sollen die der Analyse zugrunde liegenden Fragestellungen und der methodische Weg der Erarbeitung in einer historisch und theoretisch fundierten Weise aufgezeigt werden.

      Der zweite, der Hauptteil der Arbeit, führt in einem ersten Schritt (Kapitel B 1.1) zu einer inhaltlich-thematisch bestimmten Aufteilung des erzählerischen Werks auf drei Felder (B 2, B3, B4). (Die kurzen Erzähltexte werden in dem gesonderten Kapitel B 5 exemplarisch anhand der Erzählung La Ville de l’oiseau behandelt.) Eine Beschränkung auf eine exemplarische Auswahl im Bereich der Romane empfiehlt sich angesichts der inhaltlichen und formalen Verschiedenheit dieser Texte nicht. Unter Bezugnahme auf die Kapitel A 1 und A 2 werden sodann (Kapitel B 1.2) die inhaltlichen und methodischen Schwerpunkte der Untersuchung festgelegt und das Thema der Studie ausführlich begründet.

      Grundsätzlich orientieren sich alle Werkanalysen an den in B 1.2 dargelegten Grundsätzen, passen sich aber immer auch der inhaltlichen und formalen Struktur der einzelnen Texte an. Aufgrund des kontextualisierenden Ansatzes der Analyse vermittelt die Studie trotz der konsequent eingehaltenen Konzentration auf die Thematik der literarischen Suchbewegung gelegentlich auch Einblicke in mit der zentralen Fragestellung verwobene inhaltliche und formale Details der Textgestaltung. Die wesentlichen Ergebnisse der Werkanalysen werden jeweils themenfeldbezogen zusammengefasst.

      Der abschließende dritte Teil C arbeitet themenfeldbezogen und themenfeldübergreifend die Entwicklung der Suchbewegungen in ihrer räumlichen und ideellen Dimension heraus (C 2). In den Schlussfolgerungen (C 3) werden die Beziehungen zwischen dem Erzählwerk Cécile Wajsbrots und von ihr vertretenen literaturtheoretischen Positionen beleuchtet sowie das den Haute Mer-Romanen zugrunde liegende Kunstverständnis in Ansätzen eruiert, bevor der Begriff der literarischen Suchbewegung in einer vertiefenden Gesamtschau abschließend definiert wird.

      Um das Verständnis der vorliegenden Studie für alle Leserinnen und Leser zu erleichtern, sind im Anhang strukturierte inhaltliche Zusammenfassungen aller analysierten Texte beigefügt.

ERSTER TEIL (A) CÉCILE WAJSBROT UND DIE BEDEUTUNG VON RAUM UND BEWEGUNG IN DER ERZÄHLENDEN LITERATUR

      1 Cécile Wajsbrot

      Cécile Wajsbrot gehört seit vielen Jahren zu den vielseitigsten und produktivsten Autorinnen und Autoren des extrême contemporain in Frankreich. Durch die Übersetzung einiger ihrer Romane und Erzählungen ins Deutsche1 hat sie auch in Deutschland eine Lesergemeinde gefunden. Gleichzeitig ist sie durch die Übersetzung deutscher Autoren ins Französische zu einer Brückenbauerin zwischen beiden Ländern geworden. Am Anfang einer Beschäftigung mit dem Erzählwerk Cécile Wajsbrots sollte ihr biographischer Hintergrund in dem Maße erhellt werden, in dem dies den Zugang zu ihren Romanen und Erzählungen erleichtert. Dasselbe gilt für ihre literaturtheoretischen, vor allem auch für ihre auf den Roman bezogenen Positionierungen, die sie in einem Essay und in Interviews dargelegt und erläutert hat. Ergänzt werden die Ausführungen durch einen Überblick über den Forschungsstand zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots sowie durch Anmerkungen zur Rezeption ihrer Romane in Frankreich und Deutschland.

      1.1 Biographischer Hintergrund1

      Cécile Wajsbrot wurde 1954 in Paris geboren. Ihre Mutter, deren jüdische Eltern aus Polen stammten, galt zwar als „Ausländerkind“, war aber, da sie in Paris geboren wurde, Französin. Sie überlebte den Krieg im Département Lot-et-Garonne in einem von Nonnen geleiteten Mädchenpensionat. Ihr Vater, der im Alter von 17 Jahren mit seiner Familie aus Polen nach Frankreich emigriert war, fand während der Kriegszeit Schutz in einem Versteck in der Auvergne. Der Großvater mütterlicherseits wurde im Mai 1941 von Beaune-la-Rolande in ein Lager im Loiret verbracht und im Juni 1942 von dort nach Auschwitz deportiert, wo er einige Wochen später starb.

      Cécile Wajsbrot hat nach dem Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft zunächst einige Jahre als Französischlehrerin und als Rundfunkredakteurin gearbeitet, bevor sie als freie Schriftstellerin und Übersetzerin deutscher und englischer Autorinnen und Autoren und als Mitarbeiterin der Zeitschriften Autrement, Les Nouvelles littéraires und Le Magazine littéraire einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde.2 Das umfangreiche literarische Werk Cécile Wajsbrots umfasst neben den in dieser Studie vorgestellten und analysierten Romanen und Erzählungen Biographien, Essays, Dialoge und Hörspiele.

      Nachdem Cécile Wajsbrot erstmals 1995 bei einer Reise nach Litauen einige Tage in Berlin verbracht hat, erlebt sie fünf Jahre später bei einem eineinhalb Monate dauernden Besuch der Stadt „[…] un véritable coup de foudre“3, der ihr Leben verändern sollte: „J’ai aimé la ville et eu du mal à la quitter au point que j’ai trouvé la solution d’avoir eine zweite Wohnung à Berlin et de pendeln zwischen Paris und Berlin […]“4. Als Stipendiatin des DAAD lebt sie von März 2007 bis März 2008 ein Jahr ununterbrochen in Berlin. Während dieser Zeit und im Jahr 2012 entsteht ein als Berliner Ensemble5 erschienenes, facettenreiches Kaleidoskop literarischer Impressionen, die „[la] réflexion [de C.W.] sur les ravages causés par l’histoire du XXe siècle et, en particulier, sur les lieux de mémoire de la Seconde Guerre mondiale“6 widerspiegeln.

      In einem FAZ-Gespräch mit Katharina Narbutovic erklärt Cécile Wajsbrot im April 2008 eine eindeutige Vorliebe für Berlin:

      Ich fühle mich in Berlin besser als in Paris. In Berlin lässt es sich freier atmen. In Paris ist der Kulturbetrieb sehr eng, geschlossen, auch narzisstisch. Da denke ich, wenn ich in Frankreich schon außen vor stehe, dann kann ich mich auch noch weiter aus der Stadt zurückziehen.7

      Ihr Gefühl, in Frankreich nicht in die Gesellschaft voll integriert zu sein, sondern als Außenseiterin betrachtet zu werden, erklärt sie in dem Gespräch mit Elke Richter und Natascha Ueckmann mit einer Lebenserfahrung, die der ungarische Schriftsteller Imre Kertész in seinem in deutscher Sprache unter dem Titel Ich – ein anderer sinngemäß folgendermaßen zum Ausdruck gebracht habe: „Es ist etwas anderes sich zu Hause heimatlos zu fühlen als in der Fremde, wo man in der Heimatlosigkeit ein Zuhause finden kann.“8 Cécile Wajsbrot erklärt sodann ausführlich, warum diese aphoristische Beobachtung ihr eigenes Lebensgefühl so treffend wiedergibt:

      Je me suis toujours sentie un peu étrangère en France, en tout cas pas comme les Français de souche, comme on dit. Donc toujours un peu différente, étrangère alors que je suis née en France, que ma langue maternelle est le français. Si je sens une différence à Berlin, c’est normal parce que je suis vraiment étrangère, je suis réellement une Française à Berlin, une Française en Allemagne. En France, ce n’est pas normal que je ne me sente pas tout à fait française comme les autres. Il est plus confortable que la réalité coïncide avec le sentiment intérieur.9

      Unter dem Einfluss der migratorischen Geschichte ihrer Familie und ihrer eigenen Biographie hat sich Cécile Wajsbrot im Laufe ihrer schriftstellerischen Entwicklung in der Auseinandersetzung mit und auf der Suche nach ihren eigenen Wurzeln, ihrer „origine“, immer wieder „zwischen den Welten“ bewegt, ohne dabei der Gefahr zu erliegen, die Perspektive ihres Schreibens auf Einzelschicksale, und sei es ihr eigenes Leben, zu fokussieren. Allerdings wurde für sie wie für viele andere Autorinnen und Autoren mit einem ähnlichen biographischen Hintergrund die eigene oder, wie in ihrem Fall, die durch den Abstand der Generationen nur noch mittelbar erlebte Erfahrung der Migration zu einem bestimmenden Movens ihrer „quête littéraire“ in sehr unterschiedlichen Lebens- und Erfahrungsräumen.10

      1.2 Grundpositionen Cécile Wajsbrots zur Bedeutung und Funktion des Romans

      Cécile Wajsbrot hat sich mehrfach in literaturhistorisch und literaturtheoretisch argumentierender Form zur Bedeutung und Funktion der Literatur geäußert, wobei sie sich im Wesentlichen auf den Roman bezieht.1 Schon 1999 beklagt sie, dass der klassische


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