Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Herbert Huesmann
in der Moderne“17 ein. Nach einer historisch-systematischen Auseinandersetzung mit dem „[…]Problem der Historizität der Welt […]“18 skizziert Oexle, u.a. unter Bezugnahme auf die Causa Hans-Robert Jauß, welche Konsequenzen sich aus dem Konflikt zwischen Erinnern und Vergessen bis in die Gegenwart ergeben haben.
In Kapitel III lenken die Aufsätze von Marguerite Gateau – „La place de la radio dans l’œuvre de Cécile Wajsbrot“ –19 und Hans T. Siepe – „Le dégel des paroles gelées oder Das Schweigen erzählen. Zum Thema des Schreibens bei Cécile Wajsbrot“ – 20 die Aufmerksamkeit der Leserschaft auf die in Deutschland weniger beachteten fiktionalen Texte, die Cécile Wajsbrot für das Radio verfasst hat.
In „Mémorial oder die Verdichtung der Stimme(n)“21 beleuchtet Stephanie Bung einen wichtigen narratologischen Entwicklungsschritt innerhalb des Erzählwerks Cécile Wajsbrots.
In ihrem Beitrag „‚Rien ne retient mon regard‘ – Tex-Bild-Relationen in Fugue“22 erschließt Roswitha Böhm über eine Analyse der Text-Bild-Relationen die tieferen Bedeutungsschichten einer kryptischen Erzählung.
In seinem das Kapitel III beschließenden Aufsatz „’Caspar-David-Friedrich-Strasse’. Cécile Wajsbrot oder die Ästhetik der Abwesenheit“23 reflektiert Ottmar Ette zunächst über die Bedeutung verschiedener Phänomene der Abwesenheit in dem Roman, so z.B. die Abwesenheit des Namensteils „David“ im Titel; die Abwesenheit des jüngeren Bruders des Malers, der beim Versuch, seinen Bruder Caspar David vor dem Ertrinken zu bewahren, selber ertrank; oder aber die
materielle Abwesenheit der Bilder […] die vielleicht wichtigste Voraussetzung dafür, dass die stets gegebene Versuchung illustrativer Rückbindung an die Gemälde der Romantik gekappt beziehungsweise weitgehend reduziert und gleichsam eine Allgegenwart der Bilder suggeriert wird.24
Die Abwesenheit der Bilder und ‚Illustrationen‘ erlaube, wie Ette weiter ausführt, „ein freies transmediales Flottieren, in dem sich die ikonischen wie die literarischen Bildersprachen wechselseitig potenzieren.“25 Für Ette ist dies ein Anlass, über die Beziehung zwischen „Geschichte“ und „Leben“ und von diesem Punkt aus über die Funktion von Literatur – und damit über die Bedeutung des Schreibens – nachzudenken:
Literatur […] ist jener Diskurs, der Geschichte aus der Perspektive des Lebens und konkreter Lebensprozesse wahrnimmt und re-präsentiert; vor allem aber ist Literatur ein diskursiver Kosmos, der Geschichte in Leben übersetzt und die einander oft widersprechenden Blickwinkel verschiedenartigster Lebensgeschichten inszeniert. In diesem Sinne ist Literatur ein sich ständig verändernder und zugleich interaktiver, veränderbarer Speicher von Lebenswissen.26
Über das Leben des Schriftstellers-Erzählers in Caspar-Friedrich-Strasse schließlich sagt Ette, dass er versuche, „[…] eine Kunst des Raumes nicht nur in eine Kunst der Zeit, sondern zugleich auch in eine Kunst des Lebens zu übersetzen“27.
Es überrascht nicht, dass auch die übrigen auf verschiedene Publikationen verteilten Beiträge zum Erzählwerk Cécile Wajsbrots die im Themenfeld I dieser Arbeit vereinten Romane vernachlässigen und sich stattdessen schwerpunktmäßig auf die Thematik beziehen, die in den in den Themenfeldern II und III zusammengefassten Texte vorherrscht. In zwei weiteren Aufsätzen28 stellt Ottmar Ette die Hintergründe und Auswirkungen der „[…] inter- und transkulturellen Relationalität der Statuen […]“ in L’Île aux musées, „die unterschiedlichen Zeiten und Räumen, Gesellschaften und Kulturen entstammen“29, in den Mittelpunkt seiner Überlegungen.30 Überdies charakterisiert er die Welt der Kunst als eine von einer Ander-Logik beherrschte Parallelwelt, durch die „Zeit-Räume“ entstehen, die „[…] die Grenzen individuellen menschlichen Erlebens“31 sprengen. – In dem großen Kontext seines Buches ZwischenWeltenSchreiben32 betrachtet Ette Beaune-la-Rolande als eine „Vergegenwärtigung von Stimmen der Vergangenheit“33 und Mémorial als einen „Echoraum von Stimmen ohne festen Wohnsitz“34.
Cornelia Klettke erkennt in L’Île aux musées eine archipelartig-fraktale, heterotopische Parallelwelt der Kunst, in der die „Heterologie“ der Statuen „[…] une espèce de choralité qui rappelle le chœur des tragédies antiques“ ermöglicht.35 Die Bezüge zwischen dem gedanklichen Aufbau und der ästhetisch-formalen Struktur des Romans werden in einer tiefschürfenden Textanalyse beleuchtet, die den Austausch zwischen den „Inseln der Kunst“, den Protagonisten und den Leserinnen und Lesern folgendermaßen erklärt:
Dans le roman, c’est l’émotionalisation qui semble être la stratégie textuelle prépondérante pour la production du sens. Les œuvres d’art en tant que dépôts d’énergie sont chargées d’intensités émotionnelles qui se transmettent aux protagonistes pour ensuite refluer vers les œuvres d’art. Le roman se révèle empreint d’un mouvement circulaire de transmission d’énergie entre le texte, l’homme et l’œuvre d’art, un mouvement qui englobe également le lecteur.36
Von grundlegender Bedeutung für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema des Holocaust im Erzählwerk Cécile Wajsbrots sind weitere Arbeiten Katja Schuberts.37 Ausgangspunkt ihrer 2001 erschienenen Studie ist „[…] die Überzeugung, dass die Verfasserinnen als Opfer oder als Angehörige und Nachkommen von Opfern extremer Gewalt eine Deutungsautorität in Bezug auf das Geschehen der Shoah und deren Spätfolgen innehaben […]“38. Dabei gelangt Katja Schubert zu der Erkenntnis, dass, „da […] die konkreten Orte des Geschehens ‚Auschwitz‘ nicht mehr existieren, […] Topographien des Gedächtnisses und des Zeugnisses durch das Schreiben selbst geschaffen werden müssen.“39 Sie führt jedoch auch aus, dass „[d]ie nach 1945 geborenen Schreibenden […] dennoch auf verschiedene Weise [versuchen], mit den Orten verbundene Erfahrungen und die dazugehörigen Geschichten der Deportierten einzuholen“40. In ihren 2007, 2008 (und 2010) erschienenen Aufsätzen über Beaune-la-Rolande, La Trahison und Mémorial41 hat Katja Schubert detailliert entfaltet, dass und warum Cécile Wajsbrot als typische Repräsentantin dieser Gruppe von Schriftstellerinnen zu betrachten ist. Wenn Cécile Wajsbrot die Funktion von Literatur anhand der von Rabelais im Quart Livre erzählten Haute Mer-Episode Pantagruels erläutere,42 dann insistiere sie auf einer „[…] approche intertemporelle et intertextuelle malgré et avec Auschwitz“ und demonstriere damit, dass sie sich trotz „Auschwitz“, das den „[…] horizon culturel et politique en Europe […]“43 bis heute definiere, in die literarische Tradition einordne. Sie tue dies umso lieber, als sie hier, womöglich anders als im Bereich der Familie, eine „généalogie intacte“ vorfinde:
La lecture et le commentaire d’autres textes littéraires portent les siens, tissent aussi leurs trames à l’intérieur des siens et créent une polyphonie qui exprime appartenance, interaction et, qui sait, aussi une généalogie intacte, contrairement à la généalogie familiale avec ses multiples ruptures.44
Die Zahl der in Frankreich und in anderen europäischen Ländern erschienenen und für diese Dissertation relevanten Studien ist relativ gering. Zu erwähnen sind die Arbeiten von Matteo Majorano, Fabien Gris, Valeria Gramigna und Teresa Baquedano Morales.45
Sowohl Matteo Majorano als auch Fabien Gris setzen sich mit Caspar-Friedrich-Strasse auseinander. Matteo Majorano charakterisiert den Roman als „[…] un enchevêtrement d’histoire (l’écroulement du mur de Berlin), de réflexion sur l’art, à partir des tableaux de Caspar Friedrich (sic!), et d’un amour impossible, à cause du mur infranchissable qui existe en chacun de nous“46.
Am Ende seines gedanklich vielschichtigen Aufsatzes fasst Fabien Gris die Art und Weise, in der Cécile Wajsbrot die Reflexion über Kunst und Geschichte fiktionalisiert hat, folgendermaßen zusammen:
Avec la fiction élaborée dans Caspar Friedrich Strasse, Cécile Wajsbrot fait partie de ces auteurs qui ont contribué à redéployer les canons de l’histoire de l’art selon de nouvelles logiques – anachroniques, fantomales et figurales –, qui échappent a priori au seul décryptage des intentions du peintre. En cela, n’a-t-elle pas suivi Friedrich lui-même qui, fidèle à l’esprit du romantisme, donnait ce conseil: „L’un des plus grands mérites et peut-être le plus