Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Herbert Huesmann
sondern unter Berücksichtigung aller Brüche und neuer Entwicklungen Kontinuität pflegen und Eigenständigkeit leben.3
Den Vorwurf des literarischen und geschichtlichen Kontinuitätsbruchs richtet Cécile Wajsbrot an Theoretiker des Nouveau Roman, namentlich an Nathalie Sarraute und Alain Robbe-Grillet:
[…] Nathalie Sarraute dans l’Ère du soupçon et Alain Robbe-Grillet dans Pour un nouveau roman édifiaient la théorie des villes nouvelles du roman, réfutant toute narration, toute présence d’un récit, de personnages, pour accepter comme seul élément fiable de la littérature, comme base unique sur laquelle elle pourrait reposer, pour n’accepter que le langage.4
Nathalie Sarraute habe „bei vollem Bewusstsein“ (en pleine conscience) die Frage gestellt, wie man nach der Katastrophe des 20. Jahrhunderts noch an die „Menschheit“ bzw. an „Menschlichkeit“ (humanité) und an die den Roman bevölkernden literarischen Figuren glauben könne. Der vor der Katastrophe die Augen verschließende Robbe-Grillet habe im Namen des „Überdrusses und der Langeweile“ (ennui) die „Tyrannei der Sinnhaftigkeit“ (la tyrannie du sens) angeprangert, sich aber nicht im Gefolge Camus’ oder Becketts der Theorie des Absurden, sondern in gewisser Weise der „l’art pour l’art“- Bewegung des 19. Jahrhunderts verschrieben, mithin einer Literaturform „[…] dont l’élégance suprême serait de ne rien dire, de ne rien signifier“5.
Der Kontinuitätsbruch ist indes in einen größeren Rahmen einzuordnen. Die Schriftsteller – und die Intellektuellen – haben sich mit ihrer Haltung des „Wegsehens“, wie C. Wajsbrot 1999 feststellt, lange Zeit lediglich dem „mainstream“ der französischen Gesellschaft angeschlossen. So haben sie die Zeit von 1939 bis 1945, den Schrecken der Naziherrschaft mit der von allgemeinem Schweigen begleiteten systematischen Vernichtung der europäischen Juden, die Okkupation und Kollaboration und ihre Folgen, aber auch den Abwurf der ersten Atombombe von den 50er bis in die 70er Jahre und sogar „[…] jusqu’à aujourd’hui […]“6 ausgeblendet und stattdessen lieber gegen den Einsatz der USA in Vietnam protestiert. Die Autorin mag von der Idee des „péché originel“, der Erbsünde und ihrer Wirkungen, geleitet worden sein, wenn sie feststellt: „Notre scène originelle, c’est Vichy, et comme toute scène originelle, elle gît dans la pénombre d’un inconscient qui ne demande qu’à oublier.“7 Die Erinnerung an den Krieg sei zwar überall – „[…] sur les plaques des immeubles, dans les rues des villes et des grandes capitales, sur le calendrier et sur les monuments aux morts, partout […]“ – 8 gegenwärtig, nicht jedoch in der Literatur. Und wenn sich die zeitgenössische Literatur in Frankreich mit Vichy-hörigen faschistischen Autoren wie Céline oder Brasillach noch immer arrangiere, dann übersehe man geflissentlich die von ihnen vermittelten Inhalte, um sich an ihrem Stil zu delektieren: „[…] il faudrait écouter la musique et non les paroles.“9 Mit ihrer resignierenden Feststellung „Céline est à l’image de la France […]“10 schließlich bringt Cécile Wajsbrot zum Ausdruck, dass ihrer Meinung nach die zeitgenössische Literatur Frankreichs durch eben diese Negation des Inhalts auf die Stufe der reinen „écriture“ herabgesunken ist. Hingegen stehe die Erinnerung an den Krieg in den Literaturen Zentraleuropas, von Deutschland bis Russland
[…] au cœur des romans, au cœur de la réflexion de ceux qui l’ont vécue comme de ceux qui sont nés après, dans l’ombre portée du souvenir. Oui, il est des pays dont la littérature porte la trace de tout cela, le désarroi, l’interrogation, ou le silence, tandis que chez nous, alors que ce monde s’écroule à son tour, depuis la chute du mur, l’exploration vient à peine de commencer.11
Für Cécile Wajsbrot definiert sich der Roman – genauer: der literarische Roman (roman littéraire), den sie vom „Unterhaltungsroman“ (roman romanesque) unterscheidet – durch eine von ihr als „totalité“ bezeichnete Einheit aus Form und Inhalt: „Le roman est totalité – totalité de la forme, totalité du contenu, totalité de la forme et du contenu.[…] Le roman est totalité. C’est sa définition même.“12 Der Totalitätsanspruch des Romans beruht für Cécile Wajsbrot jedoch keineswegs nur auf der durchaus als klassisch-tradiert zu bezeichnenden Entsprechung zwischen Form und Inhalt, sondern ebenso auf der sich ins Unendliche öffnenden inhaltlich-thematischen Vielfalt unterschiedlicher Perspektiven, die sie mit dem Hinweis auf eine Auswahl von Romanen – von La Princesse de Clèves bis zu Anna Karenina – überzeugend zu belegen vermag. Welche Anforderungen an Autorinnen und Autoren mit diesem Anspruch einhergehen, erläutert Cécile Wajsbrot in der für sie fundamental wichtigen Form einer Raummetapher, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt:
Notre installation sur les terres du roman littéraire, le parcours de ses forêts ne peut se faire que dans le temps où nous sommes ou plutôt, ne peut se faire sans s’inscrire dans le temps où nous sommes, ce qui signifie à la fois connaître ce qui nous a précédés dans l’histoire et savoir que nous écrivons maintenant. Ni avant ni apres mais précisément dans le lieu et le temps où nous vivons.13
Beim Prozess des Schreibens sieht Cécile Wajsbrot die Autorinnen und Autoren eines Romans folglich in eine Tradition hineingestellt, die sich einerseits auf die Vergangenheit im Ganzen, andererseits jedoch auch auf die von ihnen selbst ge- und erlebte Zeit bezieht, mithin auf die jeweils aktuellen räumlich-örtlichen und zeitlichen Bedingungen, den Chronotopos. In demselben Text präzisiert Wajsbrot etwas später, dass sich die Verpflichtung gegenüber dem Erbe der Geschichte auch auf „[…] une succession de livres“ beziehe, dass sich das Schreiben gleichermaßen „[…] dans le temps biographique et le temps littéraire“ einfüge. Wohl auch unter dem Einfluss ihrer eigenen Biographie und der Geschichte ihrer Familie betrachtet sie daher das Schreiben als eine dreifache Verpflichtung: „[…] c’est aussi prendre la parole, rompre le silence, et porter témoignage“.14 In der bewussten Annahme dieses Auftrags der Literatur zur Stellungnahme und einer das Verschweigen überwindenden Zeugenschaft liegt wohl der eigentliche Grund für die Befreiung, die, wie Cécile Wajsbrot überzeugt feststellt, von der Beschäftigung mit der Vergangenheit ausgeht: „La connaissance des autres, de l’histoire […] la connaissance de l’histoire pourrait nous libérer.“15
Mit der Robbe-Grillet zugeschriebenen Inhaltsleere des Nouveau Roman vermag Cécile Wajsbrot dieses Konzept nicht in Einklang zu bringen.16 Demgegenüber verteidigt sie vehement die Comédie humaine Balzacs.17 Starke Sympathien hegt sie insbesondere für Marcel Proust, dessen Innovationen leider folgenlos geblieben seien, und Virginia Woolf.18 Gerne beruft sie sich auf Proust, um den Totalitätsanspruch des Romans und die ihm daraus erwachsende Aufgabe, die Zeit als vielschichtige Einheit aus Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem zu behandeln,19 hervorzuheben, hat Proust doch in seiner Recherche „[…] la totalité de l’iceberg, sa partie émergée et sa part immergée […]“20 erforscht. Dass sich der Roman als literarisches Genre mit der Zeit nicht in einer verkürzten, distanzlosen, unreflektiert abbildhaften und als „écriture“ einzustufenden Art und Weise auseinandersetzen sollte, unterstreicht die Autorin mit der folgenden programmatischen Erklärung:
Le roman travaille sur le temps, travaille le temps, c’est pourquoi se déposent en lui les travers de l’époque, le risque de l’éphémère mais aussi la possibilité de les transcender en dessinant le temps […] la possibilité de le configurer c’est-à-dire de le relier aux chaînes d’événements des époques passées et de le décrire non platement comme le ferait le journalisme […] mais dans ses trois dimensions comme un objet holographique.21
Cécile Wajsbrot ist sich sehr wohl bewusst, dass die Möglichkeiten der unmittelbar-direkten Zeitzeugenschaft aufgrund der Begrenztheit der eigenen Erfahrungen stark eingeschränkt sind. So gilt im Hinblick auf die Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für sie, dass sie als Angehörige der „[…] génération venue après […]“ auf in unterschiedlichster Form vermittelte Erzählungen angewiesen ist, um sodann über eigene Fragestellungen – […] pas au sens d’un historicisme anachronique mais au sens d’un renouvellement […] – zu einer „[…] reconstitution de repères“ 22, d.h. zu einer Kontinuität sichernden, Orientierung ermöglichenden neuen Sicht auf Vergangenes zu gelangen.
Um dem an ihn gerichteten „Totalitätsanspruch“