Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Herbert Huesmann
sich – topologisch ausgedrückt – gesellschaftlich von „unten“ nach „oben“ emporarbeitet, und Shakespeares Romeo und Julia, die sich – ungeachtet der die Häuser Montague und Capulet wie eine hohe Mauer voneinander trennenden Erbfeindschaft – zu ihrer Liebe bekennen. Die Beispiele zeigen, dass Grenzüberschreitungen (a) topologisch markiert, (b) angesichts der aufeinander treffenden Einstellungen, Überzeugungen, Weltbilder zugleich semantisch aufgeladen und (c) selbstverständlich immer auch in einen topographisch mehr oder weniger genau bestimmten Rahmen eingefügt sind.16
Während sujethaften Texten geradezu revolutionäre Eigenschaften eignen, geht von sujetlosen Texten eine die bestehenden Verhältnisse bestätigende Wirkung aus, d.h. dass sie „[…] einen deutlich klassifikatorischen Charakter [haben]“ und die in ihnen agierenden Figuren unbeweglich sind.17
Lotmans Anliegen, die Bedeutung des Raums für die Kunst im Allgemeinen und die Literatur im Besonderen darzustellen und zu begründen, ist so plausibel wie seine Feststellung, dass „[…] die Sprache räumlicher Relationen […] eines der grundlegenden Mittel zur Deutung der Wirklichkeit“18 ist. Weniger zu überzeugen vermögen jedoch der rigoros binäre Charakter seines Raummodells sowie die sich daraus ableitende Unterscheidung zwischen sujetlosen und sujethaften Texten bzw. zwischen unbeweglichen und beweglichen Figuren, da sich die Frage aufdrängt, ob die komplexe Wirklichkeit ausschließlich in dieser schematisierten Form literarisch abgebildet bzw. übersetzt werden kann.19 Unerlässlich ist daher ein Blick auf das in seinem Spätwerk entfaltete Modell der Semiosphäre, in dem die Grenze als topologisches Hauptmerkmal zwar weiterhin von zentraler Bedeutung ist, aber zugleich neu definiert wird.
Lotman hat sein Modell der Semiosphäre in Anlehnung an Vladimir Vernadskijs Konzept der Biosphäre als ein organisches, holistisches Gebilde entwickelt.20 Er betont, dass der Raum der Semiosphäre zwar von abstrakter Natur sei, der Begriff aber nicht metaphorisch gebraucht werde.21 Entsprechend ihrem organischen Charakter „[…] ist […] die Semiosphäre zugleich Ergebnis und Voraussetzung der Entwicklung der Kultur“22. In seiner zuweilen sehr bildhaften Sprache bringt Lotman damit zum Ausdruck, dass die Semiosphäre jenen Nährboden bildet, aus dem kulturelles Leben hervorgeht. Holistisch ist Lotmans Ansatz, insofern für ihn „[…] jede einzelne Sprache […] von einem semiotischen Raum [umgeben ist]“ und „[der] kleinste Funktionsmechanismus der Semiose, ihre Maßeinheit, […] nicht die einzelne Sprache, sondern der gesamte semiotische Raum einer Kultur [ist]“23. Wenn Lotman hier offensichtlich von einer Vielzahl von in einer Semiosphäre nebeneinander existierenden Sprachen ausgeht, ist dies in hohem Grade missverständlich, solange man dabei nur an natürliche Sprachen denkt. Gemeint sind vielmehr
[…] auch Partialsprachen, Sprachen mit eingeschränkten kulturellen Funktionen und sprachähnliche, unausgeformte Gebilde, die zu Trägern der Semiose werden können, wenn sie in einem semiotischen Kontext stehen: Etwa wie ein Stein oder ein seltsam gebogener Baumstamm als Kunstwerk fungieren können, wenn man sie als solches betrachtet. Ein Objekt nimmt die Funktion an, die man ihm zuschreibt.24
Cornelia Ruhe betont, dass Lotman unter „Sprache“ in diesem Kontext „[…] nicht nur natürliche Sprache, sondern auch innerhalb einer Kultur geführte Diskurse, bestimmte kulturelle Phänomene [verstehe]“25. Konkret wird er neben bestimmten Fachsprachen oder Fachjargons z.B. auch verschiedene nonverbale künstlerische oder kunsthandwerkliche Ausdrucksformen im Blick gehabt haben, betrachtete er doch ganz offensichtlich auch „Kleidermoden“26 als „Sprachen“. Angesichts der „[…] unterschiedlichen Art und Funktion […]“27 dieser „Sprachen“ und ihrer stark divergierenden Lebensdauer diagnostiziert Lotman Heterogenität als „[…] Kennzeichen der Semiosphäre […]“28, da man bei synchroner Betrachtung immer „[…] verschiedene Sprachen in verschiedenen Entwicklungsstadien […]“ vorfinde.29 Wenn Lotman nun in eben diesem Zusammenhang überraschenderweise „[…] eine einheitliche Welt (der Semiosphäre) im synchronen Schnitt […]“ entdeckt, bedient er sich dabei eines Vergleichs mit einem Museumssaal, in dem „[…] Exponate aus unterschiedlichen Epochen […]“ mit darauf bezogenen Erläuterungen in „[…] bekannten und unbekannten Sprachen […]“ sowie organisierte Rundgänge und kunsthistorische Führungen „[…] einen zusammenhängenden Mechanismus […] und damit die Abbildung einer Semiosphäre ergeben, deren „[…] Elemente […] nicht in einem statischen, sondern in einem beweglichen, dynamischen Verhältnis zueinander stehen […]“.30 Für Lotman ist eine einheitliche Welt also eindeutig nicht eine symmetrisch-gleichförmige, sondern eine asymmetrische, vielfältig strukturierte Welt, in der permanente Prozesse der Übersetzung zwischen verschiedenen „Sprachen“, die „[…] in den meisten Fällen semiotisch asymmetrisch sind […]“, als „[…] Informationsgenerator […]“31 fungieren und damit innovativ-sinnstiftend wirken.
Asymmetrie ist innerhalb der Semiosphäre besonders stark ausgeprägt „[…] im Verhältnis zwischen dem Zentrum und […] ihrer Peripherie“32. Um diese Gesetzmäßigkeit zu verstehen, bedarf es jedoch eines Blickes auf die Grenze als das topologische Hauptmerkmal der Semiosphäre. In deutlicher Abkehr von seinen frühen Schriften, in denen er, wie oben dargelegt wurde, das Prinzip einer strikten Opposition zwischen aneinander grenzenden Räumen vertrat, definiert Lotman die Grenze in Die Innenwelt des Denkens wesentlich differenzierter. Zwar erinnert er an das binäre Modell mit dem Hinweis, dass „[am] Beginn jeder Kultur […] die Einteilung der Welt in einen inneren („eigenen“) und einen äußeren Raum (den der „anderen“) [stehe]“33, als wesentliches Charakteristikum der Grenze bezeichnet er jedoch ihre „Ambivalenz“:
Einerseits trennt sie, andererseits verbindet sie. Eine Grenze grenzt immer an etwas und gehört folglich gleichzeitig zu beiden benachbarten Kulturen, zu beiden aneinandergrenzenden Semiosphären. Die Grenze ist immer zwei- oder mehrsprachig. Sie ist ein Übersetzungsmechanismus, der Texte aus einer fremden Semiotik in die Sprache „unserer eigenen“ Semiotik überträgt; sie ist der Ort, wo das „Äußere“ zum „Inneren“ wird, eine filternde Membran, die die fremden Texte so stark transformiert, dass sie sich in die interne Semiotik der Semiosphäre einfügen […].34
Die Grenze, oder, genauer: der Grenzraum bzw. die Peripherie stellen somit für Lotman einen überaus produktiv-kreativen Bereich dar, in dem aus der dynamischen, oft auch spannungsreichen Begegnung unterschiedlicher „Sprachen“ und der damit notwendigerweise einhergehenden Vermittlung zwischen unterschiedlichen Kodierungen neue Ausdrucksformen („Sprachen“) hervorgehen. Die generative Kraft des Grenzraums könne so stark sein, dass sich im Laufe der Zeit das Verhältnis zwischen Zentrum und Grenze umkehre.35
Das Zentrum hingegen ist der Ort der Semiosphäre, an dem die „[…] am meisten entwickelten und strukturell am stärksten organisierten Sprachen“, also „[i]n erster Linie […] die natürliche Sprache der jeweiligen Kultur“36 dominieren und ihre die Kultur, die Rechts- und Wertvorstellungen einer Gesellschaft normierende Wirkung entfalten. Exemplarisch nennt Lotman den florentinischen Dialekt, der sich während der Renaissance als gesamtitalienische Literatursprache etablierte und, wie hinzuzufügen wäre, im Laufe der Jahrhunderte zur italienischen Hochsprache wurde; die Rechtsnormen, deren Geltungsbereich von Rom aus auf das ganze Imperium ausgeweitet wurde und die, wie einmal mehr zu ergänzen ist, bis heute das Rechtssystem in weiten Teilen Europas und der Welt mit prägen; die Etikette, die vom Hofe Ludwigs XIV. auf die Höfe Europas ausstrahlte.37
Neben den zwischen unterschiedlichen Semiosphären liegenden Grenzen erkennt Lotman jedoch auch Binnengrenzen innerhalb der Semiosphären, durch die „Sub-Semiosphären“ entstehen, deren wechselseitige Beziehung unterschiedlich strukturiert sein kann. Binnengrenzen kommen z.B. durch die in einer Semiosphäre nebeneinander bestehenden Sprachen zustande. Für Lotman kann jedoch auch „[d]ie Grenze der Persönlichkeit […]“ zur „semiotischen Grenze“ werden, wobei der Begriff „Persönlichkeit“ nicht in einer kulturübergreifend einheitlichen Weise interpretiert wird und keineswegs immer „mit den physischen Grenzen des menschlichen Individuums“ übereinstimmt.38
Konsequenterweise geht im Denken Lotmans mit der modifizierten Definition des Begriffs „Grenze“ eine Neudefinition des Sujet-Begriffs und der „beweglichen Figuren“ einher. Statt – wie bisher – von einer einen „inneren“