Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Herbert Huesmann

Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots - Herbert Huesmann


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ist, ob und ggf. in welcher Art und Weise handelnde Figuren durch die Wahl des sie umgebenden Raums und/oder durch bestimmte Raumerlebnisse und Bewegungen im Raum geprägt und in ihrer Denk- und Handlungsweise beeinflusst werden.

       In diesem Zusammenhang zu beachten ist die Interdependenz zwischen Raum und Zeit, wie sie sich in klassischen Chronotopoi wie dem Heidelberger Schloss (Mariane Klinger), aber auch in den von Erinnerungsspuren gekennzeichneten „lieux de mémoire“ und beliebigen anderen, durch spezifische Zeitfaktoren beeinflussten Orten bzw. Räumen manifestiert.

       In formaler Hinsicht gilt bzgl. der Modi der Erzählweise und Beschreibung ein besonderes Augenmerk der Verräumlichung von Zeit.

       Angesichts der von Cécile Wajsbrot angestrebten „totalité de la forme et du contenu“ stellt sich die Frage, welche inhaltlichen und formalen Entwicklungen sich in der Darstellung literarischer Suchbewegungen im erzählerischen Werk der Autorin abzeichnen.

      2 Themenfeld I

      Trotz aller Abweichungen bzgl. der inhaltlichen und formalen Gestaltung sind die zwischen 1993 und 1998 erschienenen Texte des Themenfeldes I arbeitshypothetisch als – im Verlauf der Untersuchung näher zu analysierende – Suchbewegungen der handelnden Figuren zu bezeichnen. Dies wird in drei Fällen – in jeweils unterschiedlicher Art und Weise – bereits durch die Titel der Romane signalisiert: Atlantique (1993) evoziert, als den amerikanischen und europäischen Kontinent miteinander verbindender und voneinander scheidender Ozean, eine Menschen zusammenführende Brücke, aber auch einen sie verschlingenden tiefen Abgrund. Le Désir d’Équateur (1995) benennt ein konkretes Ziel und insinuiert zugleich, dass dieses Ziel möglicherweise gar nicht angesteuert oder zumindest nicht erreicht wird. Voyage à Saint-Thomas (1998) kündigt eine konkrete Handlung an, ohne ihren Ausgangspunkt zu benennen. Mariane Klinger (1996) hingegen fokussiert das Leserinteresse eindeutig auf eine einzige Person, ohne deren singuläres Schicksal anzudeuten.

      Erzähltechnisch hebt sich Le Désir d’Équateur durch eine autodiegetische Erzählinstanz und eine assoziative, durch die „stream of consciousness“-Technik inspirierte Erzählweise von den drei anderen Texten ab, die von einer heterodiegetischen Erzählinstanz präsentiert werden. Anders als Mariane Klinger folgt Atlantique keiner chronologisch-linearen Darstellungsform, vielmehr werden Vordergrund- und Hintergrundhandlung konsequent miteinander verschränkt und vereinzelt surrealistisch gefärbte Erzähltechniken verwandt.

      Die werkbezogenen, leitfragenorientierten Analysen der Funktionen von Raum und Bewegung setzen exemplarische Schwerpunkte, berücksichtigen aber alle bzgl. des methodischen Ansatzes (in abgewandelter Form) die in B 1.2 vorgestellte, von A. Nünning vorgeschlagene Differenzierung zwischen einer paradigmatischen und einer (jeweils neu definierten) syntagmatischen und perspektivierenden Achse.1 Die Erzählmodi werden nur insoweit in die Betrachtung einbezogen, als dies im Hinblick auf das zentrale Thema der Untersuchung zu vertieften Erkenntnissen führt.

      Dass Voyage à Saint-Thomas als letzter der innerhalb des Themenfeldes I erschienenen Romane einer umfassenderen Analyse unterzogen wird, obwohl die Autorin ihn offensichtlich nicht mehr besonders schätzt,2 hat folgende Gründe: Die Hauptfigur Agathe und die dem Text zugrunde liegende „histoire“ spiegeln, in ungleich stärkerem Maße als die zum Teil konstruiert wirkenden Charaktere und „Geschichten“ der drei anderen Texte, einen zwar auf den ersten Blick mitunter banal und sentimental anmutenden, aber insgesamt realistischen Ausschnitt der Alltagswirklichkeit wider. Die Protagonistin verkörpert die Suchbewegungen einer auf die Erfüllung ihrer Liebe hoffenden Frau durchaus wirklichkeitsnahe, da die Erzählstimme die weitgehend aus der Perspektive Agathes dargebotene „histoire“ mit ihren Bezügen zu den semantischen Feldern „Reise“ und „Unterwegssein“ in einer für das Lesepublikum unmittelbar und leicht nachvollziehbaren Weise erzählt. Auf diese Weise wird deutlich, dass menschliches Denken, Sprechen und Handeln nicht nur in durch besondere Bedingungen geprägten Konstellationen, sondern auch in keineswegs singulären bzw. außergewöhnlichen Auseinandersetzungen und Konflikten durch räumliche Faktoren beeinflusst wird. Aus diesem Grunde ist eine ausführliche Textanalyse gerechtfertigt, durch die im Übrigen nachgewiesen wird, dass die Trivialität der Handlung in Voyage à Saint-Thomas durch eine durchaus anspruchsvolle Erzählweise kompensiert wird.

      2.1 Atlantique1 – Entfaltung eines personalen Beziehungsgeflechts in Raum und Zeit

      Ein Überblick über die Auswahl der wichtigen Schauplätze der Handlung (paradigmatische Achse) hat die den gesamten Text kennzeichnende Verschränkung der Vorder- und Hintergrundhandlung, d.h. des auf die Anbahnung und Durchführung des von Gilles angeregten Erinnerungstreffens und der vergangene Ereignisse reflektierenden Retrospektiven zu berücksichtigen. Das enge Gewebe von Abhängigkeiten zwischen örtlich-räumlichen und personalen Beziehungen wird sodann auf der syntagmatischen Ebene thematisiert, bevor in der perspektivierenden Zusammenfassung die „Beweglichkeit“ der handelnden Figuren (im Lotman’schen Sinn) und damit die Sujethaftigkeit des Romans angesprochen werden. Die Suchbewegungen der Protagonisten werden auf diese Weise von ihren Ursprüngen bis zu den Endphasen transparent.

      2.1.1 Auswahl der Orte der Vorder- und Hintergrundhandlung

      Zentraler Ort der Vordergrundhandlung ist neben Paris1 ein an der Mündung der Somme gelegenes Haus am Meer, das das durch den Hinweis auf die in der Nähe gelegenen kleinen Seebäder Saint-Valéry und Le Crotoy relativ genau zu lokalisieren ist.2

       Für die Vorder- und Hintergrundhandlung ist insbesondere der mit zahlreichen Spiegeln ausgestattete Antiquitätenladen François’ in Paris relevant.

      Rückblickend lenkt die Erzählinstanz den Blick vornehmlich auf

       das Archiv Hugos (S. 7f.)

       die Wohnung Hugos als Ort einer Begegnung mit der Schwester Vincents

       (S. 145–149)

       „le café de l’avenue calme“ (s. inbesondere S. 28–32)

       die Räume eines Empfangs, zu dem François seine Frau begleitet und bei dem sie auf Gilles trifft (S. 32–36)

       eine Strandszene in Brasilien, in der Vincent auf seine Schwester trifft (s. insbesondere S. 96–103)

      2.1.2 Das Gewebe örtlich-räumlicher und personaler Beziehungen

      Gilles lädt die drei noch lebenden Mitglieder des Quartetts zu einem Wiedersehenstreffen nicht an einen neutralen Ort in Paris, sondern in sein „Haus am Meer“ ein, um dort mit ihnen Schuberts Quartett Der Tod und das Mädchen zu spielen. Die Entfernung zwischen den Schauplätzen und die sich aus der Lage des Hauses ergebenden Unterschiede zwischen ihnen signalisieren eine Zäsur, die folgendermaßen definiert werden kann: Paris ist der Ort, an dem sich – in dem der Vordergrundhandlung vorgelagerten, retrospektiv vermittelten Zeitraum – das Beziehungsdrama zwischen der namenlos bleibenden Frau1, dem mit ihr verheirateten François, ihrem Bruder Vincent und Hugo angebahnt hat. Zusätzlich involviert, wenn auch nur als Randfigur, ist der Theaterregisseur Gilles. Offenkundig werden die Spannungen durch die Entscheidung der Frau, das Quartett zu verlassen2 und Vincent in Brasilien aufzusuchen.

      Dass mit der Auflösung des Quartetts, der Reise Vincents und der seiner Schwester nach Brasilien und mit ihrem Tod die Beziehungen zwischen François, Vincent und Hugo keineswegs geklärt, sondern eher noch zusätzlich belastet werden, wird erst durch die innerhalb der Vordergrundhandlung stattfindende Bewegung, die Verlagerung der Handlung von Paris in Gilles’ Haus am Meer, bewirkt. Das Haus und seine Umgebung werden zu einer Bühne, auf der auch die Verstorbene noch immer anwesend zu sein scheint, die Akteure ihre unterschiedlichen Interessen und Ansprüche vertreten oder aber eine letzte verzweifelte Begegnung mit „ihr“ suchen.

      Um die Beziehung zwischen den Handlungsorten und das Verhältnis zwischen Raum und Bewegung angemessen beurteilen zu können, ist nun zunächst zu untersuchen,


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