Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Herbert Huesmann
Hindernissen […]“ bzw. auf „[…] unbewegliche Feind-Figuren […]“ trifft, so dass der „[…] Sujetraum […] mit zahlreichen, auf unterschiedliche Weise miteinander verbundenen oder widerstreitenden Helden „besiedelt“ ist“.39 Die mit der komplexen Wirklichkeit nicht zu vereinbarende, dogmatisch anmutende Rigidität des ursprünglichen Ansatzes wird damit überwunden, die Offenheit des Denkens nachdrücklich unterstrichen.40 Die „bewegliche Figur“ des binären Modells, die eine Grenze zwischen disjunkten Räumen überschreitet, mutiert zu einer „interkulturellen Übersetzerinstanz“ in einer Semiosphäre, die sich durch „[…] die stete Umformung des semiotischen Raumes […]“41 auszeichnet.
Weitaus weniger ergiebig hingegen ist Lotmans Beitrag zur Erforschung des Zusammenhangs zwischen der Raum- und Zeitdarstellung in der Kunst und in der Literatur. Zu diesem Thema findet man in seinem Werk allenfalls einige Randbemerkungen.42 Das Interesse der Literaturwissenschaft für diese Problematik wurde unterdessen neu geweckt durch Michail Bachtins Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman.43 Die zentralen Gedanken dieser Studie seien daher kurz zusammengefasst.
2.3 Michail Bachtins Theorie der Chronotopoi
In der Einleitung zu Chronotopos kennzeichnet Bachtin das symbiotische Verhältnis zwischen Zeit und Raum „[i]m künstlerisch-literarischen Chronotopos […]“, indem er feststellt, dass „[d]ie Merkmale der Zeit […] sich im Raum [offenbaren], und der Raum […] von der Zeit mit Sinn erfüllt [wird]“1. Gerade auch für den literarischen Bereich sei der Chronotopos „von grundlegender Bedeutung“, allerdings sei „die Zeit das ausschlaggebende Moment“. Das von der Literatur gezeichnete „Bild vom Menschen“ sei immer „chronotopisch“2. Beim Chronotopos ist indes nicht von der „darstellenden realen Welt“ auszugehen, vielmehr bezeichnet der Begriff die vom Autor in seinem Werk geschaffene, modellierte, abgebildete Welt bzw. die vom Hörer/Leser im Rezeptionsprozess „wiedererschaffene“ Welt.3
In einer Fußnote trägt Bachtin eine philosophische Begründung für diese Auffassung vor.4 Er stimmt – anders als Cassirer – 5 mit dem von Kant in der Kritik der reinen Vernunft definierten apriorischen Charakter von Raum und Zeit überein, insofern auch für ihn jegliche Erkenntnis ohne die Bindung an Raum und Zeit unmöglich ist. Kant definiert Raum und Zeit als „[…] Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung […]“6. Bachtin teilt Kants „[…] Einschätzung zur Bedeutung dieser Formen im Erkenntnisprozess“, versteht sie jedoch „[…] – im Unterschied zu Kant – nicht als ‚transzendentale‘, sondern als Formen der realen Wirklichkeit selbst“, und er will darstellen, „[…] welche Rolle diese Formen im Prozess der konkreten künstlerischen Erkenntnis (des künstlerischen Sehens) unter Bedingungen, die dem Romangenre eignen, spielen“7. Wenn Bachtin in diesem Zusammenhang von „der realen Wirklichkeit“ spricht, so denkt er dabei, wie Michael C. Frank und Kirsten Mahlke wohl zu Recht – übrigens auch unter Berufung auf den von Michel Foucault geprägten Begriff des „historischen Apriori“ – betonen, an die jeweils epochenspezifischen Voraussetzungen, unter denen jeder Autor seine Vorstellungen von Raum und Zeit entwickelt.8
In seinen Schlussbemerkungen analysiert Bachtin die wechselseitige Wirkung von Raum und Zeit in einigen der „[…] typologisch beständigen Chronotopoi […]“9, um im Anschluss daran die Funktion der Chronotopoi für das Ganze des Romans zu bestimmen. Beispielhaft sei hier auf das „Schloss“ hingewiesen, das „[…] angefüllt [ist] mit Zeit, und zwar mit historischer Zeit“ und „[…] in den verschiedenen Teilen seines Baues, im Mobiliar, in den Waffen, in der Ahnengalerie, in den Familienarchiven, in den spezifischen Beziehungen der menschlichen Erbfolge […]“10 von sichtbaren Spuren der Vergangenheit gezeichnet ist.
Die Funktion der Chronotopoi definiert Bachtin in einem ersten Ansatz nüchtern abstrakt, indem er sie als „[…] Organisationszentren der grundlegenden Sujetereignisse des Romans“11 bezeichnet. Sodann bedient er sich einer sehr anschaulich-bildlichen Sprache, indem er den Chronotopos im Hinblick auf seine „[…] gestalterisch[e] Bedeutung […]“ als „[…] Angelpunkt für die Entfaltung der Szenen im Roman […]“ kennzeichnet, um in einer weiteren Steigerung in einer beinahe enthusiastisch anmutenden Sprache festzustellen:
Somit bildet der Chronotopos als die hauptsächliche Materialisierung der Zeit im Raum das Zentrum der gestalterischen Konkretisierung, der Verkörperung für den ganzen Roman. Alle abstrakten Romanelemente – philosophische und soziale Verallgemeinerungen, Ideen, Analysen von Ursachen und Folgen und dgl. – werden vom Chronotopos angezogen, durch ihn mit Fleisch umhüllt und mit Blut erfüllt und werden durch ihn der künstlerischen Bildhaftigkeit teilhaftig.12
Neben der explizit genannten „gestalterischen Bedeutung“ haben die Chronotopoi somit als „Organisationszentren der grundlegenden Sujetereignisse“ zusätzlich eine wichtige erzähltheoretische Funktion. Auch wird durch die von Bachtin in der Einleitung als „[…] Form-Inhalt-Kategorie […]“13 bezeichneten Chronotopoi das den jeweiligen literarischen Text beherrschende Bild vom Menschen entscheidend mitgeprägt, insofern im Roman alles Abstrakte in konkrete „Bildhaftigkeit“ übersetzt wird.14
1 Inhaltliche und methodische Entscheidungen
Bevor das Thema der vorliegenden Studie vor dem Hintergrund der in A 1 und A 2 vorgetragenen Überlegungen inhaltlich begründet und darauf abgestimmte Untersuchungsfelder und methodische Entscheidungen dargelegt werden können, ist zu klären, nach welchen Gesichtspunkten sich das umfangreiche erzählerische Gesamtwerk Cécile Wajsbrots ordnen und in ein Gliederungsschema übertragen lässt.
1.1 Aufteilung des Erzählwerks in inhaltlich definierte Themenfelder
Dass die Bedeutung des Raumes für die Autorin außer Frage steht, hat sie nicht nur in dem bereits in der Einleitung zitierten Gespräch mit Dominique Dussidour, sondern in einer stark verallgemeinernden Form ebenfalls in einem auf Haute Mer bezogenen Dialog mit dem Romancier Pierre Cendors betont: „Les lieux ont toujours beaucoup d’importance, pour moi. C’est comme s’il me fallait avant tout ancrer le roman, l’installer quelque part.“1
Stellen Raum und Bewegung als primäre konstitutive Elemente eines jeglichen Erzähltextes für Cécile Wajsbrot eine Konstante dar, so sind gleichzeitig in ihrem Werk inhaltlich-thematische und formale Entwicklungen zu beobachten, die allerdings nicht streng linear-chronologisch verlaufen. So erklärt sie gegenüber Pierre Cendors, dass die Abfassung und Veröffentlichung voneinander isolierter Romane sie nach einer gewissen Zeit nicht mehr zufrieden stellten. Vielmehr habe sie den Eindruck gehabt „[…] d’aller d’île en île, d’être dans la discontinuité, la dispersion“ 2. Zu diesem Thema äußert sie sich in ähnlicher Weise gegenüber Dominique Dussidour. Sie bewundere ihren Kollegen Frédéric-Yves Jeannet, der, ohne sich zu wiederholen, in jedem neuen den Faden des vorangegangenen Werkes wieder aufnehme. Ihre auf den Romanzyklus Haute Mer bezogenen eigenen Pläne präzisiert sie folgendermaßen: „C’est cette continuité que j’aimerais trouver, m’atteler à un ensemble cohérent […] écrire quelque chose qui serait le premier volet d’un ensemble de trois ou cinq livres autour de la question de la création, l’œuvre d’art et sa réception“.3
Beklagt Cécile Wajsbrot hier eindeutig einen Mangel an inhaltlicher Kohärenz in ihrem Werk, so kritisiert sie an einer anderen Stelle desselben im Jahre 2005 geführten Gesprächs ihren 2001 erschienenen Roman Nation par Barbès, da das zeitrelevante Thema der illegalen Einwanderung nicht in einem stimmigen Verhältnis zur traditionell-akademischen Form des Romans stehe.4
Als positives Element ihrer schriftstellerischen Entwicklung hingegen betrachtet Cécile Wajsbrot, wie sie 2005 gegenüber Dominique Dussidour erklärt, die – depuis plusieurs livres déjà – 5 praktizierte Anonymisierung der handelnden Figuren in ihren Romanen. Mit der auf diese Weise vollzogenen Abstraktion, die einer „Entindividualisierung“ der handelnden Figuren gleichkommt, bewirkt die Autorin eine Verallgemeinerung der geschilderten „histoires“.
Der