Das Erzählwerk Cécile Wajsbrots. Herbert Huesmann
von Sinneseindrücken sowie kognitiv vermittelter Daten und Informationen beruht, nur so sprachlich angemessen „übersetzbar“ ist. Auch wird man ein inhaltlich-darstellerisches Interesse an der Selektion bzw. an der Hervorhebung von Besonderheiten und Details voraussetzen dürfen.
Die Erinnerung an jegliche sich aus vielfältigen Sinneseindrücken ableitende Raumwahrnehmung ist eindeutig dominant visuell gesteuert. Dies berichten bereits Cicero und Quintilian in einer Geschichte über den Dichter Simonides, der an einem Festbankett teilnahm, dann aber aus dem Saal gerufen wurde. Kurze Zeit später stürzte die Saaldecke ein, Gastgeber und Gäste waren unter den Trümmern begraben und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Simonides vermochte jedoch mühelos alle Toten zu identifizieren, da er sich den Sitzplatz jedes Einzelnen eingeprägt hatte.36 Die Bedeutung der visuellen Wahrnehmung beschränkt sich jedoch nicht auf die detektivische Aufklärung spezieller räumlicher Gegebenheiten, sie dient vielmehr der Erschließung von Welt schlechthin. In welchem Maße dies für die Literaturwissenschaften relevant ist, hat insbesondere Jurij M. Lotman in seinen Überlegungen zur Semiotik des Raums aufgezeigt. Die Entwicklung seiner Gedanken soll daher in einem größeren Kontext nachgezeichnet werden.
2.2 Jurij M. Lotmans Konzept des künstlerischen Raums
Der 1922 geborene russische Literaturwissenschaftler Jurij M. Lotman, der ab 1954 bis zu seinem Tod 1993 an der Universität Tartu in Estland lehrte, hat sich in seinem Werk mehrfach mit dem Problem des künstlerischen Raums auseinandergesetzt. Dabei wird die Entwicklung seines Denkens durch die diesbezüglichen Darstellungen in seinem erstmals 1972 in deutscher Übersetzung erschienenen Standardwerk Die Struktur literarischer Texte1 und in dem erst 2010 in deutscher Sprache unter dem Titel Die Innenwelt des Denkens2 veröffentlichten Spätwerk markiert. Das in letzterem entwickelte Modell der Semiosphäre hat Lotman in kondensierter Form ebenfalls unter dem Titel „Über die Semiosphäre“ in einem Zeitschriftenaufsatz vorgestellt.3
Lotman geht – wie Cassirer – davon aus, dass im Kunstwerk „[…] ein endliches Modell der unendlichen Welt [dargestellt wird]“, die reale Welt dabei jedoch nicht kopiert, sondern in eine andere, künstlerische Wirklichkeit übersetzt wird.4 Die unterschiedlichen Künste bedienen sich dabei unterschiedlicher Kodierungen. So wurde in der Malerei die Perspektive zu einem Mittel, die Pluridimensionalität des Raumes der Wirklichkeit in die Zweidimensionalität eines in einen Rahmen eingefügten Bildes zu übertragen. Für Lotman wird jedoch auch „[…] die Struktur des Raumes eines Textes zum Modell der Struktur des Raumes der ganzen Welt […]“.5 Er begründet dies damit, dass „[…] die Denotate verbaler Zeichen in ihrer Mehrzahl irgendwelche räumlichen, sichtbaren Objekte sind […]“ und der Rezeption „verbalisierter Modelle“ ein ikonisches, Anschaulichkeit ermöglichendes Prinzip zugrunde liegt.6 Um diese Behauptung zu belegen und zu veranschaulichen, schlägt er eine Art Gedankenexperiment vor: Man stelle sich einen in höchstem Grade abstrahierten Begriff, „irgendein Alles“, vor und definiere seine Merkmale. Dabei werde man sich eines räumlich bestimmten Terminus wie „Unbegrenztheit“ bedienen, was durch die Beziehung zur räumlichen Grenze und die durch den Ausdruck evozierten Assoziationen naheliege. Nimmt man den – von Lotman nicht genannten – Begriff „Vollkommenheit“ als Beispiel, der landläufig mit den fünf „vollkommenen“ platonischen Körpern (Tetraeder, Oktaeder, Ikosaeder, Würfel, Dodekaeder) oder mit Kreis und Kugel in Verbindung gebracht wird, leuchten seine o.g. Erläuterungen ebenso ein wie seine Behauptung, dass der Begriff „[…] Universalität … für die Mehrzahl der Menschen einen deutlich räumlichen Charakter [habe]“.7
Für Lotmans Vorstellung des künstlerischen Raums als eines Modells der Wirklichkeit ist sodann eine von A.D.Aleksandrov aufgestellte Definition des Raums konstitutiv, die einerseits den Begriffsumfang sehr weit fasst, andererseits Relationalität als ein allgemein gültiges Merkmal des Raums bestimmt. Für Aleksandrov ist Raum
[…] die Gesamtheit homogener Objekte (Erscheinungen, Zustände, Funktionen, Figuren, Werte von Variablen u.dgl.), zwischen denen Relationen bestehen, die den gewöhnlichen räumlichen Relationen gleichen (Ununterbrochenheit, Abstand u.dgl.). Wenn man eine gegebene Gesamtheit von Objekten als Raum betrachtet, abstrahiert man dabei von allen Eigenschaften dieser Objekte mit Ausnahme derjenigen, die durch die gedachten raumähnlichen Relationen definiert sind.8
Diese Betrachtungsweise erlaubt die Übertragung räumlicher Vorstellungen auf Bereiche, die eigentlich nicht räumlich geprägt sind. So spricht man daher in der Mathematik und in den Naturwissenschaften z.B. vom „Zahlenraum“, „Farbenraum“ oder „Phasenraum“. Auch richten wir in unserem Alltag gerne „Freiräume“ ein und denken langfristig in größeren „Zeiträumen“. Zugleich aber bedienen wir uns verschiedener topologischer Gegensatzpaare wie „hoch – niedrig“, „rechts – links“, „nah – fern“, „offen – geschlossen“, „abgegrenzt – nicht abgegrenzt“, „diskret – ununterbrochen“ keineswegs nur zur Beschreibung räumlicher Beziehungen, vielmehr setzen wir sie auch ein, um z.B. im sozialen (‚eine offene/geschlossene Gesellschaft‘, ‚nahe/ferne Bekannte‘) oder politisch-ökonomischen (‚hohe/niedrige Gewinne‘) Bereich Beurteilungen und Wertungen vorzunehmen. Auch ist unser Denken durch vertikal strukturierte Hierarchisierungen, wie sie z.B. in der Unterscheidung zwischen „Himmel – Erde – Hölle/Unterwelt“ zum Ausdruck kommen, in einer räumlichen, zugleich jedoch wertmäßig differenzierenden Weise vorgeprägt.
Zum „[…] wichtigsten topologischen Merkmal des Raumes […]“ wird für Lotman jedoch die Grenze, die „[…] den Raum in zwei disjunkte Teilräume [teilt]“, deren „innere Struktur […] verschieden [ist]“. Die Grenze zeichnet sich zuvörderst durch ihre „Unüberschreitbarkeit“ aus, sie „[…] muss unüberwindlich sein […]“. Die „disjunkten Teilräume“ sind nicht notwendigerweise als aneinander grenzende, sich feindlich begegnende Territorien zu denken, vielmehr nennt Lotman beispielhaft „[…] eine Aufteilung in Freunde und Feinde, Lebende und Tote, Arme und Reiche oder andere […]“.9
In Lotmans Vorstellung vom künstlerischen Raum und damit auch in seiner Narratologie ist die Grenze auf das engste mit dem Begriff des „Sujet“ bzw. des „Ereignisses“ verbunden. Die Frage: „Was ist ein Ereignis als Einheit des Sujetaufbaus?“ beantwortet er folgendermaßen: „Ein Ereignis im Text ist die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes.“10 Angesichts der Charakterisierung der Grenze als einer unüberwindbaren Trennungslinie überrascht es nicht, dass Lotman ein „Ereignis“ als „[…] revolutionäres Element, das sich der geltenden Qualifizierung widersetzt“,11 bezeichnet. Da ein in diesem Sinne verstandenes „Ereignis“ also etwas gänzlich Unerwartetes bzw. Unwahrscheinliches darstellt, nimmt seine „Sujethaftigkeit“ zu, je geringer die Wahrscheinlichkeit seines Eintretens ist.12
Allerdings bedarf die Unterscheidung zwischen „Ereignis“ und „Nicht-Ereignis“ noch der Präzisierung, insofern ein Geschehen weder losgelöst von seinem „[…] sekundären semantischen Strukturfeld […]“ noch von den jeweiligen „[lokalen] Geordnetheiten […]“13 zu beurteilen ist. Der Kontext der Zitate lässt vermuten, dass Lotman damit den sozio-kulturellen Kontext eines Handlungsablaufs mitsamt seinen bis auf lokaler Ebene zu beobachtenden Differenzierungen meint. So weist er darauf hin, dass das „[…] Sujet […] organisch […] mit dem Weltbild [zusammenhängt], das den Maßstab dafür liefert, was ein Ereignis ist und was nur eine Variante, die uns nichts Neues bringt“14. Die Relativität der Einschätzungen gelte für künstlerische und nicht-künstlerische Texte gleichermaßen, stellt Lotman mit einem Blick auf die „[…] Rubrik der ‚Tagesereignisse‘ in Zeitungen verschiedener Epochen […]“15 fest und betont damit zugleich, dass Einstellungen und Wertmaßstäbe auch dem Wechsel der Zeiten unterworfen sind. Man mag Lotmans Gedanken daher mit folgendem Beispiel veranschaulichen: Ein Papstbesuch löst nicht nur in verschiedenen Ländern, sondern auch in jedem einzelnen Land angesichts der Unterschiede z.B. zwischen ländlichen Gebieten und (Groß-)Städten sowie – in unterschiedlichem Maße – konfessionell-kirchlich gebundenen und kirchenfernen Bevölkerungsschichten unterschiedlichste Reaktionen aus, die von begeisterter Zustimmung („Jahrhundertereignis“) bis zu entschiedener Ablehnung („unnötige Geldverschwendung“) reichen dürften,