Nachtdenken. Martina Bengert

Nachtdenken - Martina Bengert


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l’Obscur ist demnach sowohl im romanesken Frühwerk bereits enthalten als auch dessen Destillat. Sie stellt ein „wahrhaftes Buch“ dar und kein mangelhaftes Stückwerk des Originals. Das Faszinosum der beiden Versionen des Romans besteht in ihrer Gleich-Gültigkeit, die Blanchot in seinem Vorwort zur zweiten Version betont. Allerdings wurde lange Zeit vor allem letztere rezipiert, wenn von Thomas l’Obscur die Rede war. Erst 2005 wurde die Erstfassung von 1941, welche schnell nach dem Erscheinen der zweiten vergriffen war, neu verlegt.3 Die Vermutung liegt nahe, dass ihre Länge und Dunkelheit (diskursiv wie semantisch) gewichtige Gründe für die mäßige Rezeption waren.4 Mittlerweile steigt das Interesse für die ältere Version wieder. In der gegenwärtigen Rezeption zeigt sich ein zunehmendes Bewusstsein für den Sonderfall einer Koexistenz zweier Fassungen, sodass neuere Arbeiten zu Thomas l’Obscur in der Regel herausstellen, welche Version des Textes der Analyse zu Grunde liegt.

      Durch die Präsenz der beiden Versionen – nicht zuletzt im Sinne eines Drehens oder Umstülpens – stellt sich die Frage nach dem Original neu. Handelt es sich doch bei der zweiten Fassung, die Blanchot „nouvelle version“ nennt, ausdrücklich um eine gleichberechtigte Fassung in Bezug auf die erste, nicht jedoch um eine Version, die leichtfertig die erste ersetzen solle. So schreibt Blanchot in der Gallimard-Ausgabe von 1950 vor dem Beginn des eigentlichen Romantextes:

      Il y a, pour tout ouvrage, une infinité de variantes possibles. Aux pages intitulées Thomas l’Obscur, écrites à partir de 1932, remises à l’éditeur en mai 1940, publiées en 1941, la présente version n’ajoute rien, mais comme elle leur ôte beaucoup, on peut la dire autre et même toute nouvelle, mais aussi toute pareille, si, entre la figure et ce qui en est ou s’en croit le centre, l’on a raison de ne pas distinguer, chaque fois que la figure complète n’exprime elle-même que la recherche d’un centre imaginaire.5

      Bemerkenswerterweise ist in der deutschen Übersetzung der neuen Version (die erste gibt es noch nicht in übersetzter Form) dieses Vorwort oder vielmehr dieser Vorsatz nicht abgedruckt, wodurch wichtige Aspekte der Beziehung von erster und zweiter Fassung nicht berücksichtigt werden können.6 Denn die Position der ersten Fassung wird von Blanchot, wie über die beiden Zitate ersichtlich, nicht unter die der zweiten, der neuen gesetzt.

      Die Tatsache, dass der Text in zwei Fassungen existiert, ist für Blanchots Schaffen an sich nichts Ungewöhnliches, sondern stellt eher ein erprobtes Verfahren dar: Blanchot hat viele seiner Texte mehrfach überarbeitet und nach einer Erstveröffentlichung zahlreiche Artikel in neuen Kontexten oder Textsammlungen in anderer Form publiziert – nicht zuletzt zeigt sich darin eine tiefe Skepsis Blanchots gegenüber Ursprungslogiken und eindeutigen Zuordnungen. Dass jedoch wie im Falle von Thomas l’Obscur beide Fassungen7 als gleich-gültig gelten und folglich unter demselben Titel koexistieren sollen, ist schon bemerkenswerter und schreibt ihnen auf diese Art eine Sonderrolle im Gesamtwerk zu.8

      Blanchot verweist darauf, dass die zweite Version nichts hinzufüge, sondern der ersten sogar viel (weg)nehme. Die beiden Versionen sind gleich-gültig oder ebenbürtig, ohne gleich zu sein. Denn je nach Betrachtung oder Bedingung ist die neue Version gänzlich neu, anders als die frühe Version oder ihr sehr ähnlich.9 Die Ähnlichkeitsbeziehung konstituiert sich durch die Suche nach einem imaginären Zentrum, welches nach Blanchots Biographen Christophe Bident der Tod der Protagonistin Anne ist.10 Liest man nun den Abschnitt aus dem Brief an Georges Bataille und den Paratext zusammen, so ergibt sich die Möglichkeit, das doppeldeutige Bild des nachträglichen Kerns als anderen Ausdruck für die Suche nach einem azentrischen Zentrum zu begreifen. Diese Struktur eines Fluchtpunktes – oftmals artikuliert über vorangestellte Paratexte – kehrt an vielen Stellen in Blanchots Werk wieder, unter anderem in einer kleinen Notiz zu Beginn von L’espace littéraire, in der das Kapitel zu Orpheus, „Le regard d’Orphée“, als das bewegliche Zentrum benannt wird, zu dem alle Seiten des Buches hinlaufen:

      Un livre, même fragmentaire, a un centre qui l’attire: centre non pas fixe, mais qui se déplace par la pression du livre et les circonstances de sa composition. Centre fixe aussi, qui se déplace, s’il est véritable, en restant le même et en devenir plus central, plus dérobé, plus incertain et plus impérieux. […] quand il s’agit d’un livre d’éclaircissements, il y a une sorte de loyauté méthodique à dire vers quel point il semble que le livre se dirige; ici vers les pages intitulées Le regard d’Orphée.11

      In dieser Konzeption des Fluchtpunktes wird selbiger zu einem Kraftpunkt, der den Text zusammenhält und ihn sich übersteigen lässt. In L’espace littéraire, einer Sammlung früher literaturtheoretischer Texte Blanchots, auf die ich kontinuierlich Bezug nehmen werde, ist das Zentrum eines, das sich in Richtung der Seiten befindet, die mit „Le regard d’Orphée“ überschrieben sind. Das Zentrum ist folglich nicht leicht auffindbar, sondern eine Metapher für die zum Scheitern verurteilte Suche nach einem Zentrum. Wenn es in L’espace litteraire ein Zentrum gibt, dann das sich verschiebende Zentrum, in das man nicht gelangen kann. Der Tod Annes, der in der ersten Version bereits sehr wichtig ist, jedoch noch durch andere Handlungen und Figuren überlagert wird, rückt in der zweiten Version deutlich in den Vordergrund und wird, hier stimme ich Bident zu, dessen meditatives Zentrum – sofern man dies wiederum als ein soeben skizziertes Zentrum im Sinne Blanchots versteht. Analog dazu macht sich der récit als Textform mit der späteren Fassung zum nachträglichen Zentrum des Romans, als welcher die erste Fassung von Thomas l’Obscur untertitelt wird. Von diesem Zeitpunkt an wird Blanchot keine Romane mehr schreiben, sondern neben seiner journalistischen Tätigkeit zahlreiche récits verfassen, die sich in ihrer Fähigkeit, etwas zu erzählen, stetig selbst hinterfragen.

      Récit

      Blanchot hat nicht nur récits verfasst, er hat auch innerhalb seiner récits über diese reflektiert. Das insbesondere in der deutschen Literaturwissenschaft bekannteste Beispiel hierfür bildet La folie du jour, meist zusammen mit Jacques Derridas „La loi du genre“, einer Interpretation von La folie du jour, rezipiert. Kernpunkt des Blanchotschen récit ist es, seine eigenen Entstehungsbedingungen als konstitutive Unerzählbarkeit wieder in sich eintreten zu lassen. Obschon erzählt werden muss, kann die Erzählung eigentlich keinen Inhalt, sondern einzig die Tatsache vermitteln, dass trotz aller Unmöglichkeit das Erzählen erzählt werden muss. Der Anfangssatz von La folie du jour kehrt metaleptisch als Aufforderung an den Ich-Erzähler, seine „eigentliche“ Geschichte zu erzählen, in der Geschichte wieder.1 Dabei ist diese Wiederholung des Anfangs der Erzählung nicht als Zitat über Anführungszeichen markiert, wodurch innerhalb der Erzählung diese erneut beginnt. Somit wird die Erzählung sowohl mit Blick auf ihren Status als geschlossener Text als auch als Gattung dekonstruiert, indem sich der Anfang oder Rand der Erzählung in einem Akt der „invagination inocclusive“ in den Binnenraum des Textes faltet.2 Diese Einfaltung, die Innen und Außen narratologisch kollabieren lässt, verhandelt der Text ebenfalls auf semantischer Ebene. Der letzte Satz, „Un récit? Non, pas de récit, plus jamais.“, wird angesichts des unendlich fortsetzbaren Wiedereintritts des récit zur Antriebsbewegung eines Erzählens zwischen Konstativ und Performativ, das sich zwar nicht mehr unter den Begriff des récit fassen lässt, jedoch als Narration fortgesetzt werden muss.3

      Die zweite Fassung von Thomas l’Obscur trägt wie La folie du jour den récit nicht im Untertitel. Stattdessen findet sich der Zusatz „nouvelle version“, der an die Stelle des Untertitels „roman“ der ersten Fassung gesetzt wird.4 Das Fehlen dieses Teils des Untertitels wird in der Blanchot-Forschung meist als Hinweis auf den Übergang von Blanchots Romanschaffen hin zu den wesentlich kürzeren récits gewertet. Die „nouvelle version“ trägt jedoch in der ersten Auflage der Gallimard-Ausgabe von April 1950 noch den Untertitel „roman“, der sodann verschwindet und in der heute erhältlichen Fassung nicht mehr abgedruckt ist.5 Einerseits hat Blanchot folglich nach der ersten Auflage eine Änderung vorgenommen, indem er den Zusatz „roman“ nicht mehr für gültig erklärte, andererseits wurde der roman nicht einfach durch den récit ersetzt. Daraus lässt sich schließen, dass TO2 weder das Eine noch das Andere ist und sich einer Gattungszuordnung entzieht. Sofern TO2 über den vorangestellten Paratext auf seinen Vorgänger


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