Nachtdenken. Martina Bengert

Nachtdenken - Martina Bengert


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Souveränität in gewisser Form absetzt, indem sie über sich hinausweist auf eine ganz konkrete, bereits existierende andere Fassung. Und schließlich kann die Potentialität alternativer Versionen als Verweis auf die Kürzungen des ersten Textes gelesen werden, die auch Figuren das Leben gekostet hat, welche nun, wie die Selbstmörderin Irène, aus TO1 in TO2 verschwunden sind. Im systemtheoretischen wie auch phänomenologischen Sinne gedacht, bedeutet jede Aktualisierung Selektion, d.h. ein anders gewichtetes Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem. Jedes Werk ist eine von unendlich vielen Möglichkeiten. Es unterbricht für den Augenblick des gelesen Werdens den Strom des Möglichen und aktualisiert sich hypostatisch als ein durch Kommata eingefügter Einschub, um dann wieder im Strom des il y a unterzutauchen.

      Für Blanchot ist insbesondere die Literatur der angemessene Ausdruck des il y a, während es für Levinas vornehmlich der philosophische Diskurs ist. Levinas denkt das il y a von der Philosophie zu Blanchot und zur Literatur, während Blanchot in Thomas l’Obscur den entgegen gesetzten Weg beschreitet, indem er das il y a untrennbar mit dem Imaginären verknüpft denkt. Der Effekt des Imaginären ist nicht zuletzt seine ständige Verschiebung zwischen Denkfiguren des Unfassbaren. Blanchot schreibt die von Levinas an Heideggers es gibt kritisierte Fülle um, indem er sie durch Mannigfaltigkeiten ersetzt und damit gerade nicht das von der Aktualisierung aus gedachte Vielfältige meint, sondern das Virtuelle.1

      Der Satz „Il y a, pour tout ouvrage, une infinité de variantes possibles“ virtualisiert die Aktualität der Fülle des es gibt Heideggers. Am Anfang von TO2 steht folglich eine fiktionale Setzung und keine propositionale Aussage, wodurch der literarische Raum als Erfahrungsraum geöffnet wird. Alle Aussagen, die im Raum des Imaginären von Thomas l’Obscur getätigt werden, ereignen sich unter der Bedingung eines ‚als ob‘, das somit keine Sicherheit, sondern nur eine äußerst kurzfristige Vorläufigkeit von Zuordnungen erlaubt.2

      1.2 Durchkreuzte Initiation

      Mit dem Begriff der durchkreuzten Initiation soll eine Initiationserfahrung evoziert werden, die an mehrfache Transgressionen gekoppelt ist und die durch eine Todeserfahrung durchkreuzt wird. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist dabei keine enge Definition von Initiation, verstanden als rituell begleitete Einführung eines Menschen in eine besondere Gemeinschaft oder einen anderen Bewusstseinszustand, wohl aber spiele ich mit einigen Dimensionen, die Initiationen zugeschrieben werden. Die nun folgenden Überlegungen leiten die Vorstellung von Initiation als Anfang und als Einführung bzw. Überführung her. Bei einer Initiation wird der Initiand durch Riten begleitet in einen höheren Seins-, bzw. Bewusstseinszustand geführt. So heißt es bei Mircea Eliade:

      Im allgemeinen versteht man unter Initiation eine Gesamtheit von Riten und mündlichen Unterweisungen, die die grundlegende Änderung des religiösen und gesellschaftlichen Status des Einzuweihenden zum Ziel haben. Philosophisch gesagt entspricht die Initiation einer ontologischen Veränderung der existentiellen Ordnung. Am Ende seiner Prüfungen erfreut sich der Neophyt einer ganz anderen Seinsweise als vor der Initiation: er ist ein anderer geworden.1

      Viele Initiationen sind mit einem Abstieg und einem daran anschließenden Aufstieg verbunden. Darüber hinaus verweist Mircea Eliade auf den „Initiationstod“, der insbesondere in archaischen Kulturen ein symbolisches Sterben der alten Identität zu Gunsten der Geburt einer neuen Identität bedeutet.2 Auch Thomas wird sich im 1. Kapitel von Thomas l’Obscur und der darin geschilderten Initiationserfahrung dem Tod nähern, jedoch ohne eine entsprechende rituelle Strukturiertheit, wodurch die Initiation für Thomas zu einer existentiellen Erfahrung der Einsamkeit auf der Grenze zum Tod wird.

      Nimmt man den Textanfang ganz grundsätzlich als Anfang ernst, so sind die ersten Worte eines Textes als initiale Worte eine Initiation. Der Beginn des Textes führt den Leser sanft, brutal, langsam oder auch plötzlich in das Geschehen ein. Im Falle von Thomas l’Obscur ist es darüber hinaus, zumindest in der Fassung von 1941, der erste Roman des Autors und auf diese Weise ein Eintritt in das gesamte romaneske Werk, der durch die ersten Worte eröffnet wird. Thomas l’Obscur steht somit am Anfang von Blanchots literarischem Schaffen und kann auf einer rezeptionsästhetischen Ebene als Initiation in das Werk Blanchots gelten.3 Dies tut er jedoch nicht nur hinsichtlich der Publikationschronologie, sondern auch bezüglich der in ihm paradigmatisch entfalteten und im Gesamtwerk rezidivierenden Gedankenfiguren. Im 1. Kapitel findet zudem auf inhaltlicher Ebene die Darstellung eines dreistufigen Initiationsprozesses4 statt, der sich aus folgenden drei prägnanten topologischen Übergängen5 zusammensetzt:

      1 Ufer: Blick aufs Meer (Kontemplation I)

      2 Übertritt ins Meer (Kampf und Ankunft im „lieu sacré“)

      3 Rückkehr zum Ufer: Blick aufs Meer (Kontemplation II)

      Diese kapitelimmanente Initiationsstruktur wird auf der makrokosmischen Ebene des Gesamttextes in Gestalt einer differentiellen Wiederholungsstruktur paradigmatisiert. Damit wird die Initiation als singuläres Ereignis unterminiert, weshalb ich von einer durchkreuzten Initiation sprechen möchte. Thomas wird in den anderen elf Kapiteln von TO2 noch viele weitere initiationsartige Prozesse durchlaufen, wodurch die mit einer rituellen Initiation verbundene Illusion der Erreichbarkeit eines höchsten Zustandes oder eines Ankommens in einem höheren Bewusstsein durch die unabgeschlossene Serialität torpediert wird.6

      Incipit

      Der erste Satz des Binnentextes (in Abgrenzung zum Paratext) lautet in beiden Fassungen: „Thomas s’assit et regarda la mer.“ Jean Starobinski verweist in seinem 1966 erschienenen Artikel „Thomas l’Obscur. Chapitre premier“ auf die vermeintliche Einfachheit dieses Satzes, aber auch auf die damit verbundene Unbestimmtheit.1 Einerseits scheint sich der Anfang mit der Beschreibung eines Mannes namens Thomas, der sich hinsetzt und das Meer betrachtet, umstandslos zu anderen Anfängen von récits zu gesellen, andererseits wird die Figur Thomas nicht näher im Hinblick auf ihre Herkunft, bestimmte Merkmale oder andere Hintergründe charakterisiert. Dies wird auch im weiteren Verlauf von TO2 nicht geschehen. In Thomas wird erzählerisch keine Tiefenschärfe gelegt. Er existiert nur im Rahmen der sprachlichen Äußerungen, die ihn, wie hier im 1. Kapitel, ins Zentrum setzen. Der Text fährt nach dem ersten Satz wie folgt fort:

      Pendant quelque temps il resta immobile, comme s’il était venu là pour suivre les mouvements des autres nageurs et, bien que la brume l’empêchât de voir très loin, il demeura, avec obstination, les yeux fixés sur ces corps qui flottaient difficilement. Puis une vague plus forte l’ayant touché, il descendit à son tour sur la pente de sable et glissa au milieu des remous qui le submergèrent aussitôt.2

      Mehrere wichtige syntaktische wie motivische Strukturen sind in diesem kurzen Abschnitt bereits enthalten. So wird zunächst Thomas’ unbewegte Haltung damit erklärt, dass er, möglicherweise durch die Beobachtung der anderen Schwimmer, enorm gebannt ist. Jedoch ist diese Erklärung eine rein hypothetische, sofern sie mit dem Ausdruck „comme si“ eingeleitet wird. Zusätzlich wird die mögliche Begründung destabilisiert durch die Bemerkung, dass der Nebel bzw. der Dunst (evtl. ein Effekt der Gischt) eigentlich seine Sicht behindert. Bereits im zweiten Satz des Textes zeigt sich die virtualisierende Kraft des Blanchotschen il y a in Form einer Verunsicherung auf der Ebene der erzählerisch vermittelten Kausalitätszusammenhänge. Wenn auch Beweggrund und Inhalt des Blicks unklar sind, bleibt der beharrlich fixierende Blick als solcher vom „comme si“ ausgespart. Thomas bleibt aber nicht in seiner kontemplativbeobachtenden Haltung, sondern lässt sich durch den äußeren Impuls einer Welle, die ihn mit besonderer Intensität berührt, ins Meer gleiten. Seine Bewegung ist als eine Antwort auf die Wellenbewegung aufzufassen. Ihr vorweg geht sein Hinabgleiten an einem Sandhang, welches als Bewegung nach unten – in anderen Kapiteln konsequent mit dem Verb descendre bezeichnet – einen Wahrnehmungswechsel einläutet, der im obigen Zitat durch die Bewegung des Gleitens verstärkt wird.

      1.3 Innere Erfahrung und Transgression (Gleiten)

      Starobinski kontrastiert die von außen kommende Aktivität des Wassers (die Wellen berühren, bewegen und ergreifen Thomas) und der anderen


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